Die Renaissance der Menschheit von Charles Eisenstein

Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters

Du befindest dich hier: Start » Buch lesen » Volltext

Inhaltsverzeichnis:


  Zwei Dinge zeichnen den Menschen vor jeder anderen Spezies aus: die Kraft und die Möglichkeiten, seine Umwelt zu manipulieren, und the Fähigkeit, Wissen zu akkumulieren und über Generationen hinweg weiterzugeben. Die erste dieser Gaben nennen wir Technologie; the zweite nennen wir Kultur. Sie sind für unser Menschsein von zentraler Bedeutung.

Gewachsen über Tausende von Jahren, haben Kultur und Technologie uns Menschen in ein abgetrenntes Reich geführt. Mehr als jedes Tier leben wir umgeben von unseren eigenen Artefakten. Darunter gibt es Arbeiten von vortrefflicher Schönheit, Komplexität und Kraft, menschliche Kreationen, die zur Zelt unserer Vorfahren nicht hätten existieren können – ja, nicht einmal denkbar gewesen wären. Selten nur halten wir inne, um die Kühnheit unserer Errungenschaften zu würdigen: Einfache Objekte, wie etwa eine CD, ein Mobiltelefon oder ein Flugzeug, wären noch vor wenigen Jahrhunderten als fantastisch erschienen. Wir haben ein Reich der Magie und der Wunder erschaffen.

Auf der anderen Seite jedoch ist es recht leicht, Technologie und Kultur nicht als Geschenk zu sehen, sondern als Fluch. Nach Jahrtausenden der Entwicklung ist die Fähigkeit, die Umwelt zu gestalten, eine Kraft geworden, welche die Umwelt zerstört, während die Fähigkeit, Wissen weiterzugeben, auch dazu führt, dass Hass, Unrecht und Gewalt an die Nachkommen weitergegeben werden. Heute, da Zerstörung und Gewalt ein fiebriges Crescendo erreichen, können nur noch wenige leugnen, dass sich die Welt in einem Zustand der Krise befindet. Die Geister scheiden sich vielmehr daran, wie genau diese beschaffen sei: Einige sagen, sie sei vordringlich ökologisch, andere sprechen eher von einer moralischen Krise, einer sozialen, ökonomischen, politischen Krise, einer Gesundheitskrise und sogar einer spirituellen Krise. Es herrscht allerdings Einigkeit darüber, dass es sich um eine Krise menschlichen Ursprungs handelt. Die Folge ist Verzweiflung: Bringt unser Menschsein die gegenwärtige Zerstörung der Welt automatisch mit sich?

Sind Genozid und Ökozid der unausweichliche Preis für die Herrlichkeit von Zivilisation? Müssen die Errungenschaften von Kunst, Literatur, Wissenschaft und Technologie auf den Trümmern der Natur und dem Elend ihrer Bewohner fußen? Können wir den Mikrochip ohne Ölteppiche, Tagebau und Giftmülldeponien bekommen? Muss im Schatten jeder Kathedrale eine Frau auf dem Scheiterhaufen brennen? Mit anderen Worten: Kann das Geschenk der Technologie und der Kultur auf irgendeine Weise vom Fluch getrennt werden?

Die zerschmetterten utopischen Träume der letzten Jahrhunderte lassen wenig Hoffnung. Trotz der Wunder, die wir erschaffen haben, teilen die Menschen über das ideologische Spektrum hinweg – von christlichen Fundamentalisten bis hin zu ökologischen Aktivisten – die Vorahnung, dass sich die Welt in ernster, wachsender Gefahr befindet. Kurzfristige, umgrenzte Verbesserungen können diese offensichtliche Fehlentwicklung nicht verbergen, welche die gesamte Gesellschaft wie auch unser persönliches Leben selbst durchdringt. Auch wenn wir uns bei jedem auftretenden Problem und vorhersehbaren Risiko zu helfen wissen, so verbleibt doch eine grundlegende Unruhe. Ich beziehe mich einfach auf dieses Gefühl: »Irgendetwas stimmt hier nicht.« Irgendetwas ist so fundamental falsch, dass Jahrhunderte unserer besten Absichten und klügsten Bemühungen, eine bessere Welt zu schaffen, gescheitert sind oder gar einen gegenteiligen Effekt hatten. Sobald diese Einsicht bewusst wird, reagieren wir mit Verzweiflung, Zynismus, Benommenheit und Distanzierung.

Doch wie vollständig die Verzweiflung, wie bitter der Zynismus auch sein mag, es winkt die Chance auf eine Welt, die schöner ist, und auf ein Leben, das großartiger ist, als wir es heute kennen. Auch wenn wir es rational fassen wollen, es ist nicht rational. Wir werden uns dieser Erkenntnis in kurzen Momenten bewusst, in Lücken, welche die Hast und der Druck des modernen Lebens aufreißen. Diese Momente kommen zu uns, wenn wir allein in der Natur sind, in Gegenwart eines Neugeborenen, während der körperlichen Liebe, beim Spielen mit Kindern, bei der Pflege eines sterbenden Menschen, beim Musizieren um der Musik willen oder bei der Erschaffung des Schönen um des Schönen willen. In solchen Augenblicken zeigt uns die simple und einfache Freude die Sinnlosigkeit des überwältigenden, lebensverzehrenden Programms von Lenkung und Kontrolle.

