Der Aufstieg der Menschheit von Charles Eisenstein
Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters
Die Trennung von der Natur und das Technologische Programm zur Kontrolle der Natur nahm seinen Anfang nicht mit der Landwirtschaft, trotz der wohlformulierten Argumente von Daniel Quinn und anderer, die die Ausweisung aus dem Garten Eden in die Welt der Mühsal mit dem Übergang vom Jäger und Sammler zur bäuerlichen Existenz gleichsetzen. Die Agrikultur markierte vielmehr eine epochale Beschleunigung einer vorgeformten Tendenz, einen unausweichlichen Ausdruck einer sich lange ankündigenden Erwartung.
Mit der Landwirtschaft erweiterte sich das Reich der Menschen in radikal neues Territorium, um die vielen angeeigneten Tiere, Pflanzen und anderen Teile der Natur einzuschließen. Die Domestizierung war nicht länger auf den Kreis des Lagerfeuers beschränkt. Mit der Agrikultur haben wir begonnen, die ganze Welt zu domestizieren.
Weil es die Agrikultur war, die den Aufstieg der Menschheit in seine gegenwärtige Phase befördert hat, ist die Frage, wie und warum sie begann, von höchstem Interesse. Viele der Theorien in der Literatur sind wenig überzeugend. Der Trugschluss in der „hässlich, brutal und kurz“-Annahme der Angsttheorie lässt Zweifel aufkommen an Theorien, die sich auf Bevölkerungsdruck und Nahrungsknappheit beziehen – Nahrungsproduktion kann sehr viel mehr Menschen pro Quadratkilometer versorgen, als die Nahrungssammlung. Jäger und Sammler wussten, wie sie ihre Bevölkerungszahl regulieren konnten und taten dies an vielen Orten für tausende von Jahren erfolgreich; die Bevölkerung wuchs dramatisch als Resultat der Agrikultur und war weniger ihr Grund. Eine weitere Theorie sieht den Klimawandel oder ein erhöhtes CO2-Niveau am Ende der letzten Eiszeit als Grund dafür, dass der alte Lebensstil sich nicht aufrecht erhalten ließ und dass den Menschen neue Pflanzen zur Verfügung standen68. Allerdings ignoriert dies die hohe Anpassungsfähigkeit der Jäger und Sammler, die vor der Eiszeit eine ganze Bandbreite verschiedener Ökosysteme bewohnt haben, und für die auf jeden Fall ein Übergang von einer Umwelt zur anderen viel weniger schwierig gewesen wäre, als der Übergang von der Nahrungssuche zur Landwirtschaft. Am lachhaftesten sind Erklärungen, die nahelegen wollen, dass wir die Idee der Aussaat von Samen erst kürzlich begriffen hätten: Sammlerkulturen haben ein hoch ausgereiftes Verständnis von Pflanzenreproduktion und Wuchsbedingungen.
Die Tatsache, dass die Agrikultur unabhängig an verschiedenen Orten auf der ganzen Welt aufkam, deutet auf ein natürliches Fortschreiten von früheren Technologien und Auffassungen, und nicht auf eine Fügung, ob nun durch einen Fehler oder eine großartige Erfindung, die genauso gut nicht hätte geschehen können. Die Agrikultur entstand unabhängig in Mesopotamien, in China – wahrscheinlich an zwei Orten – in Südamerika, in Zentralamerika, im Osten der Vereinigten Staaten und vielleicht in Neuguinea und südlich der Sahara in Afrika69. In der Tat waren die meisten Orte, an denen Versuche, eine Landwirtschaft zu entwickeln, scheiterten, solche, an denen es ein Mangel an domestizierbaren Pflanzen und Tieren gab. Mit wenigen Ausnahmen haben wir irgendwann Agrikultur entwickelt, wo immer es möglich war. Aus irgendeinem Grund war eine landwirtschaftliche Zukunft darin angelegt, wer wir in der Spätsteinzeit waren.
