Der Aufstieg der Menschheit von Charles Eisenstein

Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters

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Inhaltsverzeichnis:


Die Wissenschaftliche Methode

Ausgehend vom 16. Jahrhundert erfuhr unser „Aufstieg“ in ein getrenntes menschliches Reich eine dramatische Beschleunigung. Sprache, Technologie, Zahl, Bild und Zeit wurden allesamt Objekt eines Ehrgeizes von babylonischer Anmaßung: die Ausweitung ihrer Besitzes, um schließlich das Ganze der Realität einzuschließen. Obwohl Vorahnungen dieses Programms schon in altertümlicher Zeit zu finden sind – in griechischem und biblischem Verlangen, Herrschaft auf die Welt auszuüben – war es erst mit der Wissenschaftlichen Revolution möglich, dass wir begannen, die plausiblen Mittel zu ersinnen, um dies tatsächlich zu erreichen.

Vier Jahrhunderte später sehen wir eine vollkommen transformierte Welt. Wunder und Magie, den Göttern vorbehalten, wirken nun alltäglich. Direkte Kommunikation zwischen Kontinenten, Reisen durch die Luft, ganze Bücher auf Knopfdruck, perfekte bewegte Bilder und vieles mehr sind nun ganz gewöhnlich – dank der Wissenschaft. Es ist die Wissenschaft, der wir den Aufstieg schulden. Es ist die Wissenschaft, so glauben wir, die uns herausgehoben hat über primitiven Aberglauben, um verifizierbares, objektives Wissen zu erlangen. Wissenschaft, die krönende Errungenschaft des modernen Menschen. Wissenschaft, die die tiefsten Geheimnisse des Universums aufschließt. Wissenschaft, entschlossen, das gesamte Universum in den menschlichen Bereich des Verstandes und der Kontrolle zu bringen.

Das bloße Adjektiv „wissenschaftlich“ enthält tiefe Annahmen über die Natur der Wirklichkeit und unsere Beziehung zur Wirklichkeit. Die Wissenschaft bietet Anleitungen, wie zu leben und wie Gesellschaft zu organisieren, wie die Welt zu verstehen und wie Wissen zu erlangen ist; sie erzählt uns, wer wir sind, wie wir entstanden sind und wohin wir gehen. Sprächen wir von einer anderen Kultur, könnten wir diese Anleitungen und diese Geschichten über den Lauf der Welt als Religion beschreiben. Für uns selbst nennen wir sie Wahrheit, Faktum, Wissenschaft – fundamental verschieden von den Mythen anderer Kulturen. Aber warum?

Unsere Kultur steht nicht alleine da in dem Glauben, ihre Mythen und Geschichten wären besonders. Wir denken, unsere wären wahr und wirklich, während andere Kulturen bloß glauben, ihre wären wahr. Was sind unsere Rechtfertigungen? Zwei stechen heraus, eine theoretische und eine praktische: die Doktrin der Objektivität und die Macht der Technologie.

Auf der praktischen Ebene glauben wir an die Gültigkeit unserer Wissenschaft wegen der großen und erwiesenen Macht, die sie uns durch Technologie gegeben hat, um materielle Umwelt zu manipulieren. Die Welt aus unserer Erfahrung – eine künstliche Welt, eine menschliche Welt – ist materialisierte Wissenschaft. Die bloße Existenz der Welt, in der wir leben, ist Beweis für die Gültigkeit der Wissenschaft. Der Gott Wissenschaft hat uns die Fähigkeit verliehen, die Landschaft umzuformen, den Code des Lebens zu ändern und die oben aufgezählten „Magien und Wunder“ ins Werk zu setzen. Wo sie uns doch solche greifbaren Mächte verliehen hat, wie könnte sie da ein falscher Gott sein?

Allerdings ist es nicht schwer, sich andere Kulturen vorzustellen, die unsere Macht über die physische Umwelt abtun würden als irrelevant, als unwichtigen Aspekt des Lebens, oder die selbst verneinen würde, dass unsere Macht wirklich so groß ist. Essen wir nicht, schlafen wir nicht, haben Ausscheidungen, lieben uns körperlich, werden alt, krank und sterben, wie alle anderen Menschen auch? Erleben wir nicht die gleiche Bandbreite der Gefühle, wie alle anderen Menschen seit jeher? Henry Miller sagte:

Wir verwenden erstaunliche Mittel auf die Kommunikation, aber kommunizieren wir miteinander? Wir bewegen unsere Körper mit unglaublichen Geschwindigkeiten hin und fort, aber verlassen wir wirklich den Ort, von dem wir aufbrachen? Wir sind mental, moralisch, spirituell gefesselt. Was haben wir erreicht mit dem Einreißen von Gebirgszügen, der Zähmung der Energie mächtiger Flüsse oder der schachfigurengleichen Umsiedlung ganzer Völker, wenn wir selbst die rastlosen, unglücklichen und frustrierten Kreaturen bleiben, die wir vorher waren? Solche Aktivität Fortschritt zu nennen ist ein vollkommener Wahn. Wir mögen die Veränderung des Angesichts der Erde erreichen, bis sie selbst für den Schöpfer nicht wiederzuerkennen ist, aber wenn wir davon unberührt sind, worin liegt dann der Sinn?1

Ja, wir können Berge bewegen und Wolkenkratzer bauen und mit Menschen am anderen Ende der Welt sprechen, aber vielleicht sagt die Wichtigkeit, die wir diesen Dingen als Demonstrationen für die Wahrheit unserer Wissenschaft und unserer Geschichten beimessen, mehr über unsere Werte und Schwerpunkte aus, als über ihre ultimative Gültigkeit.

Mit anderen Worten haben wir eine hochentwickelte Wissenschaft von bestimmten Aspekten der materiellen Welt, und wir zitieren unsere Macht über genau jene Aspekte der materiellen Welt als Beweis für die Gültigkeit unserer Wissenschaft. Die Logik ist zirkulär. Eine andere Kultur mag eine hochentwickelte Wissenschaft von Aspekten der Welt haben, die wir nicht einmal erkennen oder die wir für unwichtig halten. Ein australischer Ureinwohner mag uns als hoffnungslos primitiv in unserem Verständnis und Gebrauch der Träume ansehen; ein traditioneller chinesischer Arzt mag uns lächerlich ignorant gegenüber der Energetik der Pflanzen und des menschlichen Körpers finden.

Dies führt zur zweiten Rechtfertigung für das Glaubenssystem, das wir Wissenschaft nennen. Wir räumen unseren Geschichten einen priviligierten Status ein, weil wir denken, dass die Wissenschaftliche Methode Objektivität gewährleistet. Die unsrige ist mehr als eine bloße Religion, denken wir, weil sie anders, als alle davor, auf verifizierbaren, objektiven Wahrheiten beruht. Wissenschaft ist nicht nur eine weitere Alternative; es umfasst und übertrifft alle anderen Annäherungen an das Wissen. Wir können Träume oder chinesische Medizin wissenschaftlich untersuchen. Wir können Messungen vornehmen, wir können Doppelblindstudien durchführen, wir können die Behauptungen dieser anderen Wissenssysteme unter kontrollierten Bedingungen prüfen. Die Wissenschaftliche Methode, glauben wir, hat kulturelle Verzerrungen eliminiert, indem sie einen unvoreingenommenen, zuverlässigen Weg vorschreibt, um Wahrheit aus Beobachtung abzuleiten. Wie der Physiker Jose Wudka es ausdrückt: „Die wissenschaftliche Methode ist der beste bisher entdeckte Weg, um die Wahrheit von Lügen und Wahnvorstellungen zu scheiden2.“ Dieser Glaube ist essentiell für die Ideologie der Wissenschaft: dass sie den Begrenzungen der Kultur entkommen ist und dass sie, indem sie auf die Reproduzierbarkeit und Logik pocht, das Wissen vom Joch der Subjektivität befreit hat.

Die Wissenschaftliche Methode lädt durch ihr Prüfen von Hypothesen zu einer Art Sicherheit ein, die anderen Zugängen zum Wissen fehlt, einer universellen Gültigkeit, die nicht kulturgebunden ist. Ein jeder aus einer beliebigen Kultur kann das gleiche Experiment durchführen und dieselben Resultate erhalten. Solange wir der Wissenschaftlichen Methode streng gehorchen, haben wir einen zuverlässigen Weg, Fakten von Aberglauben zu unterscheiden – ein intellektuelles Rasiermesser, das durch Schichten kulturellen Glaubens schneidet, um die darunter liegende objektive Wahrheit zu erreichen. Am Ende sind wir befreit von den Fesseln der Subjektivität, den persönlichen und kulturellen Grenzen des Verstehens.

Aber sind wir das? Oder könnte es sein, dass die Wissenschaftliche Methode kein suprakultureller Königsweg zur Wahrheit ist, sondern selbst nur unsere eigenen kulturellen Vorannahmen über das Universum verkörpert? Könnte es sein, dass Wissenschaft selbst eine enorme Ausgestaltung des Glaubenssystems unserer Gesellschaft über die Natur der Wirklichkeit ist? Könnte es sein, dass das gesamte Gebäude der Wissenschaft unsere Kultur bloß auf das Universum projiziert, eine Projektion, die wir dann gültig machen und verstärken durch selektive Beobachtung und einfache Interpretation? Könnte es mit anderen Worten sein, dass wir ebenfalls einen Mythos konstruiert haben?

Vielleicht haben wir einfach so gehandelt, wie alle anderen Kulturen. Jene Beobachtungen, die in unsere grundlegende Mythologie passen, akzeptieren wir als Tatsache. Jene Interpretationen, die in unsere Auffassung vom Selbst und von der Welt passen, akzeptieren wir als Kandidaten für wissenschaftliche Rechtmäßigkeit. Jene, die nicht passen, erachten wir kaum wert der Betrachtung, der Prüfung, des Beweises oder Gegenbeweises, indem wir sie als Absurditäten abtun, unwert, überhaupt darüber nachzudenken: „Es ist nicht wahr, weil es nicht wahr sein kann.“ Es war in diesem Geiste, mit dem Galileos gelehrte Zeitgenossen sich weigerten, durch sein Teleskop zu schauen, denn sie wussten, dass Jupiter keine Monde haben konnte.

Die Geschichte hat gezeigt, das Wissenschaftler nicht weniger anfällig sind, als jeder andere auch, für den Druck von Kollegen, Selbsttäuschung, institutionelle Blindheit und Tunnelblick. Unsere Kultur ist nicht allein in dem Glauben, sie sei selbst im Besitz der Wahrheit; noch ist sie allein in der Sicherheit ihres Glaubens. Allerdings geht das Problem viel tiefer, als nur zum Missbrauch und zur Manipulation der Wissenschaftlichen Methode. Bedeutsamer sind die der Methode innewohnenden Begrenzungen, entstehend aus versteckten Vorannahmen, die so nahtlos in unsere Weltsicht eingewoben sind, dass wir sie selten hinterfragen; in der Tat bemerken wir sie überhaupt nur selten. Sie durchdringen unseren gesunden Menschenverstand darüber, wie wir leben und wie wir Gesellschaft organisieren, wie wir die Welt verstehen und wie wir Wissen erlangen. Ja, die Wissenschaftliche Methode kann sogar verdreht werden, um kulturellen und institutionellen Ausrichtungen zu dienen; weniger offensichtlich ist, dass die Wissenschaftliche Methode selbst eine sehr tiefe und hintergründige Annahme über die Natur der Wirklichkeit darstellt. Statt uns von kultureller Voreingenommenheit zu befreien, zieht sie uns noch tiefer hinein.

Hast du irgendeine Ahnung, wovon ich rede? Der wissenschaftliche Leser mag denken, ich plappere. Was für Vorannahmen könnten das sein, wenn die Wissenschaftliche Methode in letzter Konsequenz sagt: „Wir werden nichts aus Vertrauen akzeptieren. Wir werden jede Hypothese prüfen, um zu sehen, ob sie wirklich zutrifft.“

Hier ist eine zentrale Annahme der Wissenschaftlichen Methode, die so offensichtlich erscheinen mag, dass sie über jeden Streit erhaben ist: wenn zwei Menschen ein identisches Experiment durchführen, werden sie dieselben Resultate erhalten. Das erfordert erstens den Determinismus: dass dieselben Eingangsbedingungen zu denselben Ausgangsbedingungen führen, und zweitens die Objektivität: dass der Experimentator aus dem Experiment herausgetrennt werden kann. Diese beiden Annahmen greifen ineinander. Wenn wir den Experimentator als Teil der „Eingangsbedingungen“ einschließen, dann sind sie nie wirklich identisch – nicht einmal, wenn dieselbe Person als Experimentator das Experiment an einem anderen Ort und zu anderer Zeit durchführt.

Im Grunde nimmt die Wissenschaftliche Methode an, es gäbe „da draußen“ ein objektives Unversum, das wir experimentell untersuchen können, um abzusichern, ob unsere Theorien wahr oder falsch sind. Ohne diese Annahme wird in der Tat das ganze Konzept des Faktums schwer fassbar oder vielleicht gar inkohärent. (Interessanterweise ist die Wurzel des Wortes das lateinische factio, ein Machen oder Tun3, was vielleicht auf die ehemalige Zweideutigkeit zwischen Existenz und Wahrnehmung deutet – sein und machen; was ist und was ist gemacht. Vielleicht sind Fakten, wie Artefakte und Manufakturen von uns gemacht.)

Das Universum „da draußen“ ist im Prinzip unverbunden mit dem einen oder anderen Beobachter; daher die Wiederholbarkeit des wissenschaftlichen Experiments. Wenn du und ich das Universum mit demselben Experiment befragen, kommen wir zu identischen Ergebnissen. So geblendet sind wir durch unsere Seinslehre, dass wir sie nicht als eine Annahme ansehen, sondern als eine logische Notwendigkeit. Wir können uns kaum ein stichhaltiges System des Denkens vorstellen, welches nicht Objektivität verkörpert. Noch können wir ein Denksystem ersinnen, das auf den Determinismus verzichtet, welcher die moderne Auffassung von der Kausalität bestimmt. Diese sehen wir als die grundlegenden Prinzipien der Logik an, und nicht als die bedingten kulturellen Annahmen, die sie sind.

Die unglückliche Tatsache, dass die gesamte Physik des 20. Jahrhundert genau diese Prinzipien der Objektivität und des Determinismus ungültig macht, hat noch keinen Niederschlag in unserer Intuitionen gefunden. Die klassische Newtonsche Weltsicht ist nun schon sein hundert Jahren obsolet, aber wir haben noch immer nicht die revolutionären Folgerungen der Quantenmechanik aufgenommen, die jene Prinzipien ersetzen. Erstaunlicherweise entzieht sich die Quantenmechanik auch 80 Jahre nach ihrer mathematischen Formalisierung der Interpretation. Etwa fünf oder sechs Interpretationen der Quantentheorie zusammen mit unzähligen Variationen scharen heute Anhänger nicht nur unter Amateurphilosophen und Esoterikern, sondern auch unter gestandenen akademischen Physikern um sich. Viele der letzteren scheuen jede Interpretation und benutzen die Mathematik der Theorie unter offensichtlicher Nichtachtung ihrer ontologischen Bedeutung. Entweder können sie keiner Interpretation der Theorie zustimmen oder sie haben einfach den Versuch aufgegeben, weil keine Interpretation mit unseren fundamentalen kulturellen Annahmen über die Natur der Wirklichkeit verträglich ist.

So obsolet die Weltsicht der klassischen Wissenschaft, die ich in diesem Kapitel beschreibe, auch sein mag, so legt sie doch den vorherrschenden Glauben und die Intuitionen unserer Kultur offen. Wissenschaft ist eine enorme und ausgearbeitete Artikulation des definierenden Mythos unserer Zivilisation: dass wir unterschiedene, getrennte Selbste sind, die in einem objektiven Universum des Anderen leben. Wissenschaft setzt diesen Mythos voraus, verkörpert und verstärkt ihn und macht uns blind für andere Wege des Denkens, Lebens und Seins.

Beide Rechtfertigungen für die Religion der Wissenschaft erzeugen dieselbe Art der Begrenzung. Die Macht der Technologie bestätigt mit zirkulärer Logik die praktische Wahrheit unserer Wissenschaft in genau den Bereichen, auf die sie anwendbar ist, doch beschränkt sie uns auch auf diese Bereiche. Währenddessen schließt die Wissenschaftliche Methode durch ihre eigene Natur ganze Klassen möglicher Phänomene davon aus, je begründet zu werden. Sie ist verfassungsgemäß unfähig, Phänomene zu verstehen, die nicht objektiv oder deterministisch sind. Indem wir an die Wissenschaftliche Methode als dem „besten bisher gefundenen Weg zur Scheidung von Wahrheit und Lüge“ glauben, schlussfolgern wir, dass solche Phänomen in Wahrheit nicht existieren: sie sind Lügen, Wahn, Betrug, Aberglaube. Unsere Seinslehre und Methode ist grundsätzlich unfähig, solche Möglichkeiten zu dulden, wie „Für mich war das Einhorn da, aber nicht für dich“, außer indem sie sie weg erklärt, etwa so: „Es war da, aber du hast es nicht gesehen“. Existenz, als „da“ zu sein, wird als absolute, objektive Realität angenommen, unabhängig davon, ob irgendwer sie beobachtet. Genauer verbinden wir ganz naiv Existenz mit irgendeinem Ereignis in einem absoluten Cartesianischen Koordinatensystem: wenn das Einhorn zur Zeit t am Punkte (x,y,z) war, dann existiert es.

Nur zu, probiere es aus! Schließe deine Augen und visualisiere etwas, sagen wir, eine Gabel als bloß existierend. Siehst du eine körperlose Gabel, die allein im Raume schwebt? Trennung ist eingewebt in unsere Auffassung vom Sein. Existenz geschieht in Isolation, nicht in der Beziehung. Zu sein heißt, einen bestimmten Punkt in Raum und Zeit einzunehmen.

Das wäre vollkommen in Ordnung, wenn das Universum „wirklich“ so wäre. Allerdings stimmen urtümliche Wege des Denkens und die Physik des 20. Jahrhunderts darin überein, dass es nicht so ist. Das absolute Cartesianische Universum ist bestenfalls eine Annäherung, ein mathematisches Werkzeug, nützlich bei der Lösung eines sehr schmalen Bereichs von Problemen. Und dennoch haben wir versucht, die gesamte Wirklichkeit in diese Pressform zu zwängen. Indem wir die Wissenschaftliche Methode zum wirklichkeitsdefinierenden Test erhoben haben, verordnen wir in festem Vertrauen implizit genau die Annahmen, auf denen sie beruht.

Die Wissenschaftliche Methode verlässt sich in Hinsicht auf ihre überkulturelle Gültigkeit auf Prinzipien, die selbst Teil ihrer eigenen Annahmen sind. Die Logik dieser Rechtfertigung ist zirkulär. So wie ein australischer Ureinwohner, der auf folgendem bestünde: „In Ordnung, lass uns ein für alle mal die Frage klären, ob das wissenschaftliche Experiment oder der Traum der Weg zu wahrem Wissen ist ... Lass es uns klären, indem wir in die Traumzeit eintreten und die Ahnen befragen.“ Es ist schwer vorstellbar, aber die Kernannahmen der Objektivität und des Determinismus, die das Fundament der Wissenschaftlichen Methode bilden, werden keinesfalls von allen Welttraditionen des Denkens geteilt. Ein nicht-objektives, nicht-deterministisches und doch kohärentes System des Denkens ist möglich. Es ist mehr als möglich: es ist notwendig, wenn man den drohenden Kollaps der Welt des unterschiedenen und getrennten Selbst betrachtet, den wir geschmiedet haben. Es ist ebenso im Lichte der neuen wissenschaftlichen Revolution der letzten hundert Jahre notwendig. Unsere Wege des Denkens und Seins funktionieren nicht mehr.