Wir spüren intuitiv, dass etwas Ähnliches auch kollektiv möglich ist. Einige haben es vielleicht schon erfahren bei kooperativen Tätigkeiten, die natürlich und ohne Anstrengung geschehen. Sie fungieren quasi als Instrument eines höheren Zwecks, der größer ist als wir selbst und der uns paradoxerweise individuell zu mehr macht und nicht zu weniger, selbst wenn wir uns der Sache ganz und gar hingeben. Das ist, was Musiker meinen, wenn sie sagen: »Die Musik spielte die Band.«

Eine andere Form des Seins ist möglich, und das direkt vor unseren Augen, näher als nah; so viel ist offensichtlich sicher. Dennoch entschlüpft es auch wieder so schnell, dass wir kaum glauben, es könnte die Grundlage für das Leben bilden. Daher schreiben wir es einem Leben nach dem Tode zu und nennen es Himmel oder wir schreiben es einer ungewissen Zukunft zu und nennen es Utopia (wenn die Nanotechnologie all unsere Probleme lösen wird ... wenn wir alle lernen, freundlich zueinander zu sein ... wenn ich irgendwann einmal nicht so viel um die Ohren habe ... ). Wie auch immer, wir trennen es ab von dieser Welt und diesem Leben; dadurch streiten wir im Hier und Jetzt ab, dass es praktikabel und realisierbar ist. Doch das Wissen, dass das Leben mehr ist als »nur das«, kann nicht unterdrückt werden, jedenfalls nicht für immer.

Ob nun für mich oder die Welt, ich teile mit Träumern, Utopisten und jungen Leuten die ungebührliche Intuition, dass das Leben und die Welt ein großartiges Potenzial besitzen, dass sie mehr sein können als das, was wir daraus gemacht haben.

Welcher Fehler also, welcher Wahn ließ uns das geringere Leben und die geringere Welt, in der wir uns heute wiederfinden, akzeptieren? Was hat uns so hilflos gemacht, dass wir der Hässlichkeit, Verschmutzung, Ungerechtigkeit und dem ausgesprochenen Grauen nicht entgegentreten, die in den zurückliegenden Jahrhunderten aufgestiegen sind, unseren Planeten zu zerstören? Welche Not hat uns dazu gebracht, uns damit abzufinden und dies einfach der menschlichen Beschaffenheit zuzuschreiben? Momente der Liebe, der Freiheit, der Heiterkeit, des Spiels – welche Macht lässt uns glauben, sie seien nur ein Aufschub vom wahren Leben?

Inspiriert durch solche Momente, habe ich die letzten zehn Jahre versucht zu verstehen, was uns und was mich von der besseren Welt zurückhält, von der unsere Herzen sagen, dass sie existiert. Zu meinem großen Erstaunen stieß ich dabei immer wieder auf eine gemeinsame Wurzel, die den verschiedenen Krisen des modernen Zeitalters zugrunde liegt. Hinter den enormen Trümmern, die unsere Zivilisation herausgearbeitet hat, steckt nicht die menschliche Natur, sondern ihr Gegenteil: die Verleugnung der menschlichen Natur. Diese Verleugnung wiederum fußt auf einer Illusion, auf einem Irrglauben, was das Selbst und die Welt betrifft. Wir haben uns als etwas anderes definiert als das, was wir sind, und zwar als eigenständige Subjekte, getrennt voneinander und getrennt von der Welt, die uns umgibt. In gewisser Weise ist das eine gute Neuigkeit: In diesem Buch werde ich den grundlegenden Wandel beschreiben, der aus der zukünftigen Neukonzeption des Selbst hervortreten wird – und teilweise schon hervortritt. Die schlechte Neuigkeit ist, dass unsere gegenwärtige Konzeption des Selbst so tief mit unserer Zivilisation – unserer Technologie und Kultur – verwoben ist, dass sie aufzugeben nur eins bedeuten kann: Vieles, was uns vertraut ist, wird zusammenbrechen. Das ist, worauf das gegenwärtige Zusammentreffen von Krisen hindeutet.

Alles, was ich im letzten Absatz über die Zivilisation geschrieben habe, ist auch auf jeden von uns individuell anwendbar. Heilige und Mystiker haben seit Tausenden von Jahren uns zu lehren versucht, in welcher Täuschung wir uns selbst verfangen haben. Diese Täuschung bewirkt unausweichlich Leiden, und schließlich eine Krise, die nur durch einen Zusammenbruch, eine Preisgabe und eine Öffnung gegenüber einem Seinszustand jenseits der bisherigen Selbstbeschränkung aufgelöst werden kann. Du seist kein »von Fleisch eingekapseltes Ego«, so sagen sie, und fortdauerndes Glück könne niemals aus dem Streben unter einer solchen Maßgabe resultieren. Diese spirituellen Lehren halfen mir, zumindest teilweise, meine Intuitionen dafür zu entwickeln, was Arbeit, Liebe, menschliche Beziehungen und Gesundheit sein können. Zwar schenke ich diesen Aspekten im vorliegenden Buch weder mein Hauptaugenmerk noch behaupte ich, sie beispielhaft in meinem Leben umzusetzen, und dennoch: Die Verlagerung unserer kollektiven Selbst-Konzeption steht in inniger Beziehung zu der parallelen Verlagerung unserer individuellen Selbst-Konzeption. Mit anderen Worten, es gibt eine spirituelle Dimension der planetarischen Krise.

Sobald diese planetarische Krise in unser individuelles Leben eindringt, wird unvermeidlich weder die persönliche noch die kollektive Fehlkonzeption darüber, wer wir sind, haltbar bleiben. Die eine spiegelt die andere: in ihrem Ursprung, ihren Folgen und ihrer Lösung. Aus diesem Grund verknüpfe ich in meinem Buch die Geschichte über die Separation der Menschheit von der Natur mit der Geschichte über die individuelle Entfremdung vom Leben, von der Natur, vom Geist und vom Selbst.

* * *

Trotz meines Vertrauens, dass das Leben eigentlich gedacht ist, mehr zu sein, flüstern mir leise Stimmen ins Ohr, ich sei verrückt. Nichts fehle, sagen sie; so lägen die Dinge eben. Die anschwellende Flutwelle menschlichen Elends und ökologischer Zerstörung – so alt wie die Zivilisation selbst – sei schlicht und einfach die menschliche Verfassung, ein unausweichliches Resultat menschlicher Fehler wie .Selbstsucht und Faulheit. Da du es sowieso nicht ändern kannst, sei dankbar für dein Glück, dies alles zu vermeiden. Das Unglück weiter Teile des Planeten sei eine Warnung, sagen die Stimmen, mich und meine Angelegenheiten zu schützen und meine persönliche Sicherheit zu maximieren.

Außerdem kann es nicht so schlimm sein, wie ich denke. Wenn all das wahr wäre – die ökologische Zerstörung, der Genozid, die hungernden Kinder und die ganze Litanei über bevorstehende Krisen –, wäre dann nicht alle Welt in Aufruhr darüber? Die Normalität des Lebens um mich herum hier in den USA sagt mir: »Es kann doch nicht so schlimm sein.« Diese leise Stimme findet ihren Widerhall in der gesamten Kultur. Jeder Werbeflyer, jeder Celebrity-Artikel, jeder Produktkatalog, jedes hochgekochte Sportereignis transportiert den Unterton: »Du kannst es dir leisten, das wichtig zunehmen.« Ein Mann in einem brennenden Haus würde solche Dinge nicht wichtig nehmen; dass unsere Kultur solche Dinge – und fast ausschließlich solche – wichtig nimmt, zeugt doch davon, dass unser Haus nicht niederbrennt. Die Wälder sterben nicht. Die Wüsten breiten sich nicht aus. Die Atmosphäre heizt sich nicht auf. Kinder hungern nicht. Folterer laufen nicht frei herum. Ganze Volksstämme werden nicht ausgerottet. Diese Verbrechen wider die Menschheit und die Natur können wohl kaum tatsächlich geschehen. Vielleicht wurden sie maßlos übertrieben? Wie auch immer, sie geschehen irgendwo anders. Unsere Gesellschaft findet eine Lösung, bevor dieses Unheil der Entwicklungsländer mich betrifft. Siehst du, niemand anders ist in Sorge, oder? Das Leben surrt weiter wie immer.

Was meine Intuition über die großartigen Möglichkeiten für mein eigenes Leben angeht, nun, meine Erwartungen sind wohl zu hoch. Werde erwachsen, sagen die Stimmen, das Leben ist eben nicht mehr. Welches Recht habe ich, die Großartigkeit zu erwarten, deren Möglichkeit ich in bestimmten Momenten erahnen konnte? Nein, es sind meine Intuitionen, denen nicht zu trauen ist. Die Beispiele, was das Leben sei, umgeben mich doch und definieren die Normalität. Sehe ich etwa Leute in meinem Umfeld, deren Arbeit ihre Freude ist, die über ihre Zeit selbst verfügen können und deren Liebe ihre Leidenschaft ist? Es kommt vor. Sei dankbar, sagen die Stimmen, dass dein Job halbwegs stimulierend ist, dass du dich wenigstens ab und an verliebt fühlst, dass der Schmerz des Lebens handhabbar und die Unsicherheit unter Kontrolle ist. Lass gut genug doch gut genug sein! Sicherlich ist das Leben manchmal frustrierend, aber immerhin kann ich es mir hin und wieder leisten, für ein paar Augenblicke zu entrinnen. Im Leben geht es nun mal um Arbeit, Selbstdisziplin und Verantwortung, aber wenn ich diese Pflichten schnell und effizient erfülle, kann ich Urlaub, Zerstreuung, Wochenende, ja vielleicht sogar eine Frühverrentung genießen. Ist es angesichts dieser Stimmen ein Wunder, dass ich über viele Jahre hinweg den Großteil meiner Energie und Vitalität den kleinen Fluchten vom Leben gewidmet habe? Ist es ein Wunder, dass so viele meiner Studenten sich schon jetzt, im Alter von 21 Jahren, auf ihre Verrentung freuen?

Wenn das Leben und die Welt eben »nur das« sind, haben wir keine andere Wahl, als das Beste daraus zu machen: effizienter zu sein, größere Absicherung zu erzielen, die Unsicherheiten des Lebens unter Kontrolle zu bekommen. Es gibt Stimmen, die auch hierzu sprechen. Sie singen das Hohelied der Technologie und predigen Selbstverbesserung; sie drängen uns dazu, die menschlichen Gegebenheiten dadurch zu korrigieren, dass wir uns grundsätzlich mehr anstrengen. Mein innerer Prediger sagt mir, ich solle mein Leben unter Kontrolle bringen, täglich trainieren, meine Zeit effizienter organisieren, auf meine Ernährung achten, disziplinierter sein, mehr versuchen, ein guter Mensch zu sein. Auf der kollektiven Ebene sagt die gleiche Einstellung, dass es vielleicht schon der nächsten Generation materieller und sozialer Technologien – neue Arzneien, bessere Gesetze, schnellere Computer, Solarenergie, Nanotechnologie – gelingen wird, unser Schicksal zu verbessern. Wir werden effizienter, intelligenter, fähiger sein und letztendlich das Leistungsvermögen haben, die ewigen Probleme der Menschheit zu lösen.

Heute klingen diese Stimmen für mehr und mehr Menschen hohl. Wörter wie »Hightech« und »modern« haben ihr Ansehen verloren, da die Erde von vielen Krisen geschüttelt wird. Wenn wir Glück haben, können wir, zumindest für eine Zeit, verhindern, dass diese Krisen in unser persönliches Leben eindringen. Nun jedoch, da sich der Zustand der Umwelt weiter verschlimmert, die Sicherheit unserer Arbeitsplätze nicht mehr gewährleistet ist, sich die internationale Situation verschlechtert, neue unheilbare Krankheiten auf der Bildfläche erscheinen, die Geschwindigkeit von Veränderungen zunimmt, erscheint es unmöglich, sich beruhigt zurückzulehnen. Die Welt richtet sich immer stärker am Wettbewerb aus, wird zunehmend gefährlicher und ermöglicht immer weniger ein einfaches Leben, Sicherheit ist nur noch mit immer größerer Anstrengung zu erlangen. Und selbst wenn vorübergehende Sicherheit errungen wurde, lauert eine latente Angst innerhalb der Festungsmauern – eine stumme Besorgnis im Hintergrund des modernen Lebens. Sie durchzieht die moderne Gesellschaft und intensiviert sich mit der Beschleunigung des technologischen Fortschritts. Wir fangen an, die Hoffnung aufzugeben, da unsere Lösungen – neue Technologien, neue Gesetze, mehr Ausbildung, größere Anstrengungen – unsere Probleme nur noch zu verstärken scheinen. Für viele Aktivisten macht nun Hoffnungslosigkeit der Verzweiflung Platz, da die Katastrophe trotz ihrer Bemühungen immer näher rückt.

Dieses Buch beleuchtet, warum vermehrte Anstrengung in die gleiche Richtung niemals funktionieren wird. Unsere »besten Bemühungen« gründen im selben Seinsmodus, der für die Krise überhaupt erst verantwortlich ist. Wie Audre Lorde es ausdrückt: »Des Meisters Werkzeug wird des Meisters Haus niemals demontieren.« Bald allerdings wird dieser Seinsmodus zu einem Ende kommen und ersetzt werden durch ein grundlegend verschiedenes Verständnis vom Selbst und eine grundlegend verschiedene Beziehung zwischen Mensch und Natur. Dieses Buch handelt von der sich sammelnden Revolution des menschlichen Seins.

* * *

Was meinen wir damit, wenn wir sagen, die planetarische Krise sei menschlichen (und nicht natürlichen) Ursprungs? Menschen sind doch schließlich Säugetiere, biologische Kreaturen, nicht weniger natürlich als andere auch. In gewissem Sinne kann es zwischen Mensch und Natur keine Trennung geben, da Menschen Teil der Natur sind. Damit sind auch all unsere Handlungen »natürlich«. Trotzdem unterscheiden wir. Wir erkennen in der Natur eine Harmonie, Ausgewogenheit, Authentizität und Schönheit, die der Welt der Technologie fehlt – man denke nur an die Konnotationen des Wortes »künstlich«. Ob nun tatsächlich oder nur wahrgenommen, wir moderne Menschen leben auf eine Art, die nicht mehr natürlich ist.

Die Krux an der Mensch-Natur-Unterscheidung ist die Technologie, das Produkt von Menschenhand. Zwar stellen auch andere Tiere Werkzeuge her und gebrauchen diese, aber keine andere Spezies teilt mit uns die Fähigkeit, die physikalische Umwelt neu zu gestalten oder zu zerstören, die Prozesse der Natur zu kontrollieren oder die Grenzen der Natur zu überschreiten. Im Bereich des Mentalen und Spirituellen entspricht der Technologie die Kultur, welche die menschliche Natur auf die gleiche Weise modifiziert oder gar ersetzt, wie die Technologie die physikalische Natur modifiziert. Indem wir die Natur durch Technologie beherrschen und die menschliche Natur gleichermaßen durch Kultur bezähmen, heben wir uns vom Rest des Lebens ab und erschaffen einen separaten menschlichen Bereich. Im Glauben, dies sei eine gute Sache, halten wir diese Separation für einen Aufstieg, durch den wir uns über unsere tierischen Ursprünge erheben. Daher kommt unser Lieblingsbegriff für die jahrtausendewährende Anhäufung von Kultur und Technologie: »Fortschritt«

Es ist also Separation in Form von Technologie und Kultur, die uns als Menschen definiert; genauso ist es Separation, welche die zusammentreffenden Krisen der heutigen Welt hervorgebracht hat. Menschen mit einer religiösen Überzeugung mögen die fundamentale Krise vielleicht einer Trennung von Gott zuschreiben; Menschen mit einer ökologischen Überzeugung sehen darin eine Separation von der Natur; Menschen, die sich sozial engagieren, mögen den Schwerpunkt auf die Auflösung von Gemeinschaft (also eine Separation von anderen) legen; wir können ebenfalls die psychologische Dimension der Separation von verlorenen Teilen unseres Selbst ergründen. Im Guten oder im Schlechten, es ist die Separation, die uns zu dem gemacht hat, was wir sind.

Über lange und gewundene Pfade haben diese Formen der Separation die Welt hervorgebracht, wie wir sie heute kennen. Unsere Intuition, das Leben und die Welt seien zu mehr bestimmt, spiegeln das äußerst Illusorische jener Separation wider. Doch es ist eine sehr mächtige Illusion, erzeugt von den zusammentreffenden Krisen, deren Zeugen wir heute in Politik, Umwelt, Medizin, Bildung, Wirtschaft, Religion und vielen anderen Bereichen sind. In diesem Buch werde ich die Wege in diese Krisen nachzeichnen. Ich bin immer wieder erstaunt, wie derselbe fundamentale Irrglaube über das Selbst Phänomenen zugrunde liegt, die so unverbunden erscheinen wie der Krieg im Irak, Urheberrechte, Antibiotikaresistenzen, saurer Regen, ethnische Säuberungen, Werbeflut, Zersiedlung städtischen Umlands und die sinkende Alphabetisierung in den Vereinigten Staaten. (Nein, ich werde es nicht alles auf den »Kapitalismus« schieben, denn unser wirtschaftliches System ist ebenfalls mehr Symptom als Ursache der Separation.)

Die Wurzel und der Inbegriff der Separation ist das abgetrennte, isolierte Selbst in der modernen Wahrnehmung: das descartsche »Ich bin«, der »Homo oeconomicus« eines Adam Smith, der individuelle Phänotyp des darwinschen Überlebenskampfs, das durch Haut eingehüllte Ego nach Alan Watts. Es handelt sich um ein Selbst, das bedingt abhängig, aber fundamental abgetrennt ist vom anderen: von der Natur und von anderen Menschen. Indem wir uns selbst als eigenständige Wesen sehen, versuchen wir natürlicherweise, das Nicht-Selbst zu unserem besten Vorteil zu manipulieren. Technologie stützt sich besonders auf eine Art Individuation oder konzeptuelle Separation von der Umwelt, da sie die physikalische Welt als Objekt ihrer Manipulation und Kontrolle verwendet. Technologie sagt letztendlich: »Lasst uns die Welt besser machen!«

Wenn, wie ich oben schrieb, unsere Selbst-Konzeption als eigenständige, isolierte Wesen eine Illusion ist, dann fußt der gesamte Aufstieg der Menschheit – der Spezies der Kultur und Technologie – ebenfalls auf einer Illusion. Deshalb sind die Implikationen des gegenwärtigen Wiederverstehens unseres Selbst so grundlegend und versprechen nichts weniger als eine radikale Neudefinition dessen, was das Menschliche bedeutet, wie wir uns aufeinander beziehen und wie wir uns auf die Welt beziehen.

Technologie ist nicht nur auf einer konzeptuellen Separation von der Natur gegründet, sondern sie verstärkt diese Separation sogar. Technologie distanziert uns von der Natur und isoliert uns von ihren Rhythmen. Beispielsweise wird das Leben der meisten US-Amerikaner kaum noch von den Jahreszeiten beeinflusst. Wir essen das ganze Jahr die gleiche, aus Kalifornien und der ganzen Welt angelieferte Nahrung; Klimaanlagen geben uns Kühlung im Sommer, Heizungen wärmen uns im Winter. Natürliche körperliche Grenzen in Form von Muskeln und Knochen begrenzen nicht länger, wie weit wir uns bewegen, wie hoch wir bauen oder wie groß die Entfernung ist, über die wir miteinander kommunizieren können. Jeder Fortschritt in der Technologie distanziert uns von der Natur, in der Tat, auf der anderen Seite befreit er uns von natürlichen Begrenzungen – daher der »Aufstieg«. Aber wie kommt es, dass all diese Verbesserungen die Welt ergeben, in der wir uns heute befinden?

Wir sehen uns mit einem Paradoxon konfrontiert. Auf der einen Seite sind Technologie und Kultur grundlegend für die Separation der Menschen von der Natur. Diese Trennung ist die Wurzel der Krisen, die in unserem gegenwärtigen Zeitalter zusammentreffen. Auf der anderen Seite versuchen Technologie und Kultur explizit, die Natur zu verbessern und das Leben einfacher, sicherer und komfortabler zu machen. Wer könnte leugnen, dass der erste Grabstock eine Verbesserung gegenüber der Verwendung von Händen und Fingernägeln darstellte, dass Feuer uns warm und Medizin uns gesünder erhält als im primitiven Daseinszustand in der Natur? Oder zumindest ist es das, worauf Technologie abzielt. Doch haben wir die Welt tatsächlich besser gemacht? Wenn nicht, warum hat dann die Technologie ihr angestrebtes Ziel nicht erreicht? Noch einmal: Wie kann eine Serie schrittweiser Verbesserungen eine Krise ergeben?

Kapitel I widmet sich diesen Fragen, indem es einen fundamentaIen Fehler in der Anlage unserer Grundvoraussetzungen der Technologie und darüber hinaus in der Verallgemeinerung der Technologie zum »Programm der Kontrolle« beschreibt. Wenn wir dieses durch die Linse der Sucht betrachten, werden wir sehen, dass die oben erwähnte Verzweiflung gerechtfertigt ist, dass unsere gesamte Herangehensweise bei der Problemlösung nicht hilfreich ist, dass wir nichts unternehmen können, ohne die herannahenden Krisen noch zu verschlimmern. Es ist wie bei einem im Treibsand steckenden Tier: Je härter wir kämpfen, desto schneller sinken wir.