Unausweichlich oder nicht, die Agrikultur war keine plötzliche Erfindung, sondern eine allmähliche Konsequenz einer Serie fortschreitender Entwicklungen, die eine graduelle Verschiebung der menschlichen Einstellungen zur Natur markierte. Auch wenn wir in unserer üblichen dualistischen Auffassung versucht sind, die Agrikultur als eine Erfindung, einen epochalen Wandel zu sehen, beschreibt Jared Diamond ihren Ursprung als graduellen, schrittweisen Übergang vom Lebenstil der Jäger und Sammler. Zuerst sind nomadische Jäger und Sammler vielleicht bloß den Herden der Vorfahren heutiger Rinder, Schafe und so weiter gefolgt. Über mehrere Generationen begannen diese frühen Hirten, den Tieren in schwierigen Zeiten Nahrung und Schutz zu bieten, worauf sich die Tiere dann mehr und mehr verließen. Pflanzungen mögen begonnen haben als eine bloße weitere Verstreuung von Samen und die Entfernung im Wettbewerb stehender Pflanzen, um bevorzugten Nahrungsmitteln einen besseren Start zu geben, vielleicht gefolgt von Monaten nomadischer Wildsammlung. Schließlich begannen diese Pflanzen ebenfalls von der Hilfe der Pflanzer abzuhängen, ob nun durch beabsichtigte Züchtung oder durch unbewusste Koevolution. Wie dem auch sei, die domestizierte Maispflanze kann sich ohne menschliche Hilfe nicht vermehren, noch hätte das Haushuhn große Überlebenschancen in der Wildnis.
Nachdem die Domestizierung erst einmal begonnen hatte, gab es wegen der sehr viel höheren Bevölkerungsdichte, die sie erlaubte, keinen Weg zurück. Agrikultur, der Archetyp der menschlichen Kontrolle über die Natur, erzeugt Unabhängigkeit und die Notwendigkeit für immer weiter sich steigernde Kontrolle – über Land, Menschen, Pflanzen und Tiere – da die Bevölkerung immer weiter wächst.
Gleichlaufend mit dem allmählichen Wechsel zur Agrikultur geschah eine Transformation der menschlichen Einstellungen gegenüber der Natur. Die Jagd stimmt überein mit einer Sicht auf andere Tiere als Seinesgleichen. Letztendlich funktioniert die Natur auf diese Weise – die einen essen, die anderen werden gegessen – und der menschliche Jäger tut nichts anderes, als die tierischen Jäger. Die Zähmung etabliert eine Hierarchie in der zwischenartlichen Beziehung, da der Mensch der Herr und Meister über die Tiere wird. Verständlicherweise wird diese Beziehung dann auf die gesamte Natur projiziert, die damit als Ganzes zum Objekt der Zähmung und Kontrolle wird. Aber wir müssen auch bedenken, dass die Innovation der Tierdomestizierung vielleicht überhaupt nicht stattgefunden hätte, bevor nicht die Natur zuerst als Objekt konzeptualisiert worden wäre. Die Lösung zu diesem Huhn-Ei-Problem liegt in der embryonischen Trennung in Selbst und Anderes, die allen Lebensformen zueigen ist und die bis in vormenschliche Zeiten zurückreicht. Domestizierung repräsentiert bloß ihre Kristallisierung in eine neue Phase: eine Zeitlupengestalt, die auch alle anderen Elemente der Trennung einschließt, die wir in vorangegangenen Abschnitten behandelt haben.
Die neue Naturbeziehung der Bauern brachte eine neue Konzeption des Göttlichen hervor. So wie die Landwirtschaft und andere Technologien die Menschen von der Natur entfernten, so wurden auch die Götter mehr übernatürliche als natürliche Wesenheiten. Der Prozess war ein allmächlicher, beginnend mit den altertümlichen Pantheons, die sehr mit natürlichen Kräften identifiziert wurden. Schleichend entwickelte sich diese Identität in Herrschaft, indem die Götter aus der Natur herausabstrahiert wurden, was schließlich im Newtonschen vollkommen vom irdischen Bereich getrennten Gott als Uhrenmacher mündete. Zur gleichen Zeit, als wir den Kontakt mit den Harmonien und Zyklen der Natur verloren, nahmen die Götter den launenhaften Charakter an, wovon das Grieschische Pantheon und das alte Testament Beispiele geben. Entsprechend mussten die Götter mit Geschenken und Opfern besänftigt werden, eine Praxis, die wir in den meisten Bauern- und Hirtenkulturen finden, nicht aber unter Jägern.
