Der Aufstieg der Menschheit von Charles Eisenstein

Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters

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Inhaltsverzeichnis:


Bilder von Bildern

Das abgetrennte menschliche Reich, welches um Stein und Feuer, Sprache, Zahl und Zeitbindung wuchs, findet seinen ausdrücklichen Widerhall in der Welt der Bilder. Repräsentierende Kunst – Bilder von Dingen – ist buchstäblich eine menschengemachte Kopie der Welt, wie sie durch menschliche Augen interpretiert wird. Weit über die Kunst hinausreichend hat das getrennte Reich der Bilder nun mehr und mehr ein Eigenleben entwickelt und weicht ab von der Wirklichkeit, die sie einst repräsentierte. Die gestellten Bilder von Politikern und Unternehmen zusammen mit unseren eigenen Selbstbildern, die wir projizieren, sind Teil einer unechten Welt, eines Reichs des Scheins. So wie dieser Schein mehr und mehr von der Wirklichkeit abweicht, so wächst auch unsere Intuition von einer mangelnden Authentizität des Lebens. Dieser Abschnitt untersucht die Entwicklung der Bilderwelt, die uns heute umgibt.

In der Welt der Trennung lebend neigen wir dazu, Kunst entweder als Abbildung von Dingen, Ideen oder Gefühlen, die zwischen Mensch und Natur vermitteln, zu sehen und zu verstehen, oder als einen bloßen Anhang des Lebens, der ästhetische Genüsse bietet. Repräsentation oder Dekoration, also. Aber könnten Bilder einem anderen Zweck dienen?

Repräsentierende Gemälde und Skulpturen sind auf dem Angesicht der Erde ziemlich neu. Neanderthaler haben sie nicht angefertigt – obwohl sie offenbar den Gebrauch von Pigmenten angenommen haben, vermutlich von den modernen Menschen53. Die frühesten bekannten repräsentationalen Gemälde wurden in einer Höhle in Namibia gefunden und sind etwa 59.000 Jahre alt. Es folgte ein Überfluss an Gemälden in ganz Afrika, Europa und Australien, beginnend vor etwa 30.000 Jahren. Die meisten von ihnen stellen Tiere dar und werden für gewöhnlich als Versuche interpretiert, Jagdglück durch „sympathische Magie“ zu bringen. Genauso werden den frühesten Skulpturen magische und rituelle Gebräuche zugeschrieben, die ebenfalls dieser Periode zugeordnet werden und bei denen es sich anscheinend um Fruchtbarkeitssymbole handelte.

Mit anderen Worten erklären Gelehrte steinzeitliche Kunst als einen Versuch, die wirkliche Welt durch Manipulation von Repräsentationen zu beeinflussen. Es war allerdings ein kurzgedachter Versuch – die Art der Magie, die wir durch Technologie ersetzt haben, die tatsächlich funktioniert. Ha ha, diese armen Primitiven dachten wirklich, Bilder an einer Wand würden tatsächlich das abgebildete Geschehen beeinflussen. Bedenke aber, das diese Interpretation wiederum eine Projektion ist – eine Projektion unserer eigenen Angst und Trennung auf die primitiven Künstler. Vielleicht sind wir es, und nicht sie, die eine Matrix von Erscheinungen unter dem Wahn manipulieren, sie sei das Wahre.

Wir sollten vorsichtiger sein mit unserer voreiligen Annahme, die Jäger-Sammler-Kunst repräsentiere etwas in dem Sinne, wie wir es verstehen. Dass ein Bild von einem Tier getrennt und unterscheidbar ist vom wirklichen Tier erscheint uns offensichtlich, aber nicht dem primitiven Geist. Wie Joseph Epes Brown beobachtet, „weisen die Symbole der traditionellen indianischen Kunst nicht bloß auf das Repräsentierte hin, sondern sie werden zu dem Repräsentierten selbst.54“ Aus moderner Perspektive neigen wir dazu, gönnerhaft über solchen primitiven Aberglauben zu schmunzeln, diese armen Trottel glaubten tatsächlich, dass ihre Gemälde Jagdglück bringen, und wenn wir schon dabei sind, auch über alle Rituale jeder „primitiven“ Gemeinschaft, die je auf Erden existiert hat, als wären wir jetzt über all das hinaus, als hätte die Technologie die illusorische Kontrolle der Natur durch Rituale durch echte Kontrolle ersetzt. Aber bedenke für einen Augenblick: wenn jede menschliche Kultur bis in die jüngste Vergangenheit an die Kraft des magischen Rituals glaubte, ist es dann nicht denkbar, dass da etwas dran ist? Dieser Glaube war universell unter voragrarischen Völkern. Vielleicht sind wir Modernen es, die die Wahrheit vergessen haben und die den Kontakt verloren haben zu den grundlegenden Prinzipien des Universums, die jede Kultur kannte. Wie dem auch sei, angeblich braucht repräsentierende Kunst noch kein dualistisches Weltbild anzuzeigen; viel wahrscheinlicher wuchs der Dualismus über die Zeit, und mithin trugen andere Entwicklungen zum großen Vergessen der ursprünglichen magischen Bedeutung der Kunst bei.

Als die Technologie und Landwirtschaft die Distanz zwischen Mensch und Natur ausweiteten, wurden die Bilder der Künstler bezeichnenderweise stärker und stärker stilisiert, standardisiert und abstrakt, und verloren die Lebendigkeit der Lascaux und Chauvet Malereien, die auf irgend eine Weise den Geist der abgebildeten Tiere eingefangen haben. Vergleiche diese mit den bekannten stilisierten Figuren aus dem agrarisch geprägten alten Ägypten. Es ist, als wäre der Künstler mit wachsender Distanz zur Natur weniger fähig, ein direkter Kanal für die Unendlichkeit der realen Welt zu sein, die wirklich große Werke der Kunst auf irgendeine Weise durchdringt, und es wird umso notwendiger, die Wildnis durch Repräsentation zu kontrollieren und zu beschränken. Wie John Zerzan es ausdrückt, „verwandelt die Kunst das Subjekt in ein Objekt“ und weist damit die Unendlichkeit der wirklichen Welt in die Schranken des konzeptuellen und wahrnehmungsmäßigen Rahmens des Künstlers.

Es bleibt die Möglichkeit, selbst für den modernen Künstler, eine vorübergehende Freiheit von Kultur und Domestizierung zu erreichen, aber das erfordert einen Zugang zur eigenen inneren Unendlichkeit: der spontane und undomestizierte Geist, der tief begraben liegt unter dem ungeheuren Gewicht der Kultur. Solche Kunst ist in der Gurdjeffschen Tradition als „objektive Kunst“ beschrieben, nicht weil sie repräsentierende Formen verdinglichen, sondern gerade weil ihr vordringliches Wesen, wie bei steinzeitlichen Bildern, nicht Repräsentation sondern vielmehr ein Ding an und für sich ist; das heißt, sie ist wirklich. Solche Kunst hat wirkliche Kraft. Ihre Gegenwart bewegt uns und kann in der Tat die Welt verändern.

Als die Menschen von der Ursprünglichen Religion zu den dualistischen Religionen der Agrikultur übergingen, transformierte sich der magische Beitrag der Kunst von einem Innewohnen im Objekt selbst zu einem Innewohnen in seiner repräsentierenden Kraft. Während vor-entfremdete Völker – Animisten – glaubten, dass das gesamte Universum, belebt und unbelebt, manifestierter lebendiger Geist sei, teilten die Menschen, als die Trennung wuchs, den Geist von der Materie ab und entwickelten zum ersten Mal die Ansicht, dass einige Dinge spiritueller sein könnten als andere. Bilder und damit auch Rituale wurden, wie John Ralston Saul es formuliert, „eine magische Falle“. Ihre Kraft lag nicht länger darin, was sie waren, ein einzigartiges Zusammenlaufen von allem anderen im Universum, sondern was sie symbolisierten, den Geist, den sie enthielten. Parallel mit dem übereinstimmenden Konzept der Seele als abgetrenntem Bewohner eines nicht-spirituellen Körpers, wurde der magische Gegenstand ein Gefäß, das nicht für sich selbst magisch war. Es wurde magisch nur durch das, was in ihn hineingegeben war. Dies steht im Gegensatz zu allem, was Macht durch und für sich selbst hat, die nicht bezogen ist auf einen dualistisch gedachten „Inhalt“, getrennt von der Form. Die Parallele zu den nicht-semantischen Bedeutungen der Laute in der Lingua Adamica ist vollständig. Shaker-Möbel sind ein Beispiel dieser Art der „objektiven“ Kunst: weder getrennt von der Form, noch von der Funktion, liegt sie in der Perfektion von beidem.

Als man begann, die magische Kraft der Kunst in Sinne seines repräsentierenden Inhalts zu verstehen, war klar, dass Künstler nach Perfektion in ihren Bildern streben würden, die gemäß dieses Glaubens unabdinglich wäre für die perfekte Kontrolle über die Welt. Als Raphael, Michelangelo und da Vinci um das Jahr 1500 die letztendlichen technischen Durchbrüche in der Perspektive machten, geschah allerdings nichts magisches. Saul schreibt: „Im Westen war die Aufgabe des Malers und Bildhauers, die perfekte Falle für die Unsterblichkeit der Menschen zu kreieren55“. Es war der Ehrgeiz, das Repräsentierte real zu machen, der gleiche Ehrgeiz, der in der neuesten Version der Unsterblichkeitsfalle fortlebt: der Softwaresimulation des Bewusstseins in einer Virtuellen Realität. Wir leben derzeit in einer fast gänzlich künstlichen Wirklichkeit, einer Welt der Bilder, aber in Wahrheit hat sich nichts geändert. Mit dem Einsatz endlicher Methoden zur Näherung an das Unendliche und dem Einsatz der Repräsentation zur Näherung an die Realität erreichen wir lediglich den Bau eines höheren Turms. Kann er jemals den Himmel erreichen?

Die Lösung des Rätsels um die Perspektive war nicht nur ein technischer Durchbruch, sondern auch ein konzeptionelle Verschiebung. Die Perspektive gefriert Objekte in der Zeit, indem sie einen einzelnen Blickpunkt in einem einzelnen Augenblick annimmt. „Vor dem 14. Jahrhundert gab es keinen Versuch in Perspektive, weil der Maler Dinge aufzeichnen wollte, wie sie waren und nicht, wie sie erschienen56.“ Perspektivisches Malen nimmt Objekte auf, wie sie zu einem bestimmten Augenblick erscheinen, und implizit ordnet es damit die Wirklichkeit dem menschlichen Beobachter unter und bekräftigt den grundlegenden Dualismus von Selbst und Welt. Hier liegt Descartes abgetrenntes „Ich bin“, ein unterschiedener Punkt der Wahrnehmung, der auf das Andere hinausblickt. Vielleicht strebten die mittelalterlichen Maler keinen bloß technischen Durchbruch als Endergebnis von aufeinander folgenden Fortschritten an, sondern waren einfach nicht an einem Versuch der Perspektive interessiert, solange die moderne Auffassung vom Selbst noch nicht voll ausgereift war und solange die Zeitmessung die Rhythmen der Natur noch nicht vollständig verdrängt hatte.

Es liegt ein Gutteil Hybris im Einfangen der Realität durch ein perfektes Abbild; vielleicht erklärt dies das tiefe Misstrauen, dass viele religiöse Traditionen gegenüber Bildern vom Göttlichen oder selbst von Menschen, Tieren und Objekten haben. Der Judaismus und der Islam kommen gänzlich ohne sie aus, so wie auch der Buddhismus, bis Alexander der Große schließlich die Griechische Kultur mit ihrer Besessenheit von der Sterblichkeit und, nicht zufällig, von Bildern nach Indien brachte57. Es gibt auch viele Kulturen, in denen man es ablehnt, dass man ein Foto von ihnen schießt, womit sie vielleicht die Hybris und Vergeblichkeit der nahegelegten Pseudo-Unsterblichkeit erahnen, oder den Faustischen Handel, bei dem ein Augenblick, der wahrhaftig ist, ausgetauscht wird durch eine gefrorene Repräsentation desselben, die es nicht ist. In der Tat habe ich bemerkt, dass Kameras und – noch schlimmer – Videoaufnahmen dazu neigen, von den frohen Ereignissen abzulenken, die sie auf Film festhalten sollen. Bilder auf Geburtstagsfeiern und Hochzeiten aufzunehmen, um diese frohen Erinnerungen zu bewahren, ersetzt eine Erfahrung durch ein Bild und kann manchmal das Ereignis mit einem inszenierten Gefühl durchsetzen, als wäre es nicht real, als wäre es eine Wiederholung, die später zu genießen ist. Es ist, als würden uns wirkliche Momente nicht behagen und als würden wir sie lieber aus der Entfernung erfahren, aus zweiter Hand. Im extremsten Fall wird das Ereignis selbst vollständig von der fotografischen oder filmischen Aufnahme definiert – das ist sicherlich der Fall im Bereich der Public Relations und der Politik.

Für manche Menschen ist es ein kleiner aber bedeutsamer Beitrag gegen die Entfremdung des modernen Lebens, wenn sie die Kamera beiseite legen und voll am Moment teilhaben, anstatt vergeblich zu versuchen, den Augenblick auf einen Film zu bannen. Der Zwang, alles aufzuzeichnen, lässt die zugrunde liegende Angst vor dem modernen Leben erkennen und die Überzeugung, die von der Zeitmessung kommt, dass uns unser Leben Tag für Tag, Stunde für Stunde, Moment für Moment entschwindet. Wenn ich sie fotografiere, werden diese wertvollen Momente meiner Kinder Kindheit vielleicht immer da sein, bewahrt für die Ewigkeit. Ich habe allerdings bemerkt, dass mich, wenn ich die Säuglingsbilder meines Sohnes betrachte, hauptsächlich ein Gefühl der Wehmut überkommt, ein Bedauern, dass ich diese wertvollen, einzigartigen Zeiten nicht wahrhaft und voll gewürdigt habe. Gerade der Versuch, diese Augenblicke zu besitzen und zu bewahren, schmälert sie, so wie Technologie uns im allgemeinen von genau der Welt entfremdet und vor ihr ängstigt, die sie zu kontrollieren sucht.

Es ist viel besser, jeden schönen Moment im ruhigen Wissen zu genießen, dass uns eine Unendlichkeit gleichermaßen und doch verschieden schöner Momente erwartet. Gleichzeitig hilft uns das Bewusstsein über die Flüchtigkeit eines jeden Augenblicks, ihn umso mehr zu schätzen, wenn wir nur nicht der Illusion anheim fallen, die sich bespielsweise in der Fotografie bietet, dass er für immer währen könnte. Diese Illusion beraubt das Leben seiner Dringlichkeit und Intensität und ersetzt sie durch eine fade Selbstzufriedenheit, die unseren verborgenen unbefriedigten Hunger nach wahrhafter Erfahrung erstickt. Und dieser unbefriedigte Hunger wiederum nährt einen endlosen Appetit nach den stellvertretenden Imitationserfahrungen, die wir im Fernsehen, Kino, Vergnügungsparks, Publikumssport und – der letzte Schrei – Reality TV finden.

Der Buddhismus – und ich könnte dies auch von den esoterischen Lehren aller Religionen sagen – erkennt das Leid, das in dem Versuch enthalten ist, dasjenige permanent zu machen, was naturgemäß flüchtig ist. Die zauberhaften Sandgemälde, die von Tibetanischen Mönchen und auch von Navajo Indianer verfertigt werden, überdauern wegen des Werkstoffs nur kurze Zeit – selbst wenn sie nicht am nächsten Tag absichtlich zerstört werden, und zeigen ein wichtiges Prinzip: der Wert der Schönheit hängt nicht von seiner Bewahrung ab. Der moderne Geist neigt zu dem Denken, die Schaffung solcher Werke sei reine Zeitverschwendung – etwas Schönes zu erschaffen, nur um es zu zerstören – und möchte sie in einem Museum bewahren, einen „Nutzen“ daraus ziehen. Diese Art des Denkens, in welchem wir den gegenwärtigen Augenblick an die Zukunft verpfänden, ist genau die Mentalität der Agrikultur, in der wir säen müssen, um zu ernten, in der die Zukunft die jetzige Arbeit motiviert und rechtfertigt. Wenn wir die Gegenwart fotografieren, aufzeichnen und archivieren, sind wir von derselben Angst getrieben, wie der Agrikulturist, der weiß, dass es, wenn er jetzt kein Getreide speichert, in der Zukunft Knappheit geben wird. So wie der Agrikulturist, anders als der Jäger und Sammler, nicht länger auf die Vorsehung und den leicht erreichbaren Überfluss der Natur vertraut, so fühlen auch wir uns gezwungen, die schönen Momente für später aufzuheben, als wäre ihr Verfügbarkeit begrenzt.

Als nach der Perfektionierung der Gemälde nichts Magisches geschah, dauerte es nicht lange, dass Enttäuschung und schließlich Verzweiflung die Kunstwelt infizierte. Saul schreibt: „Für etwa zwanzig Jahre nach Raphaels Entdeckung feierten Künstler ihren Triumph mit einem Ausfluss an Genie. Aber allmählich begann das unbewusste Scheitern hinter dem bewussten Erfolg sie zu verlangsamen und ihre Perspektive zu verdunkeln. Der Betrachter muss sich nur einmal ansehen, wie sich Titians Opulenz und sinnliche Freude allmählich ins Tragische wandelte. Ohne den Raum für Fortschritt drehte und wendete sich das Bild im Kreis und begrub sich selbst, wie ein Tier, das an seine eigenen unmöglichen Versprechen gekettet ist und das nach einem Ausweg sucht aus der Sterblichkeit des Wirklichen.58“ So sehr man es auch versucht, durch all die Wendungen der folgenden Wellen künstlerischer „Bewegungen“, sei es mit der Demonstration der Künstlichkeit von Bildern durch die Impressionisten oder mit der Zerschmetterung der Perspektive durch die Kubisten, kann das Bild nicht vor der Realität entfliehen, nur Farbe auf Leinwand zu sein.

Weitere Perfektionierung des Bildes verstärkte nur die Enttäuschung. Fotografie, dann bewegte Bilder, dann Hologramme sind gleichermaßen unfähig, magische Resultate zu erzielen; das heißt, tatsächliche Kontrolle der Wirklichkeit durch die Kontrolle über ihre Repräsentation. Doch unwillig, sich diese Niederlage einzugestehen, verfolgen wir den Weg weiter mit der „virtuellen Realität“, einer passenden Metapher für die Sackgasse, in die uns unsere Trennung vom Selbst geführt hat. Das getrennte Menschenreich, das seinen Ausgang im Kreise des Lagerfeuers nahm, ist nun fast abgeschlossen – eine vollständig künstliche Realität. Wir sind angelangt, nur um uns noch verlorener zu fühlen, als je zuvor.

Die Pseudoerfahrungen aus zweiter Hand, mit der uns die moderne Unterhaltungsindustrie versorgt, stillt unseren Hunger nach echten Erfahrungen vorübergehend, intensiviert ihn am Ende aber nur noch. Wie jedes Suchtobjekt sind sie Fälschungen, die das wahre Bedürfnis nicht befriedigen – eine Unzulänglichkeit, die vorübergehend durch Erhöhung der Dosis überspielt werden kann. Filme und Musik sind in den zurückliegenden Jahrzehnten beispielsweise immer intensiver, lauter und schneller geworden. Die Computeranimation in 3-D hat den alten Künstlertraum vom perfekten Bild, sogar einem bewegten Bild, wahr werden lassen, jedoch bleibt die unangenehme Tatsache bestehen, dass das Bild, so perfekt es auch sei, niemals real sein kann und dass die virtuelle Welt nie eine reale Welt sein kann. Und dieses Phänomen ist nicht beschränkt auf die Unterhaltungsindustrie. John Zerzan schreibt: „Ein jeder kann die Nichtigkeit und Leerheit spüren, die sich eben unter der Oberfläche von alltäglichen Routinen und Sicherheiten befindet.“ Wir leben in einer Welt der Bilder, der Repräsentationen, die uns von der wahren Erfahrung trennen; wir versuchen dann unseren Hunger nach Wirklichkeit durch noch mehr Bilder zu stillen. Die weitere Steigerung der Dosis ist deshalb unvermeidlich – wir können nie genug bekommen. Es ist wie der Versuch, den Hunger mit Kaugummikauen zu vertreiben.

Die 2004er Kampagne zur Präsidentschaftswahl liefert ein Beispiel dafür, wie sehr wir uns in einer mit der Wirklichkeit unverbundenen Welt der Bilder verloren haben. Um mit den Worten des Journalisten Matt Taibbi zu sprechen: „Das ganze Ding könnte leicht in einem Filmstudio gemacht werden.59“ Es ist eine Welt, in der nichts real und alles inszeniert ist, in der jede Handlung kalkuliert und jede Begegnung dramaturgisch genauestens geplant ist. Die Künstlichkeit ist förmlich greifbar, wenn Kandidaten überall auf ihr Image erpicht sind. Spricht er über die Kerry-Kampagne, so dagt Taibbi: „Sie wollen nur die Schlagworte aus den Telefonumfragen treffen, von denen sie wissen, dass sie die Wähler beeindrucken. Wandel. Führungsqualität. Stärke. Dies sind buchstäblich infantile Konzepte, die sie rüberbringen wollen.“ Der Wahn, dass Image die Wirklichkeit übertrumpft, wurde sogar übertragen auf die offizielle U.S. amerikanische Politik in der unsäglichen „Marke Amerika“ Kampagne, um Amerikas „Image“ im Mittleren Osten zu verbessern.

Die Welt der Bilder, von der ich spreche, ist nicht beschränkt auf Unternehmensimages und die Posen der Politiker. Auch auf der individuellen Ebene neigen wir dazu, vom Schein besessen zu sein, indem wir ein akzeptables Image von uns selbst in die Welt projizieren. Ich spreche hier nicht nur über solche Oberflächlichkeiten wie Mode, sondern von unterschwelligen Masken und Posen, mit denen wir uns in einer Welt voller Fremder schützen. Die Unwirklichkeit der modernen Welt zeigt sich in unseren Gesichtern, unseren Stimmen und unseren Gedanken; daher das wachsende Verlangen, wahrhaftig zu sein, die Suche nach Authenzität. So wie die Worte ihre Bedeutung verlieren, verlieren auch die Bilder ihre Macht und Mystik. Leibniz und andere Denker der Aufklärung glaubten an die Möglichkeit, eine perfekte Sprache zu erschaffen, die mit der Wirklichkeit deckungsgleich wäre, sodass falsche Aussagen darin nicht einmal möglich wären. Sie erkannten nicht, dass das Objekt ihrer Suche vor der Sprache existierte und dass es niemals durch wachsende Präzision der Repräsentationen erreicht werden kann, sondern nur, indem man ganz und gar über die Repräsentation hinaus geht. Keine Sprache hat jemals zuvor die Anzahl von Wörtern erreicht, die im Englischen existieren, die Vielfalt an präzisen technischen Ausdrücken für immer feiner verästelte Unterteilungen der Realität, jedoch zieht sich die Bedeutung dabei immer weiter zurück. Auf die gleiche Weise vermehren sich die Bilder von der Realität bis hin zur Allgegenwärtigkeit, so weit, dass die neusten Mobiltelefone eingebaute Digitalkameras haben und dass Videokameras jede unserer Bewegungen im öffentlichen Raum aufzeichnen – allerdings scheinen diese Bilder nichts mehr zu bedeuten. Die realsten Gewaltdarstellungen im Kino lassen uns kalt, weil wir trotz ihrer nahezu perfekten Echtheit wissen, dass sie nicht wahr sind. Nichts ist wahr in einer Welt der Bilder.

Die Macht, die Bilder noch haben, schwindet fortschreitend, da es immer leichter wird, perfekte Bilder zu fabrizieren, die mit der Wirklichkeit unverbunden sind. Kurz vor dem Skandal um die Misshandlungen im Gefängnis von Abu Ghraib zirkulierte ein Foto von einem lächelnden Soldaten neben einem irakischen Jungen, der fröhlich ein Schild hochhält, auf dem steht: „Dieser Mann hat meine Mutter vergewaltigt und meinen Vater umgebracht.“ Der kranke Scherz war, dass der Junge kein Englisch verstand und sich damit unwissend selbst entwürdigte. Aber dann zirkulierten plötzlich Versionen des Fotos mit unterschiedlichen Botschaften auf dem Schild, und es war unmöglich zu sagen, welches authentisch war.

Doch selbst wenn die Authenzität außer Frage steht, verlieren Fotos aus irgendeinem Grund ihre Macht zu schockieren, wie die verstummten amerikanischen Reaktionen auf die Abu Ghraib Bilder belegen. Wo ist die Wut, der Ekel, die nationale Scham? Vielleicht wurden wir wegen der wachsenden Allgegenwart von Gewaltdarstellungen und diabolischer Grausamkeit in den Unterhaltungsmedien anscheinend abgestumpft gegenüber gewaltsamen und tragischen Bildern, selbst wenn sie nicht fiktional sind. Wir behandeln sie als eben jene Anzahlen von Pixeln – geht das Leben nicht sowieso wie üblich weiter?

Weiteres Symptom und Folge der Trennung zwischen Wirklichkeit und Bild ist die allmähliche Abwanderung der Kunst in die Bedeutungslosigkeit, die die dualistische Unterscheidung zwischen Kunst und Handwerk nahelegt. Die Kunst setzt sich mit der Ästhetik auseinander, das Handwerk mit der Funktion. Im Mittelalter wurden Maler als Handwerker angesehen, die eine nützliche soziale, politische und religiöse Funktion erfüllten, und es geschah nicht vor dem 18. Jahrhundert, dass eine Unterscheidung zwischen der feinen Kunst und der Gebrauchskunst getroffen wurde60. Wie Saul ironisch beobachtet: „Anders gesagt, zur Zeit des 18. Jahrhunderts begann die Gesellschaft bewusst daran zu zweifeln, dass die Kunst nützlich sei.“ Im nächsten Jahrhundert wurden die ersten Museen zu rein ästhetischen Zwecken gegründet. Die ästhetische Funktion der Kunst, heute fast universell akzeptiert, überantwortet sie förmlich der Irrelevanz, macht sie zu schönem Zierrat ohne Funktion. Zerzan drückt es so aus: „Kierkegaard befand, das definierende Wesen des ästhetischen Ausblicks sei seine bereitwillige Versöhnung aller Standpunkte und ihre Flucht vor der Festlegung. Dies kann man an dem fortwährenden Kompromiss sehen, der zum einen die Kunst aufwertet, nur um ihre Aussage und ihren Gehalt abzutun mit einem „na ja, letztendlich ist es nur Kunst.“

Vielleicht kommt es daher, dass ich gemeinsam mit allen kleinen Kindern Kunstmuseen so verabscheue. Normalerweise kann ich 15 Kilometer gemütlich spazieren gehen, aber nach nur zwanzig Minuten im Museum ermüden meine Füße, und ich beginne zu jammern, mir möge jemand ein Eis kaufen. Museen bekräftigen, dass Kunst nur etwas zum Anschauen – nicht zum Berühren! – sei, so wie ihre Wände und Glaskästen sie physisch vom Rest der Welt abschirmen. Trotz aller großen Bemühungen bei der Bewahrung der Kunst, die ihre Wichtigkeit unterstreichen sollte, festigen Museen durch ihr ureigenes Wesen die Irrelevanz und Abgehobenheit der Kunst.

Gehen wir noch ein wenig weiter zurück, so können wir nicht nur die Trennung zwischen Kunst und Handwerk in Frage stellen, sondern auch zwischen Kunst und dem Leben. Nach Joseph Epes Brown gibt es in nordamerikanischen Indianersprachen kein Wort für Kunst. Er zitiert James Houston folgendermaßen: „Ich glaube, dass Eskimos kein zufriedenstellendes Wort für Kunst haben, weil sie nie die Notwendigkeit dafür gesehen haben. Wie andere Jägergesellschaften dachten sie vom ganzen Akt des Lebens in Harmonie mit der Natur als ihre Kunst. [...] Nützliche Gegenstände auf solche Weise nur als „Handwerk“ abzutun, hat zu der tragischen Trennung der Kunst vom Leben beigetragen. Innerhalb der geschaffenen traditionellen Formen der amerikanischen Ureinwohner kann es eine solche Zweiteilung allerdings nicht geben, denn Kunst ist nicht nur die jeweilige geschaffene äußerliche Form, sondern auch das innere Prinzip, aus dem sie entsteht. Eine Kunstform wird oft als schön angesehen nicht nur im Sinne von Ästhetik, sondern auch aufgrund ihrer Nützlichkeit und des Grades ihrer Zweckerfüllung.“

Durch diese ganze Kunstkritik möchte ich keinesfalls die Entfernung der Kunst aus dem Leben befürworten, sondern vielmehr die Verschmelzung dieser beiden Kategorien. Kunst kann eine Art des Lebens sein, die all ihre Dimensionen umfasst. Wendell Berry drückt es folgendermaßen aus:

Die Möglichkeit einer vollständig weltlichen Kunst und von Kunstwerken, die ohne Esprit oder hässlich oder unnütz sind, ist eine Möglichkeit, die noch nicht lange unter uns weilt. Traditionellerweise waren die Künste Arten des Schaffens, die gleichermaßen hohen Wert legten auf ihre Materialien oder Themen, auf den Gebrauch und die Gebraucher der durch die Kunst geschaffenen Dinge und auf die Künstler selbst. Sie waren also Arten der Ehrerbietung an die Werke Gottes. [...] Es gibt in der Schöpfung kein Material oder Thema bei dessen Verwendung wir von einer guten Verwendung entschuldigt wären; es gibt keine Arbeit in der wir davon entschuldigt wären, fähige und verantwortliche Künstler zu sein.61.

Eine solche Ehrung der Schöpfung – d.h. der Welt – ist vollkommen unvereinbar mit der Logik moderner Biologie und Ökonomie. Warum etwas besser machen, als gerade nötig? Das Diktat des biologischen Überlebens und der Reproduktion oder des wirtschaftlichen Wettbewerbs belohnt ein bestimmtes Niveau der Exzellenz, aber nichts darüber hinaus, nichts, was innerlich aus dem Arbeiter und seinen Materialien heraus motiviert wäre, sonder nur äußerlich aus der Umwelt und den Marktgegebenheiten. Gut genug ist, anders gesprochen, eben gut genug. Ich sehe die Resultate dessen fortwährend in der Erziehung, bei der das Lernen durch die Zensur motiviert wird. Warum mehr lernen, als es für eine „Eins“ notwendig wäre? In der Logik des unterschiedenen, abgetrennten Selbst wäre jeder Grund, etwas besser als gut genug zu machen, immer eine Illusion. Es ist genau diese unsere Weltsicht, die die Kunst aus dem Leben herausgebrochen und die Kunst damit als frivol und irrelevant, das Leben als eine mutlose Karikatur ihrer Selbst, als eine leere Hülle definiert hat. Und die Wiedervereinigung dieser beiden Kategorien, Kunst und Leben, ist zentral für die Heilung, die sich mit dem Kollaps des Zeitalters der Trennung ereignen wird.

53 Oppenheimer, S. 120

54 Joseph Epes Brown, Teaching Spirits, S. 71.

55 John Ralston Saul, Voltaire’s Bastards, S. 427

56 Zerzan, S. 22.

57 Saul, S. 430.

58 Saul, S. 435

59 „Politics-a-palooza“, ein Interview mit Matt Taibbi von Jonathan Shainin, Salon Magazine, 12. Mai 2005.

60 Saul, S. 439.

61 Wendell Berry, Sex, Economy, Freedom & Community, S. 112-113

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1998-2011 Charles Eisenstein