Der Aufstieg der Menschheit von Charles Eisenstein

Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters

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Inhaltsverzeichnis:


Die fabelhaften Pirahã

Einige Monate nachdem ich den Rest dieses Kapitels geschrieben hatte, stolperte ich über die Arbeit von Daniel Everett, einem Linguisten, der mehr als ein Jahrzehnt auf das Studium von Kultur und Sprache der Pirahã verwendet hatte62. Die Pirahã, ein kleines Volk von Jägern und Sammlern in Brasilien, haben mit atemberaubender Hartnäckigkeit aller oben beschriebenen Entwicklungen linguistischer Abstraktion, repräsentierender Kunst, des Zählens und der Zeit wiederstanden.

Obwohl dieser Stamm mit anderen Brasilianern seit zwei Jahrhunderten in Kontakt stand, haben sie aus irgendeinem Grund eine extreme Form linguistischer und kultureller Integrität bewahrt und blieben bis heute einsprachig. Bemerkenswert ist, dass sie nicht nur in einem, sondern in allen hier beschriebenen Bereichen nur sehr wenig von der Trennung zeigen, die der modernen symbolischen Kultur zueigen sind. Sie zwingen der Zeit keine Linearität auf. Sie abstrahieren das Bestimmte nicht in etwas Allgemeines durch die Zählung. Sie vereinheitlichen für gewöhnlich keine Individuen durch den Gebrauch von Pronomen. Sie gefrieren die Zeit nicht in einer Repräsentation durch die Abbildung. Sie reduzieren das Kontinuum der Farben nicht durch eine diskrete Endlichkeit von Farbnamen. Sie haben kaum unabhängige Konzepte für die einzelnen Finger, der Grundlage für die Zahlen, das Greifen und die Kontrolle; noch nutzen sie ihre Finger, um auf etwas zu deuten.

Am auffälligsten ist die Unfähigkeit der Pirahã zu zählen63. Nicht nur, dass sie keine Wörter für Zahlen haben, ihrer Sprache fehlen auch solche Mengenqualifikatoren wie „viele“, „einige“ oder „alle“. Noch erstaunlicher ist ihre anscheinende Unfähigkeit, das Zählen überhaupt zu lernen. Trotz achtmonatiger fortgesetzter Bemühungen scheiterte der Sprachpathologe Peter Brown bei dem Versuch trotz der enthusiastischen Kooperation der Pirahã. Sie können keine Serie von Klopfgeräuschen nachproduzieren, weil sie die vorangegangenen Klopfer nicht mitzählen können64.

Die Sprache der Pirahã zeichnet sich durch ein nahezu vollkommenes Fehlen von Abstraktion aus. Es gibt keine semantische Einbettung, wie etwa in Redeweisen der Art „Ich glaube, dass sie kommen will.“ („Sie will kommen“ ist eine nominalisierte Phrase, die eingebettet ist in „Ich denke [X]“). Das Fehlen nominalisierter Phrasen heißt, dass Wörter nicht von der Wirklichkeit abstrahiert werden, um als Dinge in sich selbst aufgefasst zu werden. Die Grammatik ist kein unendlich dehnbarer Rahmen, der abstrakte Bedeutung durch reine Syntax erzeugt. Wörter werden nur in konkreter Referenz auf Objekte der direkten Wahrnehmung verwendet. Es gibt zum Beispiel weder Mythen irgendwelcher Art bei den Pirahã, noch erzählen sie fiktionale Geschichten. Diese Abwesenheit der Abstraktion erklärt ebenfalls das Fehlen der Zahlenwörter.

Selbst die Farben existieren für die Pirahã nicht im Abstrakten. Obwohl sie klar dazu in der Lage sind, Farben zu unterscheiden und Wörter wie „Blut“ oder „Schlamm“ zur Beschreibung farbiger Objekte zu verwenden, beziehen sich diese Wörter nicht auf Farben in einem abstrakten Sinne. Man kann in Pirahã beispielsweise nicht sagen: „Ich mag rote Dinge“, oder „Iss im Dschungel keine roten Sachen“65.