Der grollende Gott, der mit den frühen Zivilisationen aufkam, ist ebenso mit dem Konzept von Gut und Böse und dem Konzept der Sünde verbunden. Getreide ist gut, Unkraut ist böse. Bienen sind gut, Heuschrecken böse. Schafe sind gut, Wölfe sind böse. Technologie überwindet Natur, indem es das Gute befördert und das Böse kontrolliert – wie in der Natur, so auch in der menschlichen Natur. Das Selbst wird unterteilt in einen guten und einen bösen Teil, und letzteren überwinden wir durch die kontrollierenden Techniken der Kultur.
Während Jäger und Sammler sich leicht an alle Widrigkeiten des lokalen Klimas anpassen konnten, waren die Bauern der Gefahr von Trockenheit, Hagel, Plagen und anderen Bedrohungen für eine erfolgreiche Ernte ausgesetzt. Während die Ressourcen der Jäger und Sammler nahezu unbegrenzt und ihre Bevölkerungszahlen recht stabil waren, mussten bäuerische Gesellschaften Hungersnöte, Epidemien und Kriege über sich ergehen lassen, die ganze Populationen dezimierten und sich jedem Versuch der Verhinderung entzogen. Hier gab es also eine Quelle fortwährender, unausweichlicher Angst, die fest in das Gewebe des Lebens selbst eingeflochten waren. Es ist egal, wie erfolgreich die diesjährige Ernte war, was ist mit dem kommenden Jahr? Diese Angst war auch die Motivation für die Schaffung eines gewachsenen Verständnisses und der Kontrolle, die durch Wissenschaft und Technologie repräsentiert wird. Verknappung und die Bedrohung durch Verknappung ist der Grund des Versuchs der Naturbeherrschung. Angesichts der Verknappung um die besten Plätze ringend, ertragen wir eine endlose Intensivierung des Wettbewerbs, der eingebaut ist in unser Geldsystem, unser Verständnis der Biologie und unsere Annahmen zur menschlichen Natur.
Während die Agrikultur die Produktivität der Natur für (menschliche) Nahrung erhöht hat, verdanken wir ihr paradoxerweise auch das gegenwärtige Konzept von Arbeit. Nahrung gab es plötzlich in größerer Fülle, aber sie war auch schwieriger zu bekommen. Mit der Landwirtschaft mussten wir heute arbeiten, um morgen Nahrung zu erhalten – ein Paradebeispiel des technologischen Paradoxons, welches uns, trotz seiner motivierenden Ziele wie Muße, Komfort und Sicherheit, an den Abgrund der Katastrophe geführt hat.
Da sie die Natur von ihrem Ruhezustand abzuhalten versucht, erfordert Landwirtschaft Anstrengung. Ich brauche nicht zu arbeiten, um Disteln, Kletten und Gras in meinem Garten wachsen zu lassen, weil es das ist, wozu diese 100 qm natürlicherweise tendieren. Aber um Kohl, Mohrrüben und Knoblauch wachsen zu lassen, muss ich eine ganze Reihe verschiedener Arbeiten verrichten – Unkraut jäten, Zäune errichten, um Kaninchen draußen zu halten, usw. Das Sprichwort, dass wir nur ernten, was wir säen, gibt es erst seit der Agrikultur. Davor konnten wir ernten, ohne zu säen: die Natur war im tiefsten Wesen eine Versorgerin. Für den Jäger und Sammler erfordert die Vorsehung der Natur wenig Arbeit oder Planung, sondern nur ein Verständnis für die natürlichen Kreisläufe und Muster. Primitives Überleben ist eine Frage der Initimität und nicht der Kontrolle.
Die Ankunft der Agrikultur beschleunigte den Niedergang der Schenkmentalität, die die Jäger-und-Sammler-Gesellschaften charakterisiert. Während diese Wild und Früchte als Geschenk der Erde begreifen, neigt der Bauer dazu, sie als Lohn der Arbeit anzusehen, und es ist immer sein Ziel, diesen Lohn weiter zu seinem Vorteil auszuschöpfen. Das Auskommen ist nicht länger etwas, das die Welt frei zur Verfügung stellt. Wo der Jäger und Sammler Teil des Geschenknetzwerks ist, das wir Ökologie nennen, da grenzt der Bauer sich selbst von diesem Netzwerk ab und versucht, alles benötigte daraus zu extrahieren. Folglich nennt Daniel Quinn die Jäger und Sammler „Lasser“ und die bäuerischen Gesellschaften „Nehmer“70, obwohl vielleicht „Geber“ ein besseres Wort für erstere wäre. Schließlich manifestierte sich die neue Beziehung des Nehmens und Tauschens auch zwischen den Menschen und bereitete so den Boden für den Aufstieg von Geld und Besitz.
Wenn wir Anstrengung aufbringen müssen, um ein Auskommen aus dem Land zu erwirtschaften, neigt die Beziehung der Menschheit zur Natur zur Gegnerschaft. Das Land tendiert naturgemäß zu Unkräutern, Ungeziefer und im Allgemeinen zu einem weniger produktiven Grundzustand. Mit den Technologien der Agrikultur suchen wir, dies zu verhindern. Die Frontlinien sind gezogen. Heute versuchen wir, nachhaltiger zu leben, doch ist die oppositionelle Sicht auf die Natur, die viele Umweltaktivisten für die zerstörerischste Kraft auf unserem Planeten halten, eingebaut in den Ursprung der Zivilisation – die Agrikultur. Was können wir sonst erwarten von einer Technologie, die darauf gegründet ist, die Prozesse der Natur aufzuhalten oder umzukehren? Folglich muss das Ende des Krieges gegen die Natur einen vollkommen anderen Zugang zur Technologie wählen; nicht bloß bessere Planung, weniger Unfälle, mehr Voraussicht und engere Kontrolle.
Die Agrikultur schuf unsere Konzeption von der Erde als Ressource oder Vermögen, die hauptsächlich durch ihre Produktivität definiert wird. Das Land verlor allmählich seinen intrinsischen Wert – seine Heiligkeit – und nahm einen extrinsischen, bedingten Wert an, der danach bemessen wurde, was es zu produzieren vermochte. Zum ersten Mal gab es so etwas wie gutes Land und schlechtes Land. Der Übergang geschah sehr langsam und schritt jedesmal voran, sobald uns die nächste technische Neuerung weiter von den natürlichen Kreisläufen entfernte. Der primitive Bauer hat immer noch eine große Nähe zum Land, selbst da er davon weniger vollständig umarmt wird als der Jäger und Sammler. Jeder neue technische Fortschritt befreite uns von einer weiteren natürlichen Begrenzung und kulminierte in der modernen, industriellen Monokultur, bei der mit den richtigen Zutaten fast alles auf jedem Land wachsen kann. Selbst eine Wüste kann zum Blühen gebracht werden.
Es wird allerdings mehr und mehr offensichtlich, dass natürliche Kreisläufe nur vorübergehend ignoriert werden können. Ihre Störung hat Konsequenzen, die durch eine Reihe technischer Lösungen verschoben, die aber niemals für immer verneint werden können. Wüsten können zum Blühen gebracht werden, ja, aber nur mit wachsenden Kosten und nicht für immer. Eines Tages wird sie zu ihrem natürlichen Zustand zurückkehren. Darüber hinaus verstärken sich die Konsequenzen der Störung natürlicher Kreisläufe, je länger sie aufrecht erhalten wird. Die gegenwärtig fortschreitende Wüstenbildung großer landwirtschaftlicher Flächen gibt Zeugnis von der Unmöglichkeit, natürliche Prozesse für immer aufzuhalten, und vom Ernst der Konsequenzen bei dem Versuch. Es ist, als könnte die Wüste nicht geleugnet werden.
Die Bewertung von Land gemäß ihrer produktiven Funktion und nicht gemäß ihrer innewohnenden Heiligkeit führt sich fort in der menschlichen Gesellschaft in Form der Arbeitsteilung. Mit der Agrikultur begannen wir, die Menschen durch ihre Funktion zu unterscheiden – Bauer, Soldat, Schmied, Maurer, Priester, König – auf eine Art, wie dies vorher nie versucht wurde. Sicherlich gab es Häuptlinge und Schamanen in vorlandwirtschaftlichen Gesellschaften, aber mit wenigen Ausnahmen waren sie nicht ausgenommen von der Jagd und von der Nahrungssammlung. Sie spezialisierten sich nicht, indem sie Nahrung für ihre Leistungen eintauschten. In landwirtschaftlichen Gesellschaften wurden die Menschen mehr und mehr definiert im Sinne standardisierter funktionaler Klassifikationen, ein Trend, der ebenfalls befördert wurde durch den anonymisierenden Effekt der riesigen Bevölkerungszuwächse, die die Landwirtschaft gestattete.
