Der Aufstieg der Menschheit von Charles Eisenstein
Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters
Trotz der Flüchtigkeit der Theorie von Allem schien mit dem Projekt des perfekten Verständnisses und der perfekten Kontrolle bis ins frühe 20. Jahrhundert alles gut zu laufen. Die neuen Gesetze über die Elektrizität und den Magnetismus teilten die Schlüsseleigenschaften des Determinismus, des Reduktionismus und der Objektivität mit der Newtonschen Bewegungslehre. Unter diesen Gesetzen braucht man, um alles zu verstehen und alle Phänomene vorherzusagen, lediglich alle Kräfte auf alle Teile aufzuaddieren.
Wenn wir in der Kinetik nach Newton den Eingangszustand eines Systems kennen, z.B. die Eingangsgeschwindigkeit und den Winkel einer Kanonenkugel plus solche Details wie den Luftwiderstand, wenn man genau sein will, dann wissen wir auch mit mathematischer Sicherheit seinen Zustand zu beliebigen Zeitpunkten in der Zukunft. Das Universum der klassischen Wissenschaft ist selbst ein ebensolches System, zusammengesetzt aus kleinen und großen Massen, beherrscht durch dieselben deterministischen Gesetze. Wenn du den Zustand von irgendetwas im Universum genau genug messen kannst, wirst du seine Zukunft (und seine Vergangenheit) mit absoluter Sicherheit kennen. Wenn du den Zustand von allem im Universum misst, kennst du die Zukunft des gesamten Universums! Das Verständnis des Ganzen kommt durch die Messung seiner Teile. Kennst du die Teile, kennst du das Ganze. Das ist die Doktrin des Reduktionismus, eine Schlüsselkomponente dessen, was Fritjof Capra die „Newtonsche Weltmaschine“ nannte.
Perfektes deterministisches, reduktionistisches Wissen legt die Möglichkeit perfekter Kontrolle nahe13. Kontrolliere die Eingangsbedingungen irgendeines Systems und du kontrollierst das Ergebnis. Wenn das Ergebnis von der Erwartung abweicht, dann liegt das nur an irgendeiner unbekannten Variablen oder an der Ungenauigkeit der Eingangsmessung – unser Wissen war ungenügend oder unsere Kontrolle nicht ausreichend präzise.
Das Technologische Programm fußt auf dem Prinzip des Determinismus. Wenn die Natur natürlicherweise unvorhersagbar und geheimnisvoll ist, wenn sie einer vollständigen Beschreibung in Form von Zahlen auf irgendeine Weise entgeht, wenn identische Eingangsbedingungen jedes Mal unterschiedliche Ergebnisse liefert, dann ist das Ziel perfekter Kontrolle unerreichbar. Das Technologische Programm beruht auch auf dem Reduktionismus. Ein nicht weiter reduzierbares Ganzes ist grundsätzlich mysteriös, Analysen unzugänglich und nur bedingt offen für Kontrolle. Wenn wir etwas im Sinne der Interaktion seiner Teile verstehen können, dann können wir es nachbauen, indem wir jene Teile verändern oder ersetzen. Es ist unter unserer Kontrolle.
Wissenschaft ist die logische Erweiterung der in Kapitel II beschriebenen Benennung und Zählung der Welt. Die ursprüngliche Selbstüberhöhung lag darin, dass wir die Natur, indem wir sie benennen und messen, zur unsrigen machen. Die Wissenschaft hat diese primitive Intuition ausgearbeitet, indem sie im Grunde sagt, wenn wir alles benennen und messen können, dass wir auch im Stande sind, auf alles die Werkzeuge der Mathematik und der deduktiven Logik anzuwenden. Das endgültige Ziel der Sprache, die Kategorisierung und Benennung von allem im Universum, und der Zählung, die Messung und Quantifizierung von allem im Universum, zeigt sich heute in der Wissenschaft als Überfluss an technischem Vokabular, welches jedes einzelne Feld definiert, und als Programm der Quantifizierung, das auch die „weichen“ Wissenschaften erobert hat.
In den Jahrhunderten nach Newton strebten mehr und mehr Felder menschlicher Untersuchungen nach der gelehrten Bezeichnung „Wissenschaft“. Die Kategorie der Wissenschaft erweiterte sich und schloss die Biologie, Medizin, Archäologie, Anthropologie, Ökonomie, Soziologie und die Psychologie ein, um fortschreitend die Gebiete des Qualitativen und Subjektiven zu annektieren. Die Chemie sollte auf die Physik reduziert werden, die Biologie auf die Chemie, der Organismus auf die Zellen, das Gehirn auf die Neuronen, die Wirtschaft auf individuelles Verhalten. Das Ziel all dessen war die Rückführung aller Wissenschaft auf die Gewissheit der Physik, ausgedrückt als ein System von Axiomen, so dass es seine Unfehlbarkeit aus der Mathematik ableiten kann.
Bis heute wendet sich jedes Erkenntnisfeld, welches den Status einer Wissenschaft in Anspruch nimmt, an die Mathematik als Gewähr, entweder direkt oder indem durch den ausufernden Gebrauch technischen Jargons eine Exaktheit von Bedeutungen nahegelegt wird, der die Anwendung der Methoden des deduktiven Denkens erlauben soll. Wir spielen jedesmal mit, wenn wir wieder einmal dem Drang nachgeben, einen wissenschaftlichen Text mit den Worten „Unsere Definitionen lauten“ oder „Unsere Annahmen lauten“ zu beginnen – eine offenkundige Imitation der axiomatischen Methode. Dieselbe reduktionistische Mentalität motiviert unsere pädagogische Betonung der „Analyse“, was wörtlich bedeutet, etwas zu zerschneiden. Eine Situation zu analysieren bedeutet, sie auf ihre konstituierenden Teile herunterzubrechen. Das ist es auch, was wir kollektiv tun, wenn wir das Wissen in Gebiete, Untergebiete und Spezialisierungen und innerhalb dessen Unterspezialisierungen zersplittern.
Wenn direkte Reduktion auf etwas Physikalisches unmöglich war, so würde das ehrgeizige Forschungsfeld stattdessen die Physik imitieren. Deshalb hören wir in den „Sozialwissenschaften“ ständig von „Gesetzen“ – die Gesetze der Geschichte, die Gesetze der Marktwirtschaft, die Gesetze menschlichen Verhaltens – oder auch psychologischen „Spannungen“, historischen „Kräften“, wirtschaftlichen „Mechanismen“ und politischen „Trägheiten“. Dies rechtfertigt einen ingenieursmäßigen Ansatz bei menschlichen Institutionen und nährt die Illusion, dass auch diese mit Hilfe abstrakter Methoden und wissenschaftlichem Denken verstanden und schließlich kontrolliert werden können. Selbst in Feldern, in denen es keine direkten physikalischen Metaphern gibt, bleibt das Streben nach Gewissheit innerhalb der reduktionistischen Kampagne, um gleichlautend mit der Physik das Komplexe mit dem Einfachen, dem Messbaren, dem Quantifizierbaren, dem Kontrollierbaren zu erklären.
Schauen wir auf die Wirtschaftswissenschaften, die das „Gesetz“ des rationalen Eigeninteresses auf seine atomistischen Einheiten, den individuellen Menschen, anwendet. Übergeordnete Gesetze, wie das von Angebot und Nachfrage, sind den Gesetzen der Planetenbewegung in dem Sinne verwandt, als dass sie sich von untergeordneten Gesetzen ableiten lassen. Sind einmal die Axiome gesetzt, ist alles andere nur noch Mathematik. Natürlich war der Erfolg im Streben der Wirtschaftswissenschaften nach mathematischer Gewissheit immer wieder flüchtig, wenn man nach ihrer Unfähigkeit urteilt, zutreffende Vorhersagen aus den „Eingangsbedingungen“ zu leisten. Aber die Ökonomen schließen daraus keinesfalls, dass ihr Forschungsgegenstand mathematischen Methoden nicht zugänglich wäre; gerade im Gegenteil, sie glauben, die Mathematisierung sei noch nicht weit genug gegangen. Bessere Daten vielleicht oder präzisiere Charakterisierung verschiedener unkontrollierter Variablen menschlichen Verhaltens, und die Wirtschaftswissenschaften würden schließlich ihren wissenschaftlichen Vorspiegelungen gerecht werden.
Auf dem Grund des reduktionistischen Programms liegt nichts Geringeres als die Theorie von Allem, eine moderne Version des universellen Newtonschen Gravitationsgesetzes, welches alle Kräfte einschließen würde. Von da aus würden fortschreitend alle übergeordneten Gesetze der Chemie, Biologie, Psychologie, Soziologie und Geologie bis hinauf zur Kosmologie abgeleitet, so dass jede Frage eine Frage der Wissenschaft würde, mathematisch ableitbar von physikalischen Gesetzen und Daten. Dieser Ehrgeiz wurde sehr früh in der Wissenschaftlichen Revolution von Leibniz ausgedrückt, der schrieb, „Es wird dann beim Auftreten von Streitfragen für zwei Philosophen nicht mehr Aufwand an wissenschaftlichem Gespräch erforderlich sein als für zwei Rechnerfachleute. Es wird genügen, Schreibzeug zur Hand zu nehmen, sich vor das Rechengerät zu setzen und zueinander (wenn es gefällt, in freundschaftlichem Ton) zu sagen: Laßt uns rechnen.“14
Sicherlich ist eine solche Reduktion der Natur auf die Mathematik nur so mächtig und zuverlässig, wie die Mathematik mit der sie unterlegt ist. Während der Wissenschaftlichen Revolution wurde die Mathematik als Quelle untrüglichen Wissens angesehen. Kants „notwendige Wahrheiten“, die nicht anders sein können, stehen im Gegensatz zu den „bedingten Wahrheiten“ der empirischen Beobachtung, die man sich auch kohärent anders vorstellen könnte. 15 Weil die Mathematik das Grundgestein ist, auf dem das gesamte Gebäude der Wissenschaft ruht, hat man Anfang des 20. Jahrhunderts viel Energie investiert, um die Mathematik auf ein festes axiomatisches Fundament zu stellen. Dieses Program fuhr in den 1930ern mit den Arbeiten von Gödel, Turing und Church, die in Kapitel VI beschrieben werden, gegen eine Wand, aber wie der Rest der Newtonschen Weltmaschine übt sie immer noch ihren Einfluß mit der allgemein unausgesprochenen Annahme aus, dass das zuverlässigste und gültigste Wissen jenes ist, welches in Form von Zahlen ausgedrückt werden kann.
Die Welt der Kontrolle, die der Determinisumus eröffnet, erstreckt sich weit über die Wissenschaft und Technologie hinaus. Auch in der Politik und tatsächlich im persönlichen Leben ruht Kontrolle auf ähnlichem Fundament: die Anwendung von Kraft auf der Basis von präzisen Daten über die Welt. Entsprechend sind machthungrige Politiker und totalitäre Regierungen besessen von der Kontrolle der Informationsflüsse, weil nach ihrer Sicht Wissen Macht ist. Dasselbe gilt für alle Kontrollpersönlichkeiten. Sie wollen Einblick in Privatinformationen; sie wollen deine Geheimnisse kennen; sie hassen es, wenn etwas hinter ihrem Rücken geschieht.
Dass Wissen gleichbedeutend ist mit Information, ist eine direkte Folge der Weltsicht, die mit der Newtonschen Kinetik aufkam. Wir versuchen alle „Kräfte“ zu entdecken, die auf eine Situation Einfluss haben; kennen wir sie, können wir das Ergebnis kontrollieren, vorausgesetzt, dass wir ausreichend Kräfte zur Verfügung haben. Ob in der Physik oder der Politik, Kraft plus Information ist gleich Kontrolle. Denk an diese Formel, wenn du nächstes mal die Nachrichten liest: C = F + I.
Tatsächlich funktioniert diese Strategie nur in bestimmten engumschriebenen Umständen. Sie scheitert kläglich in nicht linearen Systemen, in denen Wirkungen auf die Ursachen rückwirken. Kleine Fehler führen zu großen Unsicherheiten und radikal unvorhersehbaren Ergebnissen. Die Situation gerät außer Kontrolle. Gefangen in einer Newtonschen Geisteshaltung sind wir hilflos zu reagieren, höchstens vielleicht mit mehr Kontrolle. Die Bushregierung war ein gutes Beispiel dafür, sie logen verzweifelt, vertuschten und manipulierten Informationen, um die Folgen früherer Lügen und Manipulationen zu kontrollieren. Ich denke auch an einen Süchtigen, der versucht, ein Leben zu regeln, das auseinanderbricht, oder einen fremdgehenden Ehemann, der versucht, die sich ausweitenden Beweise seiner Untreue zu verbergen. Das Rational, welches sich auf Newton bezieht, sagt, dass das funktionieren sollte. Es ist nur eine Frage, wie gründlich man mögliche Ursachen eines Zusammenbruchs aufspürt. Mit ausreichend Information und Kraft sollten wir in der Lage sein, jede Situation zu regeln.
Wenn ich nur „dahinter komme“, dann werde ich vielleicht auch mein Leben in den Griff kriegen. Wenn ich nur ausreichend Kraft, ausreichend Willensstärke aufwenden könnte, dann könnte ich es vielleicht meinem Wunschbild anpassen. Ob nun kollektiv oder persönlich, was war das nur für ein trügerisches Versprechen!
Eine andere Art, darauf zu schauen, ist, dass es nicht funktionieren wird, es noch stärker zu versuchen. Doch ist genau das unsere typische Antwort auf Misserfolg, sowohl auf der kollektiven wie auf der persönlichen Ebene. Wenn wir bei der Erfüllung unserer guten Vorsätze für das neue Jahr scheitern, was folgern wir dann? Wir haben es nicht stark genug versucht, wir haben nicht genug Willensstärke aufgewendet. Ebenso handeln wir, als ob mehr Technologie, mehr Gesetze, mehr Wachsamