Der Aufstieg der Menschheit von Charles Eisenstein
Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters
Lewis Mumford definiert eine Maschine als eine „Kombination widerstandsfähiger Teile, jedes von ihnen in seiner Funktion spezialisiert, die unter menschlicher Kontrolle steht, um Energie in Arbeit umzuwandeln72“ und liefert das überzeugende Argument, dass die ersten Maschinen nicht aus Metall oder Holz, sondern aus Menschen gebaut war. Allerdings handelte es sich um eine „unsichtbare“ Maschine, wegen der räumlichen Trennung ihrer menschlichen Komponenten. „Obwohl sie aus menschlichen Knochen, Nerven und Muskeln gemacht war, waren ihre Teile reduziert auf ihre bloßen mechanischen Elemente und rigide standardisiert für die Erreichung ihrer begrenzten Aufgaben.“ Die Produkte dieser Proto-Maschinen sind noch heute sichtbar, am berühmtesten sind wohl die Ägyptischen Pyramiden.
Die Maschine ermöglichte eine neue und tiefgreifende Ausweitung des menschlichen Ehrgeizes, die Natur zu dominieren, unterzuordnen und schließlich zu überwinden. Die Agrikultur bereitete den Boden für diesen Ehrgeiz, das ist wahr, aber in dem Unmfang eines primitiven Bauerndorfes oder Hirtenstammes, produzierten die Menschen nichts wirklich Neues unter der Sonne. Sogar Ameisen beschäftigen sich mit der Landwirtschaft, und alle Kreaturen entwickeln symbiotische Partnerschaften mit anderen Spezies. Die Agrikultur nährte die Mentalität der Dominanz und legte das Fundament für die Arbeitsteilung, und es ist diese Entwicklung, die die Menschheit zu einer neuen Naturgewalt machte, oder vielleicht Außernaturgewalt. In den Pyramiden liegt der Beweis, dass Menschen übermenschliches – d.h., gottgleiches – leisten konnten, wie etwa die Errichtung eines Berges; besser noch, als ein Berg, ein geometrischer Körper von perfekter Präzision.
New-Age Pyramidologen, die denken, die alten Megalithen müssen Zugang zur Technologie außerirdischer oder atlantischer Zivilisationen gehabt haben, liegen in einem Belang richtig: nur mit der Denkungsart und der Methode einer maschinisierten Zivilisation konnten sie gebaut werden. Ja, die Pyramiden wurden mit Maschinen gebaut – Maschinen, die nicht aus Metall oder Holz gemacht waren, sondern aus Menschen, versorgt durch die Überschüsse der Schwemmlandagrikultur und geformt zu standardisierten Teilen, die eine jede Maschine benötigt, durch die Prägungen einer Zivilisation. Die Spezialisierung der Arbeit im alten Ägypten war beeindruckend selbst für moderne Begriffe: Tagebau-Expeditionen beschäftigten allein über fünfzig verschiedene Gattungen von Verwaltern und Arbeitern73.
Wahrlich, nur eine Maschine könnte eine Struktur errichten, die fast 160 Meter hoch ist und aus fünfzig Tonnen schweren Blöcken besteht, die aus fernen Steinbrüchen angeliefert werden. „Steinquader mit erstaunlicher Kantenlänge wurden zusammengesetzt mit Fugen von weniger als einem Hundertstel Millimeter; während die Ausdehnungen der Seiten an der Basis sich nur um 20 Zentimeter unterscheiden in einer Struktur, die ganze Hektar einnimmt74.“ Die Basis der Cheopspyramide is nur einen Zentimeter aus der Waagerechten, und die Kanten sind in nahezu perfekter Ausrichtung zum wahren Norden, Süden, Westen und Osten. „Kurz, Präzisionsmessung, genormte mechanische Präzision und fehlerlose Perfektion sind kein Monopol des modernen Zeitalters75.“ Die enorme physische Energie, um diese Aufgabe zu erfüllen, die Spezialisierung der Funktionen, die Koordination der Teile und die benötigte sozio-technologische Infrastruktur sind die Erkennungsmerkmale Der Maschine.
Weil der Gebieter einer solchen Maschine gottgleiche Wunder vollbringen konnte, ist es kein Wunder, dass in alten Zivilisationen von Ägypten über China bis Mittelamerika, dem König gottgleicher Status zukam. Die alten Megalithkulturen waren der Beweis, dass der König von den gewöhnlichen Beschränkungen der Natur ausgenommen war. Wer, wenn nicht ein Gott, könnte Berge errichten oder den Lauf eines Flusses verändern?