Mit der Agrikultur tauchte eine neue Kategorie von Mensch auf: der Fremde. Davor lebten die Menschen in Stämmen von höchstens 500 Mitgliedern mit Gruppen von je etwa 15-20 Angehörigen. Es ist nicht schwer, 500 Leute mit Namen und Gesicht zu kennen, vor allem nach einem Leben mit häufigen Verbindungen, aber darüber hinaus werden Verwandtschafts- und Stammesbeziehungen schwer einzuschätzen sein, und einige Menschen fallen notwendigerweise in die Kategorie „Andere“.
In einer Gruppe oder einem Stamm von Jägern und Sammlern oder selbst in einem steinzeitlichen Dorf waren wir nahezu jedem vertraut, mit dem wir jemals zu tun hatten. Unsere Bekannschaften verkörperten auf kollektive Weise ein integriertes Netz von Beziehungen, von denen wir unsere Identität ableiteten, unser Gefühl vom Selbst. Wir antworteten auf die Frage „Wer bin ich“ durch die Beziehungen mit Menschen, die uns sehr gut kennen, als einzigartige Individuen. Aber als das Maß der Gesellschaft sich erweiterte, wurden diese persönlichen Beziehungen verdrängt von solchen, die durch Handel, Gesetz und Religion bestimmt waren. Entsprechend begann das Selbstkonzept, sich auch auf diese Strukturen zu beziehen, die durch ihre Wesen anonym und unpersönlich sind.
Beziehungen in primitiven Gesellschaften werden geleitet durch Verwandtschaftsstrukturen, die jeder Person eine Platz im Verhältnis zur anderen Person zuweisen. Wenn die Gesellschaft an Größe bis zu dem Punkt zunimmt, wo zwei Menschen sich fremd sind, unfähig sich gegenseitig in die entsprechende Konstellation des Selbst einzuordnen, dann entsteht ein ernstzunehmendes Potential für Konflikte. Bei Abwesenheit einer Struktur von bekannten Beziehungen wird irgendeine Art der unpersönlichen Regierung benötigt. Denn, wenn jemand nicht „selbst“ ist, ist er ein potentieller Gegner, dessen Interessen mit den unsrigen unvereinbar sein könnten. Praktisch gesprochen: Wenn jemand fremd ist, gibt es keinen Grund, ihn nicht zu betrügen. Da er nicht mit unserem eigenen sozialen Netzwerk verbunden ist, werden die Konsequenzen womöglich nie auf einen zurückfallen. Deshalb ergibt sich die Notwendigkeit für irgendeine Art von oben auferlegter regulatorischer Struktur.
Wenn sich Jäger und Sammler aus verschiedenen Gruppen im Wald über den Weg laufen, beginnen sie sofort eine dringliche und oft sehr langwierige Unterhaltung darüber, wen sie aus der anderen Gruppe kennen, um ihre Beziehung zu identifizieren. Schließlich stellen sie fest, dass einer der Cousin der Schwägerin eines Neffen von jemandes Schwager aus der anderen Gruppe ist und passen sich so gegenseitig in dieselbe Konstellation von Selbst ein. Überbleibsel dieses Verhaltens sind auch heute noch offensichtlich, wenn zwei Fremde miteinander sprechen: „Du warst in Taiwan? Hey, ich hatte einen Klassenkameraden aus Taiwan – kennst du vielleicht den-und-den?“
Wenn Begegnungen zwischen Fremden häufig sind, dann wird irgendeine Form der Regulierung notwendig, die nicht auf ihrer einzigartigen Beziehung als Individuen beruht, sondern auf standardisierten Prinzipien: „Alle Menschen sind vor dem Gesetze gleich.“ Gesetze in Form expliziter Kodizes gibt es nicht bei vorgesellschaftlichen Völkern, noch sind sie notwendig. Mit der wachsenden Anonymität der modernen Gesellschaft und der Tatsache, dass wir Fremde dafür bezahlen, mehr und mehr unserer Lebensfunktionen zu erfüllen, ist es kein Zufall, dass die Gesetze immer weiter in jeden Winkel des Lebens hineinreichen. Streitfälle die noch vor einer Generation informell beigelegt wurden, werden heute häufig im Sinne geschriebener Gesetze verhandelt. In der Tat würden wir uns ohne irgendeine Art formaler Standards unsicher fühlen, da wir buchstäblich der Gnade Fremder ausgeliefert wären. Diese Entwicklung ist eine notwendige Folge der Entfremdung und Depersonalisierung, die mit der Agrikultur begann.
