Der Aufstieg der Menschheit von Charles Eisenstein
Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters
Wissenschaftliches Denken ist im Grunde genommen Machtdenken – die Art von Denken also, deren Zweck es ist, bewusst oder unbewusst, dessen Besitzer Macht zu verleihen. —Bertrand Russell |
In reiner Form ist der Zweck der Wissenschaft, die Welt besser zu verstehen; oder, wir können auch sagen, sie bringt neue Welten in den menschlichen Bereich des Verständnisses. Wissenschaft beginnt als eine Erforschung des Unbekannten und wird später eine Eroberung, die jenes Unbekannte den menschlichen Zwecken unterordnet. Es ist deshalb hoch bedeutsam, dass die Wissenschaftliche Revolution zeitlich so eng mit dem europäischen Zeitalter der Entdecker zusammenhing. In beidem sehen wir denselben missionarischen Eifer, dasselbe Gefühl von einer neuen Welt der Möglichkeiten, dieselben ideologischen Wurzeln und dieselben tragischen Konsequenzen.
Das Zeitalter der Entdecker führte zum Imperialismus sowohl geopolitisch als auch wissenschaftlich. Der Drang, neues Land zu entdecken, war nie unschuldig im Sinne eines Machtmotivs. Das Grundgefühl der Mission, das die Europäer dazu trieb, die Welt zu zivilisieren und zu kolonisieren, durchzieht auch die Wissenschaft. Zivilisieren heißt, zu zähmen, Ordnung zu stiften. Kolonisieren heißt, zu unterwerfen, als Quelle von Rohmaterialien nutzbar zu machen. Wissenschaft kolonisiert die Welt für die Technologie und findet Wege, Materialien nutzbar zu machen und die Naturkräfte zu zähmen. Jede neue Welt, die die Wissenschaft entdeckt hat – die mikroskopische, die kosmische, die elektromagnetische und die chemische – wurde zunächst erforscht, um dann als ein neuer Machtbereich ausgenutzt zu werden. Beide Eroberungskampagnen, die wissenschaftliche und die territoriale, sind Ausdruck desselben Hoffnung: uns die Welt zueigen zu machen.
Beginnend vor etwa fünfhundert Jahren brachen Wissenschaftler und Entdecker von der Alten in eine Neue Welt auf. Eine Grenze nach der anderen gab nach: der Himmel, die See, die Pole, die archäologische Vergangenheit, der Mount Everest, die Zelle, die Gene, der Weltraum, das Atom. Einhergehend mit der Ausweitung des Territoriums der Zivilisation erweiterte sich der menschliche Bereich mit jeder wissenschaftlichen Eroberung und der Bereich des Geheimnisvollen, des Wilden schrumpfte. Zum Ende des 19. Jahrhunderts schienen beide Eroberungsfeldzüge nahezu abgeschlossen: nur ein paar verstreute Jäger und Sammler Stämme verblieben in den entlegensten Gegenden der Erde, nur ein paar verborgene Phänomene, so schien es, widersetzten sich dem Vormarsch der Wissenschaft.
Das aufregende Versprechen der neuen Welten entfachte einen Optimismus und einen Eifer, der einige Jahrhunderte anhielt. Einige Überbleibsel davon finden wir heute in der fortgesetzten Hoffnung, die Nanotechnologie oder die Gentechnik werde uns dieselben leichtverdienten Reichtümer oder gar den Jungbrunnen liefern, den wir einst in der irdischen Neuen Welt suchten. Aber, wie ich schon in Kapitel I beobachtete, ist das Vertrauen in dieses Versprechen dabei, sich abzunutzen.
Egal ob nun dieses Versprechen je eingelöst werden wird, wir sind vielleicht bereits in eine Neue Welt eingetreten. Sicherlich wären den Menschen vor fünfhundert Jahren die erstaunlichen, an Wunder grenzenden Technologien wie Luft- und Raumfahrt, Telekommunikation und Informationsverarbeitung als phantastisch erschienen. Aber auch wenn wir eine Neue Welt betreten haben, haben wir doch zweifellos die Alte Welt mitgebracht, so wie die europäischen Kolonisten die Gewalt und Ungerechtigkeit mitgebracht und fortgesetzt haben, der sie eigentlich entfliehen wollten. Das neue Reich, das uns die Wissenschaft eröffnet hat, ist genauso, wie das alte: es trägt ebensoviel Unsicherheit, ebensoviel Verlangen, ebensoviel Leid und ebensoviel Barberei, wenn auch in etwas anderer Form.