Wissenschaft ist die Intensivierung von Entwicklungen der Selbstauffassung, die tausende Jahre zurückreicht. Objektivität und Determinismus spiegeln ganz grundlegend die Art, wie wir uns selbst in Beziehung zur Welt verstehen, und sie infiltrieren unser Denken, unsere Sprache und die Vernunft auf der tiefsten Ebene. Nimm nur den Satz von oben: „... wenn das Universum wirklich so wäre“. Was bedeutet dieses „wirklich“? Es bedeutet etwas wie „nicht nur in der Meinung einiger weniger, sondern als tatsächliches Faktum“. Und was ist dieses „tatsächliche“? Nicht-objektives Denken ist äußerst schwierig zu erklären, wenn die Annahme der Objektivität fest in die Sprache der Erklärung eingebaut ist. Und wieder: Des Meisters Werkzeug wird des Meisters Haus niemals demontieren. Objektivität und Determinismus sind eingewebt in unsere grundlegende Selbstdefinition. Deshalb war es so schwierig, die neuen Wissenschaften des 20. Jahrhunderts in unser allgemeines Verständnis des Universums zu integrieren. Deshalb erscheinen die Befunde der Quantenmechanik so kontraintuitiv, so verrückt.

Wir empfinden uns als bestimmte Wesen, abgetrennt vom Universum um uns herum. Entsprechend ist die Wissenschaftliche Methode unfähig, mit Phänomenen umzugehen, bei denen der Experimentator ein untrennbarer Aspekt ist. Nehmen wir einmal an, dass etwas wie die Telepathie nur funktioniert, wenn der Experimentator wirklich daran glaubt. Ist das der Fall, dann wäre die Telepathie naturgemäß jenseits des Zugriffs der Wissenschaftlichen Methode, weil das Experiment nicht einfach wiederholbar wäre. Ein skeptischer Experimentator kann sie nicht durch präzise Wiederholung der „Eingangsbedingungen“ bestätigen, weil die Eingangsbedingungen unterschiedliche Resultate für unterschiedliche Experimentatoren ergeben. Dieses Scheitern des Determinismus – identische Eingangsbedingung liefern verschiedene Resultate – kann nur gelöst werden, indem man den Experimentator als Teil dieser Eingangsbedingungen anerkennt, wodurch das Prinzip der Objektivität ungültig gemacht würde.

Ich werbe hier nicht für die Abschaffung der Wissenschaftlichen Methode. Ich erhelle nur ihre innewohnenden Begrenzungen wie auch die Art des Wissens, die sie verfassungsgemäß hervorzubringen vermag. Die Wissenschaftliche Methode hat ihren Platz – einen sehr wichtigen Platz – in der neuen Wissenschaft, die mit der Fortentwicklung unserer Gesellschaft emporsteigen wird. Im Grunde ihres Herzens ruht die Wissenschaftliche Methode auf einem schönen Impuls, einem Ideal der Bescheidenheit und intellektueller Nicht-Anhaftung, die jedem Glaubenssystem sehr zugute käme. In Kapitel VI werde ich einen alternativen Ansatz der experimentellen Wissenschaft beschreiben, kein Baconsches Verhör, sondern ein Spiel mit der Natur, welches das Ideal der Bescheidenheit ohne die Entfremdung durch die Objektivität bewahrt.