Die Arbeitsteilung brachte eine neue Art der Angst in das Leben der Menschen, die in folgender Idee wurzelt: „Du hast zu arbeiten, um zu überleben.“ Sammelnde Völker haben sich mit verschiedenen Künsten und Handwerken beschäftigt, die über die bloße Notwendigkeit zum Überleben hinaus gingen – z.B. der Bau von Musikinstrumenten – und es gab sicherlich auch eine Differenzierung von Fähigkeiten und Fertigkeiten zwischen ihnen. Aber Nahrung war immer zum Greifen nahe, erhältlich ungeachtet vorheriger Planung oder Nichtplanung. Typischerweise loben wir die landwirtschaftlichen Überschüsse, weil sie „den Nicht-Bauern befreien, um sich in anderen Fähigkeiten zu spezialisieren“, und lassen dabei außer acht, dass der Nicht-Bauer, da ihm die Mittel zur eigenen Nahrungserzeugung fehlen, ein Sklave seiner Spezialisierung wird. Freiheit ist Sklaverei. Kunst wurde zum Beruf, und ihr Produkt wurde eine Ware. Arbeit ist nichts anderes als geschmälerte, degradierte und entwurzelte Kunst. Getrieben durch wirtschaftliche Notwendigkeit – ein Schlagwort des Überlebens – können wir nicht mehr arbeiten in „Anfällen und abbrechenden Anfängen, so dass die gelegentlichen Anstrengungen ... für eine gewisse Zeit eine bemerkenswerte Energie freisetzen71.“ Schlimmer noch, die Kunst, die im Interesse der Wirtschaftlichkeit geschaffen wird, ist nicht länger Kunst, denn dafür ist gut genug eben gut genug. Warum sollte man etwas besser machen, wenn es anonym getauscht wird für Nahrung oder Geld, wenn es dem „Anderen“ übergeben wird?
In den frühen Tagen war solcher Handel nicht gänzlich anonym. Geld verdrängte nur zum Teil andere Formen des Austauschs, und die meisten menschlichen Interaktionen fanden nicht mit Fremden statt. Darüber hinaus war das Leben des Subsistenzbauern immer noch intim verbunden mit den Kreisläufen der Natur, vermählt mit der Scholle und beständig nur durch Wissen und Respekt für die Gesetze der Natur, die es mit den der Jägern und Sammlern durchaus aufnehmen konnte. In der Tat bringt das Gärtnern uns moderne Menschen der Natur viel näher und entfernt uns nicht davon. Aber sobald der Aufstieg der Agrikultur begann, baute er auf sich selbst auf: Technologie schritt voran, die Bevölkerung wuchs, das Regime der Kontrolle intensivierte sich und die konzeptuelle Zweiteilung von Mensch und Natur weitete sich aus. Schließlich vervollständigte die Institution der Maschine, die in die Industriellen Revolution gipfelte, die Degradierung der Arbeit von ihrer ursprünglichen Identität mit der Kunst zu ihrer gegenwärtigen Form der Sklaverei.
68 Siehe z.B. bei Sage, R.F., 1995, ”Was low atmospheric CO2 during the Pleistocene a Limiting Factor for the Origin of Agriculture?”Global Change Biology, Bd. 1, S. 93-106
69 Diamond, Guns, Germs, and Steel, S. 99. Die Unausweichlichkeit der Agrikultur, die unabhängig an allen Orten entstand, an denen es domestizierbare Pflanzen gab, ist ein Hauptthema in Diamonds Buch.
70 Quinn, Daniel. Ismael. Goldmann, 1994.
71 Gusinde, Martin. The Yamana, Human Relations Area Files, 1961. S. 27, zitiert von Sahlins, S. 28.
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