Das sollte uns nicht überraschen, denn die Wissenschaftliche Revolution war nichts vollkommen Neues. Es war keine kulturelle Diskontinuität, sondern vielmehr die Kristallisation von Entwicklungen, die ihr weit voraus gingen. Wissenschaft ist lediglich der gipfelnde Ausdruck, in der Tat die Apotheose der Neigung zur Objektivierung, die tausende Jahre zurückgeht. Zwar treibt die Wissenschaft die Objektivierung der Natur ins Extrem, doch umgekehrt war es notwendig, dass schon vorher eine Objektivierung der Natur existierte, um die grundlegenden Annahmen und Methoden der Wissenschaft überhaupt formulieren zu können. Erst im 17. Jahrhundert war unsere Trennung hinreichend fortgeschritten, damit die Wissenschaft starten konnte. Die großen Namen der Wissenschaftlichen Revolution – Galileo, Newton, Descartes, Leibniz, Bacon – gaben bloß Ideen Ausdruck, deren Zeit gekommen war.
Vor dem 17. Jahrhundert konnten sich die Menschen nicht einmal im Traum das Wissenschaftliche Programm, welches alles versteht und das Technologische Programm, welches das alles kontrolliert, ausmalen. Die Geheimnisse waren zu groß und die Mächte der Natur zu ehrfurchtsgebietend, unser Wissen zu gering und unsere Technologie zu schwach. Aber ganz allmählich löste die langsame Anhäufung technologischen und empirischen Wissens die unangreifbare Größe der Natur auf, was uns an einen Punkt brachte, von dem aus solch ein Angriff auf die Geheimnisse denkbar wurde.
Die konzeptuellen Fundamente dieses Angriffs wurden von Kepler, Galileo, Bacon und Descartes im frühen 17. Jahrhundert formuliert. Die physikalische Schlüsseleinsicht – entdeckt von Galileo und formalisiert von Descartes – erscheint recht harmlos: ein sich bewegender Körper setzt seine Bewegung in derselben Geschwindigkeit und derselben Richtung ewig fort, bis eine Kraft, z.B. Reibung, auf ihn einwirkt. Vor Galileo nahmen die Menschen natürlicherweise an, dass es konstanter Kraft bedarf, um etwas in Bewegung zu halten: wenn der Ochse aufhört zu ziehen, hört der Karren auf, sich zu bewegen. Galileo sagt dagegen, ohne Kraft geschieht nichts Neues. Bewegte Körper bewegen sich weiter in dieselbe Richtung, ruhende Körper bleiben in Ruhe. Um irgendetwas zu ändern, muss Kraft einwirken.
Warum war das eine so große Sache? Wir leben in einer Welt der Bewegung. Bevor wir die Physik von Galileo, Descartes und Newton verdaut hatten, erschien es als offensichtlich, dass es, damit es Bewegung geben kann, einen Beweger geben muss, ein Wesen, das die Sonne und den Mond in Bewegung hielt, das den Wind blies und den Regen regnen ließ, das die Pflanzen wachsen ließ und die Tiere bewegte. Mit den neuen Gesetzen der Bewegung war kein solcher Beweger mehr nötig. Einmal in Bewegung gesetzt, bewegt sich alles selbst. Es konnte Bewegung allerhöchstens von einem Objekt zum anderen übertragen werden. Gott war nicht mehr nötig, um die Welt in Bewegung zu setzen.
Eine parallele Logik führte ganz natürlich zu dem Denken, entwickelt durch Descartes und andere, dass Tiere möglicherweise auch Maschinen sind und dass auch kein Anima, kein Geist gebraucht wird, um sie zu bewegen. Das Trägheitsgesetz ist damit eine direkte Verneinung der altertümlichen Religion des Animismus. Denke nur an eine von nordamerikanischen Indianern stammende Bezeichnung für Gott: „der Geist, der alle Dinge bewegt“. Mit Galileo und nach ihm Newton ist kein solcher Geist mehr vonnöten. Nichts ist natürlicherweise belebt, sondern bewegt sich nur durch die Einwirkung physikalischer Kräfte. Materie ist naturgemäß tot.
Descartes, Galileo und die anderen glaubten noch immer an Gott, aber sie entfernten ihn aus der Welt der Materie. Gott wurde zum Uhrmacher und die Schöpfung wurde zum abgetrennten Akt und nicht zu einem laufenden Prozess. Das Universum wurde im Grunde genommen zur Maschine. Das Göttliche, einst ganz und gar gleichgesetzt mit der Natur und allmählich abstrahiert durch das Zeitalter der Agrikultur und der Maschine, war nun vollkommen entfernt aus der Welt der Materie.
Mit einem Gott, der nicht länger an der Bewegung der Welt teilnimmt, hält nichts mehr die Menschen davon ab, die Herren der Welt zu werden. Und die Werkzeuge unserer Herrschaft sind die Werkzeuge der Kraft. Es gibt nichts, was wir nicht ändern können, wenn wir nur genug Kraft auf die richtige Weise anwenden. Unsere Macht über das Universum, den Körper und über einander ist nur beschränkt durch die Kraftmenge, die uns zur Verfügung steht, und unser Verständnis darüber, in welchem Punkt wir diese Kraft anzuwenden haben. Darin liegt eine faszinierende Definition für Technologie: es ist ein System von Techniken für die Anwendung von Kraft.
Und wie wissen wir von der korrekten Art der Kraftanwendung? Nur durch die Anwendung von Vernunft auf die quantitative, objektive Beschreibung der Wirklichkeit, wie sie die Wissenschaft zur Verfügung stellt. Unsere Macht liegt mit anderen Worten in den Teilbereichen des Verstandes. Und was ist die Domäne des Verstandes? Welche Aspekte des Universums müssen einbezogen werden? Keplers Antwort lautet folgendermaßen: „Wie das Ohr gemacht ist, Schall zu vernehmen, und das Auge, um Farbe zu vernehmen, so wurde der Verstand geformt, um Quantitäten zu vernehmen.“ Galileo stimmte vollen Herzens zu. Das Gehirn, so glaubte er, sei ganz und gar beschäftigt mit der Verarbeitung von, wie er es nannte, primären Qualitäten: Ausdehnung, Form, Menge und Bewegung. Alles andere, selbst und gerade sensorische Erfahrungen, wie Geräusche, Gerüche und Farben, waren sekundär, außerhalb des Geistesbereichs und außerhalb des Bereiches der Wissenschaft. Denn immerhin teilen wir diese Erfahrungen mit den Tieren, aber die Abstraktion und Quantifizierung, die Galileo dem reinen Geist zuschrieb, sind einzigartige menschliche Wesenseigenschaften. Demzufolge sind wir umso verschiedener von den Tieren und umso höher entwickelt, je vollständiger wir uns diesen Funktionen widmen.
Indem er die Qualiät von der Realität trennt, verbannt Galileo die Subjektivität aus der Wissenschaft und verneint die Wichtigkeit unserer persönlichen Erfahrung in der Welt. Die Wissenschaft strebt heute noch immer danach, alle Abhängigkeit von individueller, subjektiver Erfahrung zu tilgen; sie beschäftigt sich mit dem, was unabhängig von der Subjektivität ist. Lewis Mumford drückt dies klar und einfach aus: „Keplers Vorgaben folgend konstruierte Galileo eine Welt, in der Materie allein Substanz hatte, in der Qualitäten immateriell und damit zu überflüssigen Ausscheidungen des Geistes wurden7“.
Das Evangelium der Objektivität ist so tief in unsere Sprache eingedrungen, dass, wenn wir Worte verwenden, um es auseinanderzunehmen, unbewusst Gefahr laufen, es zu noch zu verstärken. Sieh“ dir nur den eigenartigen Satz von oben an: „... in der Materie allein Substanz hat.“ Darin heißt Substanz haben bedeutsam sein, letztendlich real zu sein8. In dieser Redewendung schwingt mit, dass nur Substanz, also Materie real sei. (Und wie steht es mit dem Gewichtigen?) Wenn wir versuchen würden, die gegenteilige Ansicht auszudrücken, etwa mit „Der Geist hat mehr Substanz als die Materie“, verstärken wir tatsächlich die Vorherrschaft der Materie, wegen der stillschweigenden Annahmen, die in unserer Sprache selbst verkörpert sind.
Und noch viel subtiler verstärkt jeder deklarative „Ist“-Satz die Objektivität, indem er eine vorsorgliche Behauptung über die absolute Realität unabhängig von irgendjemandes subjektiver Erfahrung aufstellt. Siehst du, so ist es eben.
Wenn, was die moderne Physik nahelegt, der Beobachter nicht vom Beobachteten trennbar ist, dann ist jeder Ist-Satz im besten Falle eine Näherung und im schlechtesten eine Lüge. Eine solche Schlussfolgerung wohnt der Abstraktion symbolischer Sprache inne, wie schon in Kapitel II beschrieben. In der Abstraktion symbolischer Kultur sind die entfremdenden Schlussfolgerungen von Kepler, Galileo und Descartes schon vorhanden. Jene Denker haben die Trennung lediglich als ein ideologisches Prinzip formalisiert. Eine schon lange Zeit vorhandene Unterströmung erhob sich nun zur Oberfläche und würde bald alles vor ihr liegende davon spülen.
Galileos Ausschluss Gottes aus der Welt der Materie spiegelt die noch waghalsigere Verbannung der subjektiven Erfahrung aus dem Reich strikter intellektueller Entdeckungen. Nicht nur ihre generelle Erkennbarkeit, sondern selbst ihre Wirklichkeit wurde hinterfragt. Wissenschaft ist das Studium der Wirklichkeit; was nicht messbar ist, ist kein gültiger Gegenstand der Wissenschaft; deshalb ist das, was nicht messbar ist auch nicht real. Ein Jahrhundert später nahm David Hume diese Position mit großem Enthusiasmus auf: „Lasst uns fragen, enthält es irgend eine abstrakte Erklärung im Sinne von Quantität oder Zahl? Nein. Enthält es irgend eine experimentelle Erklärung im Sinne von Tatsachen und Existenz? Nein. Übergebt es also den Flammen; denn es enthält nichts als Sophisterei und Illusion.9“
Zur Verteidigung dieser Philosophen hilft es zu schauen, woher sie kamen. Die Ideologie der Objektivität hatte zuerst zweifellos einen positiven Effekt, indem sie das Denken befreite von den lächerlichen scholastischen Traditionen, die lange schon ihr Wissen in obskuren Bänden des Aristoteles und der Kirchentheologen abgesondert hatte. Das neue wissenschaftliche Wissen war im Gegensatz dazu von jedem nachvollziehbar; wissenschaftliche Experimente für jeden wiederholbar, der es selbst sehen wollte. Es war kein Vertrauen in ein Dogma vonnöten; alles Wissen war der Überprüfung aus erster Hand zugänglich. Die Wahrheit wurde den Händen kirchlicher Hierarchien entwunden. Die Wissenschaftliche Revolution suchte, den Geist zu befreien und nicht, ihn zu binden.
In der Tat ironisch ist der gegenwärtige Zustand der Wissenschaft, in der wieder ungeahnte Bereiche möglicher Untersuchung ausgegrenzt werden; in der experimentelle Befunde, die der Orthodoxie widersprechen, von der Veröffentlichung ausgeschlossen werden; in der Wissen beschränkt ist auf diejenigen, die mit der Sprache ihrer abstrusen Texte vertraut sind; in der sich ganze Felder in fruchtloser Überspezialisierung suhlen; in der die Öffentlichkeit nur noch die Verkündigungen dieser neuen, kirchenähnlichen Hierarchie, den Bewahrer der Schlüssel zu den Toren des Wissens, abwarten darf. Können wir nicht sagen, dass wir die Alte Welt innerhalb der Neuen wiederhergestellt haben? Auf der Wissenschaftlichen Methode, die das Denken vom institutionalisierten, autoritären Aberglauben des Mittelalters befreit hat, haben wir bloß eine neue Orthodoxie aufgebaut, noch totalitärer, vielleicht subtiler, als die erste.
Um zu Galileo zurückzukehren, seine Behauptung, das Universum sei „geschrieben in der Sprache der Mathematik“, ermöglicht grundsätzlich, all seine Geheimnisse dem menschlichen Verständnis und der menschlichen Kontrolle unterzuordnen. Entsprechend versuchen wir bis heute, die Welt zu verstehen, indem wir erstens Daten sammeln und zweitens diese Daten gemäß mathematischen Modellen manipulieren. Die Natur wird dadurch zu etwas Lenkbarem, und das verspricht eine zuverlässige Grundlage für das Technologische Programm der Kontrolle. Mathematisch nahm der Ehrgeiz, das Universum den Zahlen unterzuordnen, Form an in Descartes Koordinatensystem, welches jedem Punkt in Raum und Zeit eine Zahl zuordnet. Descartes war auch einer der ersten, der die potentielle Macht dieses neuen Zugangs zum Wissen voll erfasste, wie etwa in seiner berühmten Textstelle:
Denn diese Begriffe haben mir die Möglichkeit gezeigt, Ansichten zu gewinnen, die für das Leben sehr fruchtbringend sein würden, und statt jener theoretischen Schulphilosophie eine praktische zu erreichen, wodurch wir die Kraft und die Tätigkeiten des Feuers, des Wassers, der Luft, der Gestirne, der Himmel und aller übrigen uns umgebenden Körper ebenso deutlich wie die Geschäfte unserer Handwerker kennenlernen und also imstande sein würden, sie ebenso praktisch zu allem möglichen Gebrauch zu verwerten und uns auf diese Weise zu Herrn und Eigentümern der Natur zu machen. Und das ist nicht bloß wünschenswert zur Erfindung unendlich vieler mechanischer Künste, kraft deren man mühelos die Früchte der Erde und alle deren Annehmlichkeiten genießen könnte, sondern vorzugsweise zur Erhaltung der Gesundheit ...10.