Allgemein gesprochen scheitert die Wissenschaftliche Methode dabei, Sicherheit zu liefern, wenn schon der bloße Akt der Formulierung und Prüfung einer Theorie über die angenommene Realität „da draußen“ diese Realität erzeugt oder verändert. Ein Modellbeispiel, um zu verstehen, wie die Objektivität in der Wissenschaft scheitern kann, ist der Journalismus, welcher ganz klar die notwendige Koabhängigkeit von Beobachter und Realität verdeutlicht. Menschen verhalten sich anders, wenn sie wissen, dass ein Jounalist anwesend ist; darüber hinaus ändern wir die Bedeutsamkeit eines Ereignisses, indem wir darüber berichten, bis zu dem Punkt, wo irgendwelche Ereignisse berichtenswert werden, nur weil Journalisten anwesend sind. Die Objektivität wird weiter kompromittiert durch die unvermeidliche Projektion der Werte und Prioritäten einer Nachrichtenagentur auf ihre Kriterien dafür, was sie für berichtenswert hält. Nichtsdestoweniger berufen sich Journalisten immer noch auf eine Objektivität, die nicht nur ein unmögliches Ideal ist, sondern, noch schlimmer, eine inkohärente Auffassung und eine gefährliche Falle.

Doch Objektitivität bleibt in unserer Kultur ein fast universeller Standard intellektueller Redlichkeit. Das Ideal des herausgehobenen Wissenschaftlers, der bei seiner Suche nach reiner Objektivität persönliche Vorurteile ausschaltet, strahlt aus in andere Felder, wie Journalismus, Rechtsprechung und selbst das Privatleben, in welchem eine „rationale“ Entscheidung frei von gefühlsmäßigen Erwägungen getroffen wird. Ein wenig Überlegung legt offen, dass eine solche Objektivität unmöglich ist; darüber hinaus begrenzt das Streben nach ihr, was wir überhaupt begreifen können, und es errichtet eine entmutigende Mauer der Trennung zwischen uns selbst und dem Universum.

Nicht nur die Wissenschaftliche Methode, sondern die Vernunft selbst drückt unsere allmähliche Abstraktion von der Natur aus und verstärkt diese. Wie David Bohm erklärt, ist die Vernunft letztendlich die Anwendung einer abstrakten Beziehung auf etwas Neues. Wir beobachten die Beziehung zwischen A und B und sagen, dass es sich mit der Beziehung zwischen C und D genauso verhält. Zum Beispiel: „Alle Menschen sterben; ich bin ein Mensch; deshalb werde ich sterben.“ A steht im Verhältnis zu B und C steht im Verhältnis zu D. Oder A : B∕C : D. Das ist ein Rational4. Vernunft ist das Erkennen und die Anwendung abstrakter Regularitäten. Die Kritik professioneller Skeptiker auf solchen Foren wie reason.com, die New-Age-Spirtualität und andere Ablehnungen der objektivitätsbasierten Wissenschaft sei irrational, ist sehr wohl begründet. Vernunft, wie jene Kritiker sie verstehen, beruht auf der Annahme einer objektiven Realität, von der aus wir abstrahieren können, und ist ihr nicht vorgelagert. Wenn die Annahme der objektiven Realität allerdings ungültig ist, dann sind auch andere Formen des Denkens berechtigt, und der übliche Vernunftsbegriff ist in Gefahr.

Die mathematischen Nebenbedeutungen des Wortes „rational“, das vom Wort „Ratio“ (Verhältnis) abgeleitet ist, legen nahe, dass rationales Denken auch die Strenge und Sicherheit der Mathematik verkörpert. Und anders als eine bloße Zahl, die (wenigstens ursprünglich) mit konkreten Objekten und deshalb, wie in der Wissenschaft, mit Einheiten verbunden war, kürzen sich Einheiten in einem „Ratio“ heraus, und wir kommen zu einer reinen Abstraktion, unverbunden mit irgendeiner bestimmten Erfahrung. Das trägt bei zu einer Heraushebung der Vernunft in einen übernatürlichen Bereich, der von konkreter Realität abstrahiert – d.h. von der Natur abstrahiert. Da die Vernunftbegabung nur dem Menschen zueigen ist, erachten wir das als Beweis für unseren Aufstieg über die Natur. Und je mehr wir uns auf die Vernunft verlassen, desto höher steigen wir über die Natur hinaus; daher kommt der Traum von der perfekt rationalen Gesellschaft als dem Gipfel menschlicher Entwicklung.