Kapitel II beschreibt, wie wir überhaupt erst in diesen Sumpf geraten sind. Es benennt nicht nur die üblichen Schuldigen Industrie und Landwirtschaft, sondern geht sehr viel weiter, um die Ursprünge der Separation von allem, was uns menschlich macht, zu identifizieren: Sprache, Kunst, Messung, Religion und Technologie, selbst Steinzeittechnologie. All diese bauen aufeinander auf und treffen in einer Flutwelle der Entfremdung und des Elends zusammen, die unsere Erde heute verschlingt. Indem wir jedoch die Separation, die für die gegenwärtige Misere verantwortlich ist, bis hin zu prähistorischen oder gar vormenschlichen Zeiten zurückverfolgen, beginnen wir, die Separation nicht als »ungeheuer falsche Wendung« (um John Zerzans Worte zu gebrauchen) zu sehen, sondern als organische Unvermeidlichkeit, die vielleicht zu einer neuen Phase menschlicher und natürlicher Entwicklung führt.

Mit der wissenschaftlichen Revolution, der Aufklärung, mit Galileo, Newton, Bacon und Descartes, erhielt die Ideologie der Separation ihren vollen Ausdruck. Wir nennen ihn »Wissenschaft«. Kapitel III beschreibt, wie die konzeptuelle Unterscheidung zwischen Selbst und Welt in unser innerstes Vokabular des Denkens eingebaut ist. Die Methoden und Techniken der modernen Wissenschaft, zusammen mit der ganzen Art des Denkens, die wir rational, objektiv oder wissenschaftlich nennen, verstärken das System der Separation, selbst wenn wir versuchen, es abzumildern. Des Meisters Werkzeug wird des Meisters Haus niemals demontieren. Ein Beispiel gibt der Drang, die »Umwelt zu retten« oder »natürliche Ressourcen zu schonen«: Diese Redewendungen verstärken das Bild einer externen Umwelt, die grundlegend von uns abgesondert ist und von der wir nur bedingt abhängen. Dies findet seinen Widerhall in der klassischen wissenschaftlichen Kosmologie, die – wenn auch überholt – die Basis für unsere Alltagsintuitionen bildet: Wir sind isolierte, gesonderte Wesen, die nach außen auf ein objektives Universum von unpersönlichen Kräften und generischen Massen schauen.

Währenddessen zeigt auch die Religion Mittäterschaft, wenn es darum geht, die Welt zu despiritualisieren – was wir eigentlich eher mit der Wissenschaft verbinden. Durch den Rückzug in einen zunehmend schrumpfenden, nicht materiellen Bereich der Seele oder durch die schamlose Leugnung elementarer, wissenschaftlicher Beobachtungen hat die Religion der Wissenschaft Newtons und Descartes‘ im Endeffekt die materielle Welt abgetreten. Mit einer von Materie abgetrennten Seele und einem von der Schöpfung abgetrennten Gott sind wir machtlos und alleingelassen in Fritjof Capras »Newtonscher Weltmaschine«.

Nachdem Sprache und wissenschaftliche Methodik die Welt benannt und vermessen haben und die Wissenschaft sie zum Objekt gemacht hat, ist der nächste Schritt, sie in eine Ware umzuwandeln. Kapitel IV beschreibt die enormen Konsequenzen, die aus der Umwandlung des Gemeinwohls – soziales, kulturelles, seelisches und natürliches – in Geld resultieren. Phänomene so verschieden wie die Auflösung der Gemeinschaftlichkeit, die Schwächung von Freundschaft, das Anwachsen geistigen Eigentums, die Verkürzung von Aufmerksamkeitsspannen, die Professionalisierung von Musik und Kunst und die Zerstörung der Umwelt haben eine gemeinsame Wurzel in unserem System aus Geld und Eigentum, das wiederum aus unserer Selbst-Konzeption als eigenständige Wesen in einem objektiven Universum des anderen entsteht (das gleichzeitig diese Selbst-Konzeption noch verstärkt). Einfach zu versuchen, nicht mehr so gierig zu sein, wird niemals reichen, denn Egoismus wurzelt unglaublich tief. Dieser Egoismus ist allerdings nicht mit der »menschlichen Natur« gleichzusetzen, sondern vielmehr mit verleugneter menschlicher Natur, verdreht durch unsere Irrmeinung darüber, wer wir sind.

Die Folgen unseres grundlegenden Missverständnisses über das Selbst und die Welt, wie sie in Kapitel I angesprochen sind, werden in vollem Umfang in Kapitel V dargestellt. Unser Widerstand gegenüber der Natur und der menschlichen Natur – einschließlich der technologischen Mission, sie zu verbessern – kann nur eine »Welt unter Kontrolle« zur Folge haben. Sie manifestiert sich in jedem Bereich, von der Religion über die Gesetzgebung bis hin zu Bildung und Medizin, und wir zahlen einen ständig steigenden Preis, um sie aufrechtzuerhalten. Hilflos reagieren wir auf jeden Misserfolg bei der Kontrolle mit noch mehr Kontrolle, womit wir den Tag der Abrechnung aufschieben und dessen Auswirkungen schlussendlich intensivieren. Sobald das in Kapitel IV beschriebene soziale, kulturelle und spirituelle Kapital erschöpft ist, sobald sich unsere Technologie als hilflos erweist, die bevorstehenden Krisen abzuwenden, wird sich immer mehr der Kollaps der »Welt unter Kontrolle« abzeichnen. Es ist dieser Kollaps, auf den die gegenwärtig zusammenlaufenden Krisen hindeuten. Er macht die Bühne frei für das in Kapitel VII beschriebene Zeitalter der Wiedervereinigung.

Während die klassische Wissenschaft die Illusion der Separation als Tatsache präsentiert, haben wissenschaftliche Entwicklungen des letzten Jahrhunderts das newtonsche Weltbild für überholt erklärt. Kapitel VI beschreibt, wie der Zerfall des objektiven, reduktionistischen, deterministischen Weltbilds neue Türen öffnet – nicht nur zu einer neuen Art von Technologie, sondern auch zu einer Spiritualität, die Heiligkeit, Bestimmung und Bedeutung als grundlegende Eigenschaften von Materie ansieht. Ein Teil unserer Separation bestand darin, Seele als etwas von Materie Getrenntes zu sehen, entweder von Gott, das heißt von außen auferlegt, oder als bloße Erfindung unserer Einbildung. Gewissenhaft New-Age-Klischees über Quantenmechanik vermeidend, bezieht sich Kapitel VI auf neuere Entwicklungen der Physik, aber auch der Evolutionsbiologie, der Ökologie, der Mathematik und der Genetik. Hier wird das wissenschaftliche Fundament gelegt, um Materie und Seele wieder zu vereinigen, wie auch Mensch und Natur, Selbst und Anderes, Arbeit und Spiel und all die anderen Dualismen aus dem Zeitalter der Separation.

Wir sind derzeit Zeugen, wie die Separation bis an die Grenzen der Belastbarkeit intensiviert wird – das oben erwähnte Zusammentreffen der verschiedenen Krisen bringt eine neue Ära hervor. Ich nenne es das Zeitalter der Wiedervereinigung. Kapitel VII zeichnet ein Bild davon, wie das Leben aussehen könnte, wenn es nicht länger auf die Illusion eines eigenständigen Selbst gegründet ist. In Bezug auf die neuen wissenschaftlichen Paradigmen aus Kapitel VI beschreibt es ein System von Geld, Wirtschaft, Medizin, Bildung, Wissenschaft und Technologie, das nicht mehr die vollständige Kontrolle über die Natur anstrebt, sondern uns als harmonischen Teil der Natur ansieht. Damit ist keine Rückkehr zur Vergangenheit gemeint, auch nicht, dass wir uns all der Gaben entledigen sollen, die uns – wie der Gebrauch der Hand und des Verstands – erst zu Menschen machen. Das Zeitalter der Wiedervereinigung steht vielmehr für ein neues menschliches Gut, für die Rückkehr zur Harmonie und Ganzheit der Jäger und Sammler, allerdings auf einem höheren Niveau von Organisation und Bewusstsein. Es kehrt den gesamten Gang der Separation nicht um, sondern integriert ihn. So kann die Separation als ein Abenteuer der Selbst-Entdeckung und nicht als ein furchtbarer Missgriff gesehen werden.

Obwohl ich die allgemein wachsende Befürchtung bestätige, dass der Zusammenbruch unserer Zivilisation bevorsteht, sind das enorme Elend und die Zerstörung, die wir hervorgebracht haben, trotzdem nicht umsonst gewesen. Schauen Sie sich die New Yorker Skyline oder eine Vergrößerung eines integrierten Schaltkreises an: Kann das alles umsonst gewesen sein? Können die unglaubliche Komplexität, die grimmige Aktivität und die enormen Kenntnisse der Wissenschaft, die unsere Zivilisation auszeichnen, ein bloßes – um Shakespeare zu zitieren – »Geräusch und eine Raserei, das nichts bedeutet« sein? Meiner gegenteiligen Intuition folgend, beschreibe ich in Kapitel VIII, was ich für den kosmischen Sinn unseres »Aufstiegs« in die äußersten Bereiche der Separation halte. Ich beziehe mich auf religiöse, mythologische und kosmologische Metaphern und setze in Kapitel VIII die Gezeiten von Separation und Wiedervereinigung in einen breiten Kontext. Darin ist keine unserer Bemühungen, eine Welt der Ganzheit und Schönheit zu erschaffen, so verloren, wie es jetzt scheinen mag, weder vergeblich, töricht noch unbedeutend.

Selbst in den dunkelsten Tagen empfindet jeder eine höhere Möglichkeit, eine Welt, so wie sie gemeint war, ein Leben, wie es gedacht war, gelebt zu werden. Flüchtige Blicke auf diese »Welt der Ganzheit und Schönheit« haben Idealisten viele Tausend Jahre lang inspiriert; sie hallen in unserer kollektiven Psyche wider als Ahnung vom Himmel, als Zeitalter des Wassermanns oder als Paradies: ein einstiges und zukünftiges Goldenes Zeitalter. Wie Mystiker es seit alter Zeit gelehrt haben, ist eine solche Welt näher als nah, »in uns und unter uns«; und gleichzeitig ist sie auch unerreichbar weit entfernt für jede Bemühung, die aus unserer gegenwärtigen Selbst-Konzeption entspringt. Um diese Welt zu erreichen, müssen unsere gegenwärtige Selbst-Konzeption und die Beziehung zur Welt, die sie impliziert, kollabieren, sodass wir unser wahres Selbst entdecken können – und damit unsere wahre Rolle innerhalb des Universums und unsere wahre Beziehung zum Universum.