Hier spricht Descartes recht klar über die Beziehung zwischen Wissenschaft und Technologie, die die nächsten drei Jahrhunderte dominieren sollte. Wissenschaft erringt Verständnis, auf dessen Basis Technologie Kontrolle erringt. Wenn wir präzise verstehen können, wie etwas funktioniert, dann ist es denkbar, dass wir es mit unendlicher Präzision kontrollieren können. Und der Zweck all dessen, die Motivation und Rechtfertigung ist es, die Natur zu dominieren, Arbeit abzuschaffen („mühelos die Früchte der Erde genießen“), Komfort sicherzustellen und Krankheiten zu besiegen. Er geht nicht so weit wie das techno-utopische Ideal, den Tod selbst zu überwinden – solch eine Kühnheit musste das 20. Jahrhundert abwarten – aber er entwirft nichtsdestoweniger das Technologische Programm in all seinen wichtigen Details.
Während Galileo und Descartes die Mathematisierung des Universums postulieren, musste die erste vielversprechende Behauptung, diese Meisterleistung tatsächlich erreicht zu haben, auf die definierende Figur der Wissenschaftlichen Revolution warten, Isaac Newton. Mit seiner berühmten Gleichung F = M ⋅A (Kraft gleich Masse mal Beschleunigung) goss Newton Galileos Entdeckung in mathematisch strikte Form. Kraft, und nur Kraft, verursacht Beschleunigung, eine Änderung in der Geschwindigkeit und Richtung der Bewegung.
Newton trieb ebenfalls die Entfernung des Geistes aus der Welt der Materie voran, indem er Himmel und Erde verband. Bis durch das Mittelalter war das Himmelreich kein abstraktes Konzept, sondern wurde buchstäblich mit dem Himmel gleichgesetzt. Dort war es, wo Gott lebte. Der Himmel, das Himmelreich war der Wohnsitz Gottes in der gesamten agrikulturellen Phase der Menschheit. Die Griechen setzten ihre Götter zuerst auf den Berg Olymp und später dann auf einen unsichtbaren, übernatürlichen Olymp im Himmel. Dieselbe Gleichsetzung existierte auch im klassischen China: auf chinesisch bedeutet das Wort tian sowohl Himmelreich, als auch Himmel, und der halbgöttliche Kaiser war der tianzi, der „Sohn des Himmels“.
Vor Newton blieben das himmlische und das irdische Reich getrennt. Das himmlische Reich war das Reich der Perfektion, in dem himmlische Körper sich in perfekten Kreisen (genau genommen Ellipsen) bewegten entlang vorhersagbarer Bahnen. Das irdische Reich war chaotisch; die Ordnung, die es gab – Gezeiten, Tag und Nacht, Jahreszeiten und so weiter – schienen ihren Ursprung im Himmel zu haben. Naturgemäß verbanden die Menschen dann den himmlischen Bereich der Ordnung und mathematischen Perfektion mit Gott. Himmelskörper waren nicht den irdischen Gesetzen unterworfen – der Mond fällt nicht vom Himmel in der Art, wie Galileos Gewichte vom schiefen Turm von Pisa fielen.
Newtons Errungenschaft war es zu zeigen, dass sich, wenn man Gravitation und Kraft verstanden hat, dieselbe Gleichung F = M ⋅A auf beide Bereiche anwenden lässt, den himmlischen und den irdischen. Eine einzige Gleichung ersetzte die empirischen Gesetze sowohl von Galileo als auch von Kepler, die so vollkommen unterschiedlich schienen. Eine Gleichung beschrieb sowohl die Bewegungen der Planeten als auch die Bewegung eines vom Baum fallenden Apfels – eine erstaunliche Vereinigung. Hier war der erste Kandidat für eine „Theorie von allem“, noch heute der Heilige Gral in der Physik. Hier war die erste begründete Hoffnung, dass vielleicht das ganze Universum und alles darin wirklich in mathematischer Form verstanden werden konnte, genauso wie Galileo das gesagt hat.
