Der Aufstieg der Menschheit von Charles Eisenstein

Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters

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Inhaltsverzeichnis:


Das spielerische Universum

Eternity is in love with the productions of time.
– William Blake

John Zerzan hat geschrieben: „Mit der symbolischen Kultur und der Arbeitsteilung haben wir einen fatal falschen Weg genommen, von einen Ort der Verzauberung, des Verständnisses und der Ganzheit zur Abwesenheit, die wir im Herzen der Fortschrittsdoktrin finden. Leer und entleerend zeigt uns nun die Logik der Zähmung mit ihrer Erfordernis, alles zu kontrollieren, den Ruin der Zivilisation, die den ganzen Rest ruiniert. Wenn wir die Minderwertigkeit der Natur voraussetzen, erlaubt uns dies die Herrschaft des kulturellen Systems, welches bald die Erde selbst unbewohnbar machen wird.86

Zerzans eloquentes Klagelied ist in jedem Detail zutreffend, bis auf eines: die symbolische Kultur und Arbeitsteilung war kein „fatal falscher Weg“, sondern, wie ich in diesem Kapitel dargelegt habe, vielmehr die Richtung, in die wir die ganze Zeit schon unterwegs waren. Und das erschiene eigentlich noch schlimmer! Wenn keine schlechte Entscheidung, die im Grunde korrigierbar wäre, ist dieser lange Sturz von der „Verzauberung, dem Verständnis und der Ganzheit“ einfach der Weg des Universums? Sind wir für den Ruin, die Verzweiflung und die Auslöschung bestimmt? Oder ist dieser Abstieg eine Phase eines größeren Musters oder Prozesses?

Im Jahre 1938 vertrat der Historiker Johan Huizinga das Konzept des „Homo ludens“, des spielerischen Menschen, in direktem Gegensatz zur zeitgenössischen Anthropologie, die das frühe Verhalten und die Entwicklung des Menschen nahezu einmütig mit einem Überlebenskampf unterlegt. Huizinga schlägt vor, dass Spiel und nicht Kampf das formende Element in der kulturellen Entwicklung war, denn es war die kreative, innere Welt des Als-ob, mit der wir die nachfolgende Transformation der äußeren Umgebung einstudieren.

Er hätte das Konzept des Homo ludens noch über den menschlichen Bereich hinaus erweitern können, um das ganze Leben einzuschließen, denn das Spiel ist keinesfalls ausschließlich dem Menschen vorbehalten – eine Tatsache, die jedem offensichtlich ist, der je einen Hund oder eine Katze hatte. Und es sind auch nicht nur Haustiere, die Verspieltheit zeigen, sondern auch wilde Tiere. (Ich möchte den Leser auf Tom Browns fesselnde Beschreibung des Spiels mit wilden Tieren in seinen Büchern „Der Fährtensucher“ und „Das Wissen der Wildnis“ verweisen.)

Die Funktion des Spiels ist im Darwinschen Sinne sehr schwer zu erklären, da es offenbar Energien abzieht, die zur Maximierung von Überlebens- und Reproduktionschancen verwendet werden könnten. Individuen, die genetisch auf Spiel programmiert sind, wären in einem Wettbewerbsnachteil gegenüber denen, die ihre ganze Energie für Nahrungssammlung, Paarung und so weiter verwenden. Wenn man sich dem Thema Spiel überhaupt zuwendet, würden wir sehr gezwungene Versuche erwarten, es im Sinne von Paarungsritualen, Dominanz, Jagdübung oder von anderen Fähigkeiten zu erklären oder vielmehr wegzuerklären. Die Alternative, dass das Leben natürlicherweise spielerisch, gemütlich und fröhlich ist, passt einfach nicht in unsere grundlegende Auffassung darüber, was Tierverhalten motiviert.