Selbst die bloße Idee der abstrakten Repräsentation ist den Pirahã anscheinend unmöglich zu erklären. Everett beschreibt seine eigenen Versuch:

Wenn man versucht nahezulegen, wie wir es zum Beispiel in einer Mathematikstunde ursprünglich taten, dass es tatsächlich eine bevorzugte Antwort auf eine bestimmte Frage gibt, dann wird das nicht aufgenommen und führt sehr wahrscheinlich zu einem Themenwechsel und/oder Irritation. Als ein weiteres Beispiel diene dies: stelle dir vor, Pirahãs würden auf von mir ausgehändigtem Papier eine „Geschichte aufschreiben“, die nur aus zufälligen Zeichen besteht, um sie mir dann „vorzulesen“, d.h. mir einfach etwas zufälliges aus ihrem Tag zu erzählen oder ähnliches, um dann zu behaupten, sie läsen aus ihren Zeichen vor. Sie könnten sogar Zeichen auf Papier machen und zufällige portugiesische Zahlen sagen, während sie mir das Papier zeigen. Sie verstehen überhaupt nicht, dass solche Symbole präzise sein sollten (das äußert sich, wenn ich sie dazu befrage oder sie auffordere, ein Symbol zweimal zu malen und sie dann niemals das gleiche Zeichen reproduzieren) und erachten ihr „Schreiben“ als genau die gleichen Zeichen, die ich mache66.

Abstraktion fehlt auch in ihrer Kunst. Die Pirahã malen überhaupt keine repräsentierenden Abbildungen, außer vielleicht grober Stöckchenfiguren, um dem Anthropologen die Geisterwelt zu erklären, von der sie behaupten, sie direkt zu erfahren. Sie können nicht einmal gerade Linien zeichnen. Wie Everett weiter schreibt: „In Leseklassen haben wir es allerdings nicht geschafft, einem Pirahã beizubringen, ohne fortwährende Unterstützung eine bloße gerade Linie zu zeichnen, und sie waren nie in der Lage, diese Leistung in folgenden Versuchen ohne weitere Unterstützung zu wiederholen.“ Das ist deshalb hoch bedeutsam, weil die gerade Linie selbst eine Abstraktion ist, die der Natur vollkommen fehlt. Es ist darüber hinaus eine Abstraktion, die aufgeladen ist mit kulturellen und psychologischen Implikationen. In diesem ganz wörtlichen Sinne beschäftigen sich die Pirahã nicht mit linearem Denken.

Die Abwesenheit linearen Denkens äußert sich in der Sprache, die keine Zeitformen hat, und das nicht nur im morphosyntaktischen Sinne von Verbmarkierungen. Es gibt einfach keine sprachliche Möglichkeit, ein Ereignis in einem bestimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit oder Zukunft zu fixieren, da die Pirahã keine Wörter für morgen, gestern, nächsten Monat oder letztes Jahr haben. Der Satz „Lass uns hier in drei Tagen treffen!“ kann in Pirahã nicht ausgedrückt werden. Pirahã verfügt überhaupt nur über zwölf Zeitwörter, wie etwa Tag, Nacht, Vollmond, Hochwasser, Niedrigwasser, schon, jetzt, morgens und anderntags. Keines dieser Wörter erlaubt die Etablierung eines Zeitstrahls. Entsprechend haben die Pirahã keinen Sinn für Geschichte, nichts, was über das Lebenszeitgedächtnis hinaus reicht, keinen Schöpfungsmythos. „Pirahã sagen zum Beispiel einfach, wenn man sie hinsichtlich der Schöpfung nach Auskunft drängt: „Alles ist dasselbe“, was heißt, nichts ändert sich, nichts ist erschaffen67.“ Oft kennen sie nicht die Namen ihrer verstorbenen Großeltern; ihre Verwandtschaftsbezeichnungen beziehen sich nicht auf Verstorbene. Ihre Welt ist eine zeitlose. Die Vergangenheit ist schließlich nur eine weitere Abstraktion, sobald sie weiter zurückreicht, als das lebende Gedächtnis.

Die Pirahã sehen in gleicher Weise von einer Projektion in die Zukunft ab und teilen die in Kapitel I beschriebene Sorglosigkeit und die Ablehnung von Vorratshaltung mit anderen Jägern und Sammlern. Sie sind sich durchaus der Methoden der Vorratshaltung, wie etwa der Trocknung, des Einsalzens und so weiter, bewusst, verwenden diese Techniken aber nur, um Waren für den Tauschhandel herzustellen. Für sich selbst bevorraten sie keine Nahrung, und sie erklärten Everett: „Ich speichere Fleisch im Bauch meines Bruders“. Mit anderen Worten „teilen sie mit denen, die Fleisch brauchen und speichern nie für die Zukunft“. Es gibt aber auch noch eine andere mögliche Lesart dieser Aussage: wörtlich genommen legt sie eine andersartige Konzeption von Eigeninteresse nahe und damit auch eine andere Konzeption vom Selbst. Jemand anderem zu helfen, bedeutet, sich selbst zu helfen. Wir sind nicht getrennt.