Interessanterweise waren Newtons Gesetze, selbst als sie die Reduktion der Natur auf die Mathematik vorantrieben, auf einen neuen Fortschritt in eben dieser Reduktion angewiesen. Die Ableitung und Anwendung von Newtons Gesetzen benötigte eine neuartige mathematische Technik, die Analysis, welche Probleme löst, indem sie Zeit als eine Abfolge unendlich kurzer Augenblicke behandelt und damit in letzter Konsequenz Prozess auf Zahl und Werden auf Sein reduziert. Selbst als bloße Mathematik schmuggelt die Analysis eine sehr unterschiedliche Art der Auffassung ein, die vielleicht nicht außerhalb des Kontextes zunehmender Objektivierung der Welt hätte entstehen können. Vielleicht hat Archimedes deshalb nicht die Analysis nicht schon zwei Jahrtausende zuvor erfunden, obgleich er die Technik in Grundzügen auf zahlreiche Probleme der Geometrie angewendet hat. Auf ähnliche Weise ist es vielleicht eine unbewusste Zurückweisung dieses Abstraktionssprungs, der so viele Schüler unfähig macht, Analysis zu begreifen, selbst solchen, die vorher gut waren in Mathematik. Und viele von ihnen denken bis heute, sie wären schwer von Begriff.
Newtons universelles Gravitationsgesetz gab vor, genau das zu sein, nämlich universell. Der menschliche Geist hatte schließlich die tiefsten Geheimnisse des Universums durchdrungen. Das größte Geheimnis wurde offenbart. Newton hatte den Schlüsselmechanismus der göttlichen Schöpfung entdeckt. Das menschliche Reich des Verstandenen umschloss nun den gesamten Kosmos durch eine einzige herrschende Gleichung. Alles, was nun noch benötigt wurde, war das Sammeln von Daten.
Kein Wunder, dass Newtons Entdeckung so aufregend war und warum er selbst eine solch prominente Person war. Dichter sprachen von ihm als dem Entdecker des Schlüssels, der das Universum aufschließt. Sein Epitaph, verfasst von Alexander Pope, lautet: „Natur und Naturgesetze lagen verborgen in der Nacht / Gott sprach: Es werde Newton, und alles ward Licht.“
Es ist von Bedeutung, dass die Begründer der modernen Wissenschaft so sehr mit dem Himmel beschäftigt waren, einem unirdischen Reich, das sich gut für eine Untersuchungsmethode eignete, die danach trachtete, von menschlicher Subjektivität unabhängig zu sein. Dieser Schwerpunkt verbindet sie mit den Priestern altertümlicher Erbauerzivilisationen mit ihren halbgöttlichen Herrschern, den Söhnen des Himmels, den irdischen Repräsentanten des Sonnengottes. Selbst in jenen Tagen schauten die höfischen Priester-Wissenschaftler in den Himmel zu Zwecken der Astrologie und Kalendererzeugung. Wissenschaftler mit ihren Köpfen in den Wolken sind nicht sonderlich befasst mit irdischen Belangen – daher das Stereotyp des zerstreuten Professors. Auch waren sie im Allgemeinen politisch harmlos, so lange sie sich an die Wissenschaft hielten und nicht in die Politik eintraten. Das weltliche Reich sollte getrennt sein vom nicht-irdischen, also himmlischen Reich der Wissenschaft. Die Wissenschaft, und im besonderen die „reine“ Wissenschaft, welche noch höher steht, als die angewandte, ist eine abgehobene Ebene des reinen Denkens, zugänglich nur den am besten ausgebildeten Geistern. Sie ist ganz und gar im Reich des Geistes. Und da Intellekt oder Geist selbst ein einzigartig menschliches Reich ist, stellt die reine Wissenschaft den höchsten Aufstieg der Menschen und der Wissenschaftler den am höchsten aufgestiegenen Menschen dar. Ja, Wissenschaftler sind die moderne Priesterschaft, sie schauen mit ihren mysteriösen Instrumenten in unsichtbare Welten, um die Wahrheit zu erkennen. Wir, die Uneingeweihten, stehen außerhalb ihrer Tempel und erwarten ihre Verlautbarungen.
Die Arbeiten Keplers, Galileos und Newtons gerieten zu einer Eroberung des Firmaments, zu einer Einverleibung der himmlischen Phänomene in den menschlichen Herrschaftsbereich der abstrakten Mathematik. Die buchstäbliche „Eroberung des Weltraums“ musste noch einige Jahrhunderte warten, aber der Ehrgeiz, dies zu tun, war unvermeidlich11. Die Raumfahrt sollte die Erfüllung des menschlichen Schicksals sein; sie versprach eine neue Welt und die endgültige Überschreitung des Alten. Doch als wir schließlich auf dem Mond landeten, geschah nicht viel. Unsere Führer hatten, während sie die generalisierten Hoffnungen ausstrahlten, ihre Köpfe in den Wolken, im Himmelreich. Doch es erwies sich, dass das irdische Reich nicht so leicht zurückzulassen ist. Die Erforschung des Weltraums war ein nie dagewesener und buchstäblicher „Aufstieg“ der Menschheit. Der ursprüngliche Sitz Gottes, die hochstehende Ebene der Wissenschaft war physisch durchbrochen. Wir waren in der Tat in den Himmel eingetreten, und wir fanden, dass wir unsere irdischen Probleme mit uns in die Neue Welt genommen hatten. Wir hatten weder die Biologie noch die Welt hinter uns gelassen; tatsächlich erforderte die Raumfahrt, dass wir sie mit uns nahmen – ein Stückchen Erde eingeschlossen in einer Raumkapsel.
Ebenso sind unsere Vorstöße in die Reiche des Verstandes je unbefleckt von weltlichen Angelegenheiten. Die Kultur der Wissenschaft ist ebenso wenig wie andere Bereiche der menschlichen Sphäre gefeit vor Kleingeistigkeit, Eitelkeit, Politisierung, Betrug, Günstlingswirtschaft und Voreingenommenheit. Und wie in der Raumfahrt erfordert jeder Versuch, eine rationale Gesellschaft oder ein rationales Leben vom zugehörigen unterstützenden organischen Geflecht abzutrennen, enorme Anstrengung, und es setzt es großer Gefahr aus. Ein solches Leben oder eine solche Gesellschaft ist schwächlich, fragil und kurzlebig. Sie können nicht für lange existieren, ohne an die Urquelle des Lebens angebunden zu sein.
Wir sind nicht weniger abhängig von der Natur als ein Astronaut abhängig ist von der Erde. Nur ein sehr törichter Astronaut würde denken, dass er den Planeten nicht mehr braucht: „Hey, ich habe Nahrung, ich habe Wasser, ich habe Sauerstoff ... Ich habe alles!“ So ist die Kurzsichtigkeit der Zivilisation des Feuers, eingeschlossen in ihr eigenes Entdeckergefährt, angetrieben und unterhalten durch die Vorräte – natürliches, soziales, kulturelles und spirituelles Kapital – die sie mitgenommen hat. Unsere Reise hat uns weit getragen, aber zu welchem Endzweck?
Wir haben den Mond erreicht, und er war kahl. Die karge Mondlandschaft von Felsen und Staub ist eine passende Metapher für die Landschaft der Trennung, seien es nun die emotionale Einsamkeit des Vernunftsmannes oder die hässliche Eintönigkeit der Vororte. Doch unser Ausflug – der gesamte Kurs der Trennung – ist nicht ohne Zweck. Um eine Ahnung von dem zu geben, was dieser Zweck sein mag, habe ich einige Zitate von Astronauten ausgewählt, die ihre Erfahrungen beschreiben, als sie von einem Standpunkt auf die Erde schauten, der die extremste buchstäbliche Trennung ist, die die Menschen je erfahren haben12:
Vom Mond gesehen ist die Erde so klein und fragil und ein so kleiner wertvoller
Punkt in diesem Universum, dass du ihn mit deinem Daumen verdecken kannst.
Dann erkennst du, dass auf diesem Fleck, diesem kleinen blauen und weißen Ding,
alles ist, was dir etwas bedeutet – alle Geschichte und Musik und Poesie und Kunst
und Tod und Geburt und Liebe, Tränen, Freude, Spiele, all das gerade da auf diesem
kleinen Fleck, den du mit deinem Daumen verdecken kannst. Und du erkennst aus
jener Perspektive, dass du dich für immer verändert hast, dass es da etwas Neues gibt,
dass die Beziehung nicht länger ist, was sie war.
— Rusty Schweickart
Als ich im Dezember 1972 als letzter Mann auf dem Mond umherging, stand ich in
der blauen Dunkelheit und schaute in Ehrfurcht auf die Erde. Was ich sah, war fast
zu schön, um es zu begreifen. Da war zuviel Logik, zu viel Zweck – es war einfach zu
schön, um nur durch Zufall geschehen zu sein. Es ist egal, auf welche Weise du dich
entscheidest, Gott zu ehren ... Gott muss existieren, um das erschaffen zu haben, was
ich sehen durfte.