Dieses Buch offenbart, wie vergeblich, betrügerisch und haltlos das Programm zur Kontrolle der Welt ist. Es kann sie weder benennen noch in Zahlen fassen, weder kategorisieren noch besitzen, es kann weder über die Natur noch über die menschliche Natur hinausgehen. Auf diese Weise entblößt, wird das Programm seinen Zugriff auf uns lösen, sodass wir es loslassen können, bevor es die allerletzten Überreste des Lebens und die Schönheit auf Erden vernichtet hat. Die umfangreichen wissenschaftlichen Kapitel sollen Sie überzeugen, dass die mechanistische, objektive Welt des eigenständigen Selbst keine Realität ist, sondern lediglich eine Projektion, ein bloßes Bild unserer eigenen Verwirrung.

* * *

Die Renaissance der Menschheit ist nicht nur eine weitere Kritik an der modernen Gesellschaft, und meine möglichen Lösungen sind auch nicht im Sinne eines »wir sollten dies tun« und eines »wir sollten dies unterlassen« gedacht. Wer zum Henker ist überhaupt »wir«? Sie und ich sind nur Sie und ich. Deshalb ist so vieles im politischen Diskurs (über das, was »wir« tun müssen) so entmutigend; deshalb verspüren so viele Aktivisten eine solche Verzweiflung und Verzagtheit. Sie und ich, so sehr wir auch die gleiche Meinung vertreten, sind nicht das »Wir« der kollektiven Tat, wie in »wir müssen mit mehr Nachhaltigkeit leben« oder »wir müssen diplomatisch vorgehen«. Ich finde bei vielen Leuten Zuspruch für meine Intuition, was mit dem Leben und der Welt, wie wir sie kennen, falsch läuft, doch ist ihre Antwort keine mutmachende Empörung. Aus ihnen sprechen Verzweiflung, Hilflosigkeit und ein Gefühl der Ohnmacht. Was kann einer allein ausrichten? Tatsächlich sind auch diese Gefühle Symptome derselben Separation, die hinter all unseren Krisen steht. Wenn ich ein eigenständiges Individuum bin, dann macht alles, was ich tue, kaum einen Unterschied. Doch diese Logik gründet sich auf eine Illusion. Wir – Sie und ich – sind tatsächlich machtvoll jenseits der Vorstellungskraft.

Da die Illusion der Separation bröckelt, ist die Alternative, die ich anbiete, praktisch, natürlich und in der Tat unvermeidlich. Der Ruin und die Gewalt des gegenwärtigen Zeitalters sind keine Sinnbilder eines unabänderlichen »menschlichen Zustands«. Sie resultieren aus einer Verwirrung über das Selbst und die Welt, einer Verwirrung, die in unseren grundlegenden wissenschaftlichen und religiösen Prinzipien verkörpert ist und die in jedem Aspekt des modernen Lebens Anwendung findet, von der Politik über die Wirtschaft und die Medizin bis zur Bildung. Soziale Zerstörung und Umweltzerstörung sind eine unvermeidliche Konsequenz dieser Weltsicht, so wie Verjüngung und Ganzheit die Folge einer anderen Weltsicht waren und sein werden, einer Weltsicht, die ihre Wurzeln in primitiven Kulturen und Religionen hat und die dennoch die unausweichliche und bis jetzt im Allgemeinen unerkannte Folge der Wissenschaft des 20. Jahrhunderts ist.

Unsere augenblickliche Selbst-Welt-Unterscheidung – und ihre konsequente Zergliederung der gesamten Welt in eigenständige Einheiten – hat ihre Brauchbarkeit als dominantes Paradigma eingebüßt. Unsere Individuation – als Individuen und als eine von der Natur abgetrennte Spezies – ist abgeschlossen; tatsächlich ist sie mehr als abgeschlossen. Was mit der Landwirtschaft und schon zuvor mit dem Herantasten des Frühmenschen an die Technologie von Stein und Feuer begann, hat seine äußerste Grenze erreicht. Sie hat uns weit getragen, diese Separation; sie hat die Erschaffung von Wundern entfacht. In dem Umfang, in dem die Separation eine Illusion ist und wir auch Teil der Natur sind, hat die Illusion wiederum eine neue Gewalt der Natur entfesselt, die den Planeten transformiert. Doch wenn unsere menschlichen Attribute, der Gebrauch von Hand und Verstand, ebenfalls natürlich sind, was ist dann mit »Harmonie, Schönheit und Authentizität« geschehen, deren Fehlen in der Welt der Technologie jeder spüren kann? Können wir jemals jenen menschlichen Zustand erreichen, dessen Möglichkeit wir in Momenten seelischer Verbindung spüren? Dieses Buch wird die Extreme der Separation ergründen, die wir erreicht haben, wie auch die mögliche Wiedervereinigung, die in der Erfüllung und nicht in der Preisgabe der Talente liegt, die uns zu Menschen machen.

"Die Renaissance der Menschheit" in anderen Sprachen:
Chinesisch . Englisch . Finnisch . Französisch . Ungarisch . Rumänisch . Russisch . Serbisch . Spanisch

1998-2011 Charles Eisenstein