In unserer eigenen Kultur wird das Spiel typischerweise als Domäne der Kinder angesehen. Die puritanische Tendenz in unserer Kultur sieht es als Luxus oder eine Schwäche an, die man Kindern in kleinen Rationen wohl einräumen kann, solange sie ihre „Arbeit“ (Schule, Hausaufgaben, Klavierunterricht, Hausarbeit usw.) erledigt haben. Am toleranteren Ende des Spektrums geht das Spielen in Ordnung, solange es nur einen „Erziehungswert“ hat: deshalb die zahlreichen Spielzeuge und Spiele, die versuchen das Alphabet, Zahlen oder andere „kognitive Fähigkeiten“ einzuschmuggeln. Um die Darwinsche Erklärung des Tierspiels als Mittel zur Schärfung von Jagdfähigkeit zu wiederholen, ist das Spiel gut, weil es eine Übung für das Leben bedeutet. Das Spiel nur um des Spieles Willen ist Zeitverschwendung – eine Ansicht, die auf der Annahme beruht, „der Sinn des Lebens sei das Überleben“, einer Annahme, die der modernen Wissenschaft und Ökonomie zugrunde liegt. Den letztendlich ist jede mit dem Spiel verbrachte Minute eine verpasste Gelegenheit, im Leben voranzukommen.

Wie dem auch sei, schließlich werden wir erwachsen, und es gibt keine Zeit mehr für das Spiel. Nun beginnt das trübe Geschäft des wahren Lebens. Ach ja, vielleicht können wir es uns „leisten“ in unserer „Freizeit“ zu spielen; das heißt, die Zeit, die uns bleibt, nachdem wir die Anforderungen des Überlebens erfüllt haben. Aber solange wir nicht extrem wohlhabend sind, glauben wir, der Großteil unserer Zeit und Energie müsste in die Arbeit fließen.

Vielleicht ist die Wahrheit eine ganz andere. Statt dass die Jugend die Zeit für das Spiel ist, ist vielleicht das Spiel das, was uns jung hält. Vielleicht ist der grenzenlose freie Fluss kreativen Ausdrucks das, was uns physisch und mental rege hält, wie ein Kind. Wenn wir versuchen, es zu kontrollieren, es zu begrenzen, es dem Akzeptablen und Sicheren zu verpfänden, dann strahlen diese Grenzen selbst wieder zurück auf unseren Körper und Geist und lassen beiden nur noch einen stark begrenzten Raum für Bewegung, die sich mit der Zeit versteift.

Lassen wir uns einmal die Arbeit-Spiel Dualität in Frage stellen. Ziehe die Möglichkeit in Betracht, dass das Spiel der Kinder eine Übung ist, ja – aber Übung für das Spiel der Erwachsenen und nicht die Arbeit der Erwachsenen. Denn in der Tat sind die gleichen Qualitäten, die das Kinderspiel charakterisieren, auf die kreativsten und produktivsten Aktivitäten der Erwachsenen anwendbar. Das Kinderspiel ist eine Übung zur Erforschung von Grenzen, zur Lockerung von Hemmungen der Kreativität, zum kreativen Dialog mit der Umgebung, zur Neuerfindung der Welt, wie sie sich uns darbietet. Das Spiel ist nicht zu einem festgelegten Ende verpflichtet, sondern es erlaubt dem Ende durch den Prozess selbst spontan zu entstehen. Spiel erfordert keine Willenskraft, um die Aufmerksamkeit zu binden und unsere natürlichen Bedürfnisse zu überwinden; es ist manifestes natürliches Bedürnis. Wenn wir spielen, sind wir gewillt, Dinge auszuprobieren ohne die Garantie, dass sie irgendwann brauchbar oder von Wert sind; doch paradoxerweise produzieren wir in Augenblicken, in denen wir solche Motivationen loslassen, die Dinge, die für uns von größtem Wert sind. Wenn ich mich zum Beispiel beim Schreiben dieses Buches dazu durchringe, bestimmtes für den logischen Rahmen notwendiges Material aufzubereiten, kommen meine Worte pedantisch und uninspiriert heraus; mein bestes Schreiben kommt, wenn ich mit den Ideen „herumspiele“, und in diesem Spiel entsteht eine Logik und Struktur, die sehr viel kraftvoller ist, als alles, was ich mir vorher hätte ausdenken können. Ich stelle mit Thomas Edison vor, wie er genau das tut, in seinem Labor herumspielen, dieses oder jenes ausprobieren ohne Erfolgsgarantie, aber während des Prozesses über eine neue Idee nachdenken und sie dann ausprobieren. Ich stelle mir Albert Einstein vor, wie er herumprobiert, nur aus Spaß und Freude, an Ideen, die in der Physik zuerst verrückt erschienen sein mögen, aber er kümmerte sich nicht darum und erforschte sie trotzdem. Ich will mich nicht mit diesen Genies vergleichen, ich möchte lediglich das Prinzip der Kreativität veranschaulichen: Vergessen, was vorher schon gemacht wurde, was funktioniert, was sichere Ergebnisse bringt, und etwas anderes nur so zum Spaß ausprobieren.