— Gene Cernan
Als ich auf der Heimreise durch 240.000 Meilen Raum zu den Sternen und dem
Planeten schaute, von dem ich gekommen bin, erlebte ich mit einem Mal das
Universum als intelligent, liebend und harmonisch.
— Edgar Mitchell
Am ersten Tag deuteten wir alle auf unsere Länder. Am dritten oder vierten Tage
deuteten wir auf unsere Kontinente. Am fünften Tag waren wir nur noch einer Erde
gewahr.
— Sultan bin Salman al-Saud
Es ist nicht wichtig in welchem Meer oder See du einen Verschmutzungsteppich
beobachtest, oder in welcher Länder Wälder ein Feuer ausbricht, oder auf welchem
Kontinent ein Sturm entsteht. Du stehst Wache über der ganzen Erde.
— Yuri Artyukhin
Bei allen Argumenten für und wider die Mondlandung hat niemand vorgeschlagen,
dass wir hinfahren sollten, um die Erde zu betrachten. Aber das mag in der Tat der
wichtigste Grund von allen gewesen sein.
— Joseph P. Allen
Wie seine bezeichnendste Errungenschaft, die Raumfahrt, hat die Wissenschaft uns auf Höhenflüge des Intellekts in ein kaltes, kahles, fremdes Reich genommen und das Leben zu einer Ansammlung von Kräften und Massen reduziert. Und doch hat diese neue Perspektive eine vorher ungeahnte Herrlichkeit eröffnet. Schauen wir durch die Linse der angehäuften wissenschaftlichen Erkenntnisse auf einen Körper oder eine Zelle, wenn wir dessen Komplexität und Orchestrierung, dessen Ordnung und Schönheit, das perfekte Gefüge von Ebenen und Systemen begreifen, dann wissen wir, dass wir Zeugen eines Wunders sind. Ehrfurcht ist die einzig wahrhafte Reaktion. Die Wissenschaft hat uns einen Ort gebracht, an dem wir in lebendiger Ehrfurcht vor dem täglichen Wunder wandeln können, das die Welt ist. In Anlehnung an Joseph Allens Gedanke von oben ist es vielleicht eben das und nicht die Kontrolle, was der wahre Zweck der Wissenschaft ist – die neuen Bereiche des Ehrfurchtsgebietenden zu verstehen.
Sicherlich wurde das andere Ziel der Wissenschaft – die gesamte Natur in den menschlichen Einflussbereich zu holen – verfehlt. Wie mit der in Kapitel II beschriebenen Perfektion des Abbilds erwies sich die Eroberung des Himmels, welche die Erfüllung der Wissenschaft sein sollte, als Halluzination. Newtons Kandidat für die Theorie von Allem, die uns zu Herren des Universums machen sollte, stellte sich bald als unvollständig heraus. So fügten wir neue Gesetze für Elektrizität und Magnetismus hinzu, und zum Ende des 19. Jahrhunderts erschien eine Physik als vollständig, die Maxwells Gleichungen und die Newtonsche Kinetik zusammenfasste – mit Ausnahme einiger lästiger Anomalien, unwichtiger Details, wie etwa die quantisierte Strahlung und die Invarianz der Lichtgeschwindigkeit. Diese führten zur Quantenmechanik und zur Relativität, nach dessen Vereinigung wir noch heute streben. Liest man die populäre Literatur, gewinnt man den Eindruck, dass wir fast angelangt sind. Bald werden die verbleibenden Geheimnisse gelüftet werden. Der neueste Kandidat ist die Stringtheorie – Wissenschaftler arbeiten in diesem Augenblick an den Details!
7 Lewis Mumford, „Mythos der Maschine. Kultur, Technik und Macht.“ Europaverlag: Wien, 1974.
8 Im englischen sagt man „something matters“. Hier ist Materie zur Verbform geworden. [Anm. d. Übers.]
9 Untersuchungen in Betreff des menschlichen Verstandes, Teil II. 1748.
10 René Descartes, „Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Wahrheitsforschung“, Teil 6, 1637.
11 Johannes Kepler sah in seinem zu Beginn des 17. Jahrhunderts verfassten Buch „Traum“ eine Mondlandung tatsächlich voraus, und er schlug sogar Lösungen für verschiedene von ihm vorhergesehene Probleme vor.
12 Diese und viele andere Zitate sind zu finden auf http://www.evolutionarychristianity.org/view.html
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