Die Wissenschaft und sogar die Vernunft selbst gründen sich auf die Entdeckung von Regelmäßigkeiten in der Natur. Die Möglichkeit, dass wir diese Regelmäßigkeiten nicht beobachten, sondern vielmehr durch unseren Glauben erschaffen, verdeutlicht eine grundlegende Herausforderung für die Gültigkeit der Wissenschaft, wie wir sie kennen, denn diese Möglichkeit legt nahe, dass wir bloß unser eigenes Spiegelbild beobachten. Jenseits dieser zwei gegensätzlichen Möglichkeiten liegt eine dritte, dialektische Möglichkeit der wechselseitigen Erschaffung von Glauben und Wirklichkeit, die die fundamentale Nicht-Trennung von Subjekt und Objekt bestätigt. Die tiefsitzende Annahme, die der Wissenschaftlichen Methode und dem ganzen Gebäude des wissenschaftlichen Denkens zugrunde liegt, besagt, dass es eine Realität „da draußen“ gibt, die unabhängig von mir ist und die darauf wartet, entdeckt zu werden. Es ist die genaue Entsprechung unserer grundlegenden kulturellen Annahme eines getrennten Selbst in einer Welt von einzelnen Anderen. Es ist wieder nur eine weitere Geschmacksrichtung des einfachen Dualismus von Subjekt und Objekt.

Das ist die kulturelle Annahme, die gewachsen ist durch den Aufstieg der Menschheit, dessen Ursprünge ich im vorigen Kapitel ergründet habe, und die die Technologie motivierte, und die umgekehrt durch die Technologie in einem selbstvertärkenden Kreislauf motiviert wurde. Wissenschaft hat sie bloß zu ihrem logischen Extrem geführt, zu ihrer Erfüllung. Wissenschaft ist deshalb unserem Verständnis von Selbst und Universum nicht vorgelagert, es ist vielmehr ein Auswuchs dieses Verständnisses. Wissenschaft ist eine Ideologie.

Wie andere Kulturen vor uns haben wir eine Mythologie geschaffen, eine Konstellation von Geschichten um den Lauf der Welt zu erklären. Sie schließt die Naturkräfte, die Kräfte der menschlichen Natur, die Geschichte über unsere Ursprünge und eine Erklärung für unsere Rolle und Funktion im Universum ein. Wie die Mythologie aller Kulturen, ist unsere nicht gänzlich ausgedacht, sondern ein Fenster auf die Wahrheit, allerdings verglast mit der verzerrenden Linse unserer kulturellen Vorurteile. Wissenschaft ist die Vollendung dieser Mythologie. Die Untersuchung der Wissenschaft enthüllt deshalb so viel über uns selbst, wie sie über die Welt enthüllt. Dieses Kapitel erkundet das wissenschaftliche Leben, persönlich und kollektiv, das wir für uns gemacht haben.

1 Miller, Henry, „Die Welt des Sexus“, 1940.

2 Ich bin nicht ganz sicher, ob dieser Ausspruch von Wudka stammt, denn er ist überall im Internet zu finden. Gleichwohl tut es nicht viel zur Sache: der Glaube, den er ausdrückt, ist Jahrhunderte alt.

3 Das Verb ist facere – machen, tun, ausführen. Die Wurzel von „Fakt“ mag auch das Partizip factus „gemacht“, „getan“ – sein.

4 Das Verhältnis übersetzt sich ins Lateinische als „Ratio“ [Anm. d. Übers.].

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1998-2011 Charles Eisenstein