Weil die Kreativiät des Spiels spontan, ungefordert und frei von jeder vorgefertigten Festlegung ist, müssen wir in Betracht ziehen, dass es aus einer anderen Quelle kommt, die über unser Selbst hinaus geht. Wir sind der Kanal des Universums für das Spiel, ein Aspekt einer universellen Verspieltheit, die sich in unserem Geist und unseren Körpern ausdrückt, die sich unserer mentalen Fähigkeiten der Vernunft und des Ausdrucks bedient, die aber jenseits dessen entsteht.

Wir können die Meilensteine unserer Menschheit – Sprache, Mathematik, Kunst, Technologie – als im Spiel entstanden ansehen und als in der Tat neues, hochentwickeltes Mittel zur Erfüllung universeller Verspieltheit. Das Phänomen der Sprache ist ein typisches Beispiel. Beim Kleinkind sind Wörter ein Schlüsselelement in der Entwicklung der Vorstellungskraft und der Fähigkeit, Phantasiewelten zu erschaffen. Die gleiche abstrahierende Qualität der Sprache, die uns von der Wirklichkeit entfernt, erlaubt uns ebenfalls, eine innere Wirklichkeit zu erschaffen und mit ihr zu spielen, eine durch eine Zeit des mentalen Spiels verfeinerte Fähigkeit, die wir schließlich wieder auf die äußere Welt anwenden, womit wir Neuheit in physischen Dingen erzeugen, genauso wie wir dies vorher mit mentalen, wortgebundenen Bildern getan haben. Joseph Chilton Pearce spricht von der Wichtigkeit des Geschichtenerzählens für Kinder, die die Geschichten, während sie mit gespannter Aufmerksamkeit zuhören, mit Abfolgen von assoziierten Bildern ausschmücken, die so lebhaft sind, als hätten sie sie selbst erlebt87. Dieses in der Kindheit entwickelte Vermögen kann sich danach im Erwachsenenalter der Vorstellung dessen widmen, was alles möglich wäre. Sich vorzustellen, was möglich wäre, ist fundamental sowohl für das Spiel („aus Spaß bin ich jetzt ein Bär“), als auch für die Kreativität, die, wenn sie wahrhaftig ist, die Vorstellung einer Möglichkeit erfordert, die vorher nicht existierte. In der modernen Zeit, da vorgefertigte Bilder unsere Geschichten in Form von Bilderbüchern und Fernsehen begleiten, hat unser Vermögen zur Erzeugung von inneren Bildern kaum eine Chance, sich voll zu entwickeln, und werden dadurch unfähig, uns irgendetwas anderes vorzustellen als das Leben, das uns präsentiert wird.

Ich mache nun den Vorschlag, dass Sprache nicht entstand, um die Jagd oder die Werkzeugherstellung zu koordinieren oder für irgendeinen anderen Überlebenszweck, und auch nicht, wie John Zerzan und der Linguist E.H. Sturtevant nahelegen, zu Zwecken der Täuschung. Referenzielle Sprache entstand als eine Form des Spiels, ein Spiel, bei dem Laute mit Objekten und Handlungen assoziiert wurden. Deshalb erkannten primitive Kulturen die relative Unwirklichkeit und Unwichtigkeit von Worten verglichen mit Klängen, Stimme, Gesang und Stille; sie erkannten, dass unter den gewöhnlichen, bedingten Namen von Menschen und Dingen, wie ich es in der Diskussion zur Lingua adamica beschrieben habe, ein mystischer Wahrer Name liegt, der nicht Repräsentation sondern selbst ein Aspekt des Dinges an sich ist. So wie ein Kind beim Spiel weiß, dass der Stofffetzen auf dem Stock kein richtiges Baby ist, obwohl es das zum Zwecke des Spiels daraus macht, so haben auch die ersten Benutzer der Sprache spielerisch Wörter von den Dingen zum Zwecke der Kreativität abstrahiert – beim Geschichtenerzählen und in der Phantasie – genauso wie bei der kognitiven Entwicklung von Sprache beim Kleinkind.

Dies erklärt das scheinbare Paradox, dass Wörter, obwohl einerseits Symbole, andererseits auch ausgestattet sind mit echter Zeugungskraft. Wie Joseph Epes Brown es ausdrückt: „... Sprache hat kreative Kraft. Wörter sind nicht bloß Symbole, die auf Dinge deuten; sie rufen die Wirklichkeit und Kraft des Genannten herbei.88“ Modernes Denken versteht die symbolische Bedeutung der Wörter abgetrennt von ihrer zugrunde liegenden Wirklichkeit als bloße Objekte, Mischungen aus Schallwellen oder Formen auf Papier – dies ist wenig überraschend, denn die Dinge, auf die sie sich beziehen, sind ebenfalls bloße Objekte des Cartesianischen Universums. Nichtsdestoweniger ist das Wissen, dass die Wörter nicht nur referenziell, sondern auch erschaffend sind, in den magischen und religiösen Traditionen unser eigenen Kultur zu finden. „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott.89“ An dieser Stelle in der Bibel wird das Wort mit dem Urquell der Kreativität, der Gottheit gleichgesetzt. Ist hier also eine aufkeimende Trennung in der grundlegenden Existenz des physikalischen Universums enthalten? Könnten wir die kosmischen Prozesse als eine Manifestierung von Spiel ansehen?

Ein anderes scheinbares Paradox liegt in der Heiligkeit, die der Sprache zugeschrieben wird und die den Ausdruck des Profanen in Eingeborenensprachen unmöglich machte, und in der Verehrung und der Ehrfurcht, die mit den Namen von Menschen, Tieren und Orten verbunden war. Wie kann Heiligkeit, Verehrung und Ehrfurcht mit Spiel vereinbar sein? Es erscheint wohl eher toternst. Das Paradox wird gelöst, wenn wir verstehen, dass das Spiel ernst ist! Unsere Kultur nimmt an, das Spiel sei kindlich oder frivol und verdiene nicht die Aufmerksamkeit der ernsthaften, erwachsenen Angelegenheiten. Doch wenn wir Kinder beim Spiel beobachten, sehen wir bei ihnen die ganze Bandbreite menschlicher Emotionen und Anlagen: Lachen, ja, aber auch feierlichen Ernst und Leidenschaft. Zumindest Kinder nehmen ihr Spiel sehr ernst. Die Formen der Freizeitgestaltung, die heutzutage als Erwachsenenspiel daherkommen, sind nur blasser Abklatsch davon, Brosamen für den Geist. Sie sind nicht kreativ sondern zerstreuend; sie bringen uns nicht vollständiger mit dem Leben in Kontakt, sondern entfernen uns im Gewande der „Unterhaltung“ weiter vom Leben. Ob nun Sportwagen, Segelboote oder Videospiele, wir glauben nicht wahrhaftig an unsere Spielzeuge.

Wenn wir von unseren Kinder wieder lernen sollten, wie man spielt, dann dürfen wir uns selbst nicht begrenzen auf das frivole und kindliche. Wir können, wie sie, Gelegenheiten ergreifen, um ernstlich und mit großer Hingabe und Engagement, mit Lachen oder mit Tränen zu spielen; kurz, wir können uns hindurchspielen durch die gesamte Fülle der Lebenserfahrungen.