Solange Menschen die Teile der Maschine bildeten, gehorchten diese göttlichen Kräfte, die Macht, die Natur zu überwinden, natürlich nur ihrem Gebieter, dem König. Aber später, nachdem neue Maschinen mit denselben Prinzipien und derselben Logik, wie die prototypischen Arbeitsmaschinen, gebaut wurden, formte sich in den Köpfen der Philosophen eine neue Möglichkeit: vielleicht wird eines Tages jeder ein König sein, mit der Verfügung über ein Äquivalent von hunderten oder tausenden Männerstärken. Zu der Zeit, als eine nach der anderen natürlichen Grenze überschritten wurde, entstand auch die Idee, dass wir alle in gewissem Sinne Götter sein könnten. Es ist erstaunlich, wie sehr die Eigenschaften der antiken griechischen Götter mit den Ambitionen des technologischen Utopia übereinstimmen: sie besaßen Unsterblichkeit, ewige Jugend und eine fehlerlose physische Erscheinung; sie konnten mit unglaublicher Geschwindigkeit durch die Luft fliegen; und sie besaßen die Herrschaft über die Prozesse der Natur. Wie schon angekündigt durch die halbgöttlichen Chinesischen Kaiser und die ägyptischen Pharaonen, streben wir heute durch unsere Technologie nach dem Status von Göttern.
Wie wir gesehen haben, war dieser Ehrgeiz schon implizit in dem Antrieb, das perfekte Bild zu erschaffen, als auch die Welt zu Repräsentationen – Namen und Zahlen – zu reduzieren, die der Kontrolle durch endliche Mittel zugänglich sind. Durch die Maschine erfuhren diese embryonischen Bemühungen, welche nichtsdestoweniger entscheidende Vorbedingung für die Entwicklung der mechanischen Technologie waren, eine enorme Beschleunigung. Vor der Sprache, der Zahl, der Zeit und anderen Formen symbolischer Repräsentationen hätte sich niemand überhaupt erst eine Maschine ausdenken können. Sie benötigte als konzeptuelles Fundament die Objektivierung der Welt und beschleunigte diese dann in ungeahntem Ausmaß.
Die Regularität, Standardisierung und funktionale Spezialisierung dieser Maschinen aus Fleisch und Blut stellten eine großen Schritt weg von der Natur dar, die keine dieser Qualitäten aufweist. Das weltweite Zeitalter der Erbauer bestätigte im Geist der Menschen, dass wir auf der Welt etwas besonderes waren, indem wir Werke schaffen und Methoden gebrauchen, die sonst nirgends anders in der Natur zu finden sind. Es ist wahr, dass dieser Paradigmenwechsel mit der ersten Steinaxt begann, die wir heute in gewissem Sinne als unnatürliches Objekt ansehen, aber Maschinen treiben die Abtrennung der Menschen auf eine qualitativ andere Ebene, indem sie Artefakte jenseits der menschlichen Möglichkeiten produzieren.
Folgende Jahrtausende sahen ein allmähliches Fortschreiten der Arbeitsteilung und damit auch der Komplexität der Megamaschine, die schon in alten Zeiten perfektioniert worden war. Zugtiere, Winden, Schrauben und Räder, Eisen und Stahl erweiterten allesamt unsere Möglichkeiten, die Natur zu dominieren, zu zerteilen und zu kontrollieren. Aber keine dieser Entwicklungen reduzierte auf irgendeine Weise die mechanische Struktur der Gesellschaft selbst, in welcher jedes Individuum nur ein „widerstandsfähiger, funktional spezialisierter Teil“ ist. „Resistent“ meint hier abgetrennt und „spezialisiert“ bezieht sich auf die durch die Agrikultur initiierte Arbeitsteilung. Damit eine Maschine rund und vorhersehbar läuft, müssen ihre Teile standardisiert und also ersetzbar sein. Das sind Eigenschaften, die ihrerseits zur modernen Depersonalisation und Angst beitragen. „Jede standardisierte Komponente ... war nur ein Teil eines Menschen, dazu verurteilt, nur einen Teil einer Aufgabe zu erfüllen und nur einen Teil des Lebens zu leben76.“ Und so wie das Reich der Maschinen – jene Aspekte des Lebens, die der spezialisierten Arbeitsteilung ausgesetzt sind – wächst, so verstärkt sich auch die Depersonalisation und Angst.
Heute hat sich das Reich der Maschine ausgedehnt und umschließt nahezu alles. Das System der Fabrik mit seiner Betonung auf der Standardisierung von Teilen und der Massenproduktion als Weg zur Effizienz findet weit über die eigentliche Güterfabrikation hinaus Anwendung. In Schulen beispielsweise erinnern die standardisierten Lehrpläne, trainierte Ausbilder und Produktklassifikation durch „Benotung“ an die Fabrik. Die Ähnlichkeit ist nicht zufällig – Schulen wurden von einigen der gleichen Effizienzexperten entworfen, die auch Fabriken konzipierten – und die Entmenschlichung ist ebenfalls dieselbe. Hier beginnt der Prozess, indem den Menschen mehr und mehr Zahlen zugeordnet werden, die uns schließlich als reine Datensätze definieren. Unterdessen wurden die Logik und die Methoden der Industrie auf das Land selbst angewendet und liefern es damit dem gleichen Effizienzzwang aus, womit letztendlich die Erde selbst als Fabrik angesehen wird.
Die Industrielle Revolution, die versprochen hatte, jeden Menschen zu einem König oder Gott zu machen, verschärfte auch die Trennung von der Natur. Während die altertümliche Megamaschine Arbeiten jenseits der individuellen menschlichen Leistungsfähigkeit gestattete, erlaubte die Dampfmaschine Arbeiten jenseits der biologischen Leistungsfähigkeit der Menschen und ermunterte damit zur Idee, die Menschen seien tatsächlich nicht Teil der Natur oder dass es unser Schicksal sei, uns über die Natur zu erheben. Die verbliebenen „nicht eroberten“ Bereiche der Natur, wie das Altern, der Tod, soziale Missstände und so weiter würden alsbald vor der unbändigen Gewalt der Wissenschaft, Technologie und Industrie kapitulieren, so wie all die anderen Beschränkungen zuvor. Dieses, das Technologische Programm also, erhielt seinen größten konzeptuellen Einfluss aus den manifest übernatürlichen Errungenschaften der industriellen Technologie. Kirkpatrick Sale sieht düstere Konsequenzen heraufziehen:
Stelle dir vor, was mit einer Kultur geschieht, wenn sie sich auf die Idee gründet, Begrenzungen zu überschreiten [...] und diesem Ansinnen einer nahezu globalen Zivilisation einen Tempel zu errichten. Es ist vorherzusehen, dass sie im Griff des technologischen Imperativs leben wird, unablässig gewidmet der Herstellung von Maschinen, um das Mögliche in Angriff zu nehmen. [...] Stelle dir dann vor, was mit einer Kultur geschieht, wenn sie tatsächlich die Mittel entwickelt, die Begrenzungen zu überschreiten und es dadurch möglich und also richtig zu machen, alte Gebräuche und Gemeinschaften zu zerstören, um neue Gesetze der Beschäftigung und Verpflichtung zu erschaffen, die die Produktion und den Konsum ausweiten, und um neue Mittel und Wege der Arbeit aufzuzwingen, und um die zentralen Naturgewalten zu kontrollieren oder zu ignorieren. Diese Kultur würde sicherlich für eine ganze Weile bestehen, machtvoll und expansiv und voller stolz, bevor sie sich den Wahrheiten stellen muss, dass sie auf einer Illusion gegründet ist und dass es wirkliche Begrenzungen in einer geordneten Welt gibt, soziale, ökonomische und auch natürliche, die nicht überschritten werden dürfen, Begrenzungen, die wichtiger sind als ihre Eroberungen77. |
Die Maschine gab uns also beides, sowohl das Vertrauen als auch die erforderlichen Mittel, die Überschreitung natürlicher Begrenzungen zu versuchen, wie die Babylonier aufzusteigen in den Himmel und sich die Mächte Gottes anzueignen. Abgesehen von Propheten, Dichtern und Ludditen78, haben wir erst in jüngster Vergangenheit begonnen, an diesem Programm zu zweifeln und auch nur, weil es so offensichtlich ins Stocken geraten ist. Ein Grund für sein Stocken wird in der Geschichte von Babel weisgesagt, in der ein Kauderwelsch gegenseitig nicht verständlicher Sprachen die weiteren Baumaßnahmen unmöglich macht. Entsprechend erzeugt die immer feinere Arbeitsteilung, die das ganze technologische Projekt erst ermöglichte, schließlich solche Schwierigkeiten, die Arbeit zu organisieren, solch ein Chaos, dass die Bemühungen unter ihrem eigenen Gewicht kollabieren. Das gleiche sehen wir in der Wissenschaft, wo Hyperspezialisierung viele Forschungsfelder untereinander vollkommen unzugänglich macht. Die Verständigung zwischen diesen Feldern wird unmöglich. Ein jedes schreitet bei der Lösung seiner eigenen, eng definierten Probleme voran, aber die Lösung systemübergreifender Probleme wird zunehmend hoffnungslos.
Das unmittelbare Ergebnis der dampfbetriebenen Industrie war nicht, jedermann zu einem Gott zu machen, sondern zu einem Sklaven. Für der Arbeiter bedeutete die Überschreitung der biologischen Begrenzungen die Unterordnung der Rhythmen von Fleisch und Blut unter den Rhythmus der Maschine: niemals müde, hungrig oder erschöpft. Kirkpatrick Sale beschreibt dies so: „Die Aufgabe des Fabrikbesitzers war es sicherzustellen, dass die Arbeiter diszipliniert werden, um den Erfordernissen der Maschinen gerecht zu werden, durch Menschendressur, um ihren halbherzigen Arbeitsgewohnheiten zu entsagen und um sich mit der nimmermüden Regelmäßigkeit des komplexen Automaten zu identifizieren.79“ Die Fabrik markierte, wenn nicht den Beginn, so doch einen Schlüssel zur Beschleunigung der modernen Arbeitauffassung, einer Auffassung, zu der wir uns durch Verneinung von „halbherzigen“ biologischen Impulsen disziplinieren müssen. Arbeit wurde zur Mühsal, notwendigerweise wiederholend und gleichförmig wie die maschinellen Funktionen, denen sie diente.
Was für die Arbeit galt, galt auch für die Produkte. Wenn die frühen kulturellen Technologien der Benennung und der Zählung die Gleichgestalt ihrer Objekte nahelegte, so versuchte die Industrie diese durch ihre Betonung auf Standardisierung und Uniformität des Produkts zu verwirklichen. Mit wenigen Ausnahmen sind natürliche Objekte einzigartig und variabel. Die Industrie suchte das Gegenteil, die unnatürliche Uniformität ihrer Produkte, und verstärkte damit die Trennung zwischen Mensch und Natur. Zusammen mit dieser massenhaften Gleichförmigkeit kam die Auflösung lokaler Unterschiede, da die Menschen überall begannen, die gleichen Produkte zu essen, anzuziehen und zu gebrauchen und die gleiche Arbeit zu verrichten. Wir sehen diesen Prozess in der Homogenität der Amerikanischen Landschaft des 21. Jahrhunderts gipfeln: dieselben Straßen, Häuser, Geschäftsfilialen, Tankstellen, Riesenkaufhäuser und Shoppingmalls, die nach den Worten Jane Holtz Kays die „Landschaft der Autobahnabfahrt80“ ausmachen.
Die Industrie führte die Reduktion der Natur zuende, die auf der psychologischen Ebene mit der symbolischen Kultur begann und dann durch die Agrikultur auf das Land übertragen wurde. Während diese früheren Entwicklungen die Welt zu einem Objekt reduzierten, verwandelte die Industrie das Objekt zur Ware, Zeit zu Geld und den Menschen zum Konsumenten. Die ganze Welt wurde mit anderen Worten umgewandelt zu Geld – das Extrem an Anonymität, Abstraktion und Gleichförmigkeit – eine Geschichte, die ich in Kapitel IV aufgreifen werden.
Gibt es also keine Hoffnung, außer den ganzen Lauf der Spezialisierung ungeschehen zu machen und zu einer Gesellschaft ohne Arbeitsteilung zurückzukehren? Gibt es keine Wahl, als alle Technologie, die darauf beruht, aufzugeben? Ich möchte euch nicht auf einer Nachricht der Verzweiflung sitzen lassen. Erlaubt mir also, eine kleine Vorschau auf ein späteres Kapitel anzubieten. In der Tat gibt es ein System, im welchem Spezialisierung nicht zu einer Reduzierung des Individuums führt, sondern zu seiner Erfüllung. Das Modell für ein solches System sitzt in deinem Stuhl – es ist die Gesellschaft von Zellen, die einen menschlichen Körper ausmachen. Die Organe einer solchen Gesellschaft sind schon im Entstehen begriffen, und es ist diese organische oder ökologische Gesellschaft, die schon bald die sterbende Zivilisation der Maschine ablösen wird.
72 Lewis Mumford, ’Mythos der Maschine. Kultur, Technik und Macht.’ Europaverlag: Wien, 1974.
73 Mumford, The Myth of the Machine: Technics and Human Development, S.193.
74 ebd., S. 196.
75 ebd.
76 ebd., S. 212
77 Sale, Kirkpatrick, Rebels Against the Future, Addison Wesley Publishing Company, 1996, S. 59
78 Protest-Bewegung der Maschinenstürmer, benannt nach Ned Ludd, der nach einem Aufstand der Textilarbeiter 1811/1812 in Nottingham zum Tode verurteilt wurde. [Anm. d. Übers.]
79 ebd., S. 36
80 Kay, Jane Holtz. Asphalt Nation. University of California Press, 1998, S. 55.
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