Wie andere Jäger und Sammler haben die Pirahã wenig materiellen Besitz, und das, was sie besitzen, ist wenig dauerhaft: Körbe, die einen oder zwei Tage halten, Behausungen, die bis zum nächsten Sturm halten. Ihre materielle Kultur trifft keine Vorsorge zur Sicherung der Zukunft, keine Vorsorge für Fortschritt, Verbesserung oder Anhäufung.

Eine letzte Ablehnung der Trennung liegt in der Unfähigkeit der Pirahã, eine abstraktes Konzept der materiellen Wertigkeit zu formulieren. Unfähig, Geld zu verstehen, verlassen sie sich ganz auf Tauschhandel, und sie neigen bei solchen Transaktionen dazu, äußerst erfinderisch zu sein. Sie zeigen, was sie anzubieten haben (Paranüsse, Rohkautschuk o.ä.) und deuten solange auf gewünschte Waren im Boot des Händlers, bis der Händler sagt, dass ihre Waren nun voll abgegolten sind. „Es gibt allerdings nur eine lose Verbindung zwischen der Menge, die sie liefern, und der Menge der Waren, die sie dafür verlangen“, so Everett. „Zum Beispiel, mag einer nach einer ganzen Rolle harten Tabaks im Austausch für ein kleines Säckchen Nüsse verlangen oder nach einem kleinen Stück Tabak für einen großen Sack.“ Dennoch sind die Pirahã ein intelligentes Volk, fähige Jäger und Fischer mit einem wohl entwickelten Sinn für Humor.

Der Grundtenor von Daniel Everetts Artikel ist die Widerlegung einer weithin akzeptierten Hypothese der Linguistik – „Hocketts Konstruktionseigenschaften menschlicher Sprache“ – die etwa ein Dutzend Charakteristika menschlicher Sprache beschreibt, die universell gültig sein sollen. Pirahã, so Everett, widersetzt sich mindestens drei dieser Charakteristika. Ich glaube, dass Hocketts Konstruktionseigenschaften uns nur wegen unserer gegenwärtigen Perspektive der Trennung als universell erscheinen. Im Gegensatz zu Hockett ist Pirahã stark beschränkt in seiner Fähigkeit, von Ereignissen zu sprechen, die in Zeit und Raum vom Akt der Kommunikation abgetrennt sind (Verschiebung) und in seiner Fähigkeit, neue Bedeutung durch grammatische Konstruktionen zu erzeugen (Produktivität). All dies liegt begründet im Widerstand der Pirahã, sich von der Wirklichkeit durch das zu entfernen, was wir Abstraktion nennen.

Von den Zahlen über die Farben bis hin zur Zeit gibt es vieles, was die Sprache der Pirahã wegen ihrer Anlage einfach nicht auszudrücken vermag. Dies lädt zur Folgerung ein, dass es sich bei den Pirahã wohl um ein kognitiv verarmtes und sozial isoliertes Volk handelt. Darüber hinaus haben sie die geringste Anzahl unterschiedlicher Phoneme unter allen bekannten Sprachen: nur drei Vokale und sieben Konsonanten für Frauen, acht für Männer. Gewöhnt daran, Kommunikation mit semantischer Bedeutung gleichzusetzen, können wir nur schließen, dass die Pirahã an einer extremen Kommunikationsarmut leiden.

Von großer Bedeutung in diesem Zusammenhang ist dann aber Everetts Beobachtung, dass die Pirahã etwa genauso viel, wie sie miteinander sprechen, auch durch Singen, Pfeifen und Summen kommunizieren, also durch nicht symbolische Arten der stimmlichen Kommunikation. Eine reichhaltige Prosodie erweitert zudem ihre verbale Kommunikation. Kann es sein, dass sie der Ursprünglichen Sprache näher sind, als der Rest der Welt, der im Morast von Repräsentation und Abstraktion steckt? Vielleicht sind wir es, nicht sie, die an einer Verarmung der Kommunikation leiden.

62 Everett, Daniel L., „Cultural Constraints on Grammar and Cognition in Pirahã: Another Look at the Design Features of Human Language“, Current Anthropology, Aug-Okt 2005., Bd. 46, Nr. 4.

63 Gordon, Peter, „Numerical Cognition without Words: Evidence from Amazonia“, Science, 19. August 2004, S. 496-499

64 Dazu gibt es Filmmaterial von Peter Gordon auf der Homepage der Columbia Universität.

65 Everett, S. 628

66 ebd., S. 626

67 ebd., S. 633

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1998-2011 Charles Eisenstein