Wenn Sprache, Technologie und die anderen Elemente der Trennung als Spiel begannen, wie konnten sie dann etwas anderes werden? In gewissem Sinne wurden sie nie etwas anderes. Wir spielen noch immer, aber bis zum Hals eingetaucht in ein Spiel, das ziemlich falsch gelaufen ist, ein Spiel, aus dem wir uns einfach nicht befreien können. Letzten Endes ist die Trennung von der Natur, dem Geist, dem Selbst und dem Anderen, über die ich in diesem Buch schreibe, nicht wirklich; es ist auch ein Spiel, ein Tanz der Energie und der Information. Unser derzeitiger Verlust all der Charakteristiken des Spiels – Spontanität, Furchtlosigkeit, Entdeckerdrang, Kreativität, der Wille Grenzen zu testen, Nichtanhaftung an Ergebnissen – ist selbst Teil eines größeren Spiels der Individuation. Im gegenwärtigen Zeitalter, da der Tanz der Trennung zunehmend untragbar wird, da Krisen in der ganzen Welt entstehen, fangen wir an zu erkennen, dass die Zeit gekommen ist, dieses Spiel zu spielen und ein neues zu beginnen. Das Spiel des „wir tun so, als wären wir getrennte, isolierte Wesen in einem objektiven Universum“ mit allem, was es umfasst, hat seinen Zweck erfüllt.

Eine andere Art, darauf zu schauen, ist die, dass wir nie aufgehört haben zu spielen, aber dass wir vergessen haben, dass wir spielen. Manchmal laufen wir Menschen über den Weg, die noch immer fest in die moderne technologische Gesellschaft eingebettet sind, die aber ihre übereilte, ängstliche, entfremdete Denkungsart abgeschüttelt und eine leichtere, spielerische Einstellung zum eigenen Leben angenommen haben. Oft geschieht dies nach schweren Krankheiten oder anderen persönlichen Notlagen, die die Leere ihrer vormaligen Ambitionen und Beschäftigungen offengelegt haben. Sie sagen: „Ich habe aufgehört, das Leben so ernst zu nehmen“, oder: „Ich bin zum wirklich Wichtigen zurückgekommen.“ Aber obwohl sie es nicht mehr so ernst nehmen, haben sie sich nicht vom Leben abgewandt. Sie sind nicht leidenschaftslos oder indifferent, sondern sie lassen sich viel tiefer ein und beschäftigen sich mehr mit dem Moment, denn es ist genau die Ängstlichkeit des modernen Lebens, die uns aus dem Moment entfernt, die uns das Gefühl gibt, wir könnten es uns nicht leisten „hier und jetzt zu sein“ oder uns voll einzulassen auf das, was wir tun.

Was die Leute noch sagen, ist: „Ich habe aufgehört, mich selbst so ernst zu nehmen“, und sie deuten damit auf die ursprüngliche Quelle der modernen Hässlichkeit, des Leids und der Angst in unserer falschen Auffassung vom Selbst. Die Formen und Strukturen unserer Gesellschaft haben sich verschworen, uns eine falsche Auffassung von uns selbst einzuträufeln und vor uns zu verbergen, wer wir wirklich sind, aber wir haben immer noch die Macht nicht zu glauben, was man uns erzählt und unser Geburtsrecht auf Spiel einzufordern. Während primitive Kulturen auf natürliche Weise Erwachsene hervorbrachte, die sich sicher genug fühlten, um spielerisch zu leben, hält uns unsere Gesellschaft als Geisel durch subtile und allgegenwärtige Drohungen gegen unser Überleben. Überlebensangst ist, was der Satz „sich etwas nicht leisten können“ ausdrückt. Das Gefühl der Bedrohung ist so subtil und so tief verwoben in den Stoff unserer Existenz, dass wir uns dessen nur selten bewusst werden, so wie bei der Bedrohung durch ein Gewitter an einem wolkenlosen, schwülen Sommernachmittag. Es beginnt in der frühen Kindheit, wenn unsere Eltern durch Strafe, Scham und bedingte Anerkennung die größte, ja archetypische Bedrohung über unseren Köpfen schweben lassen, die Bedrohung, von den Eltern verlassen zu werden.

Obgleich mir in diesem Augenblick das enorme Panorama der Greuel und des Leids gewahr ist, das die Geschichte der menschlichen Entfremdung ausmacht, sage ich nicht, dass alles ein Fehler war. Wie ich bereits dargelegt habe, war die extreme Trennung, die wir in vergangenen Jahrhunderten ausgelotet haben, schon vor langer, langer Zeit in der Zukunft festgeschrieben. Aber mehr als eine neutrale Unausweichlichkeit ist der gegenwärtige Zustand der Entfremdung vielleicht notwendig für unsere zukünftige Entwicklung – eine Möglichkeit, die ich in einem späteren Kapitel erforschen werde. Wie dem auch sei, es ist Zeit, das gegenwärtige Spiel des „lasst uns so tun, als ob“ zu beenden. Ich sage das nicht als eine Mahnung, sondern als einfache Feststellung einer Tatsache. So wie das Zeitalter der Trennung mit dem Beginn der Agrikultur und sogar schon davor unausweichlich war, ist auch sein Ende unausweichlich. Es ist unausweichlich, denn es ist untragbar und nicht aufrecht zu erhalten oder, um noch präziser zu sprechen, nur aufrecht zu erhalten zu einem höheren und höheren Preis. Unsere Wiedervereinigung mit dem Anderen in der Form von Natur, anderen Menschen und verlorenen Teilen unserer selbst wird geschehen, wenn der Preis der Getrenntheit untragbar wird. Ich kann dies so sicher sagen, wie ich zu einem Alkoholiker sagen kann: „Deine Abhängigkeit wird nicht ewig fortdauern.“ Die Abhängigkeit erzeugt ihren eigenen Untergang. Da die sich sammelnden Krisen der Welt mehr und mehr von uns persönlich betreffen, da es immer schwieriger wird, uns vor deren Auswirkungen abzuschirmen, egal wie wohlhabend wir sind, egal wie geschickt wir in der Ausübung von Kontrolle über die Welt sind, fahren wir kollektiv „gegen die Wand“. Der Effekt auf unsere Gesellschaft wird dem Effekt einer individuellen Nahtoderfahrung ähneln.

Wenn genesende Abhängige Geschichten teilen von unglaublichen verlorenen Gelegenheiten, zerbrochenen Familien, ruinierten Leben und der Zerstörung, die sie hinterließen, wird ihr Bedauern durch das Wissen vergütert, dass sie weiser aus allem hervorgegangen sind. Sie erzählen von Durchbrüchen zur Selbstvergebung, was nichts geringeres bedeutet als das Wissen, dass sie, so wie sie waren, nicht anders handeln konnten, als sie es taten. Dies entspricht der Unausweichlichkeit, von der ich spreche. Der grauenvolle Lauf der menschlichen Geschichte war fest eingebaut in das, was wir sind, und durch ihre Bewältigung werden wir etwas anderes, größeres werden. Kollektiv und als Individuen werden wir in ein neues Selbst hineingeboren. Die gute Nachricht ist, dies wird auf jeden Fall geschehen, so unaufhaltsam, wie die Geburt eines Kindes nachdem die Schwangerschaft abgeschlossen ist. Die schlechte Nachricht ist, dass wir dennoch die Macht haben, unsere Geburt auf unbestimmte Zeit zu verzögern, bis hin zu dem Punkt, an dem sowohl Mutter als auch Kind umkommen müssen. Der einfache Zweck meines Schreibens ist, jedem zu erzählen, dem Unausweichlichen nicht zu widerstehen. Der Vorhang fällt, das Spiel ist aus. Es ist Zeit aufzuwachen und etwas anderes zu spielen.

86 Zerzan, John, Future Primitive”, http://www.primitivism.com/future-primitive.htm.

87 Pearce, Joseph Chilton. Der nächste Schritt der Menschheit. Arbor-Verlag, 1997. S. 171ff.

88 Brown, S. 16.

89 Johannes 1, Vers 1

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1998-2011 Charles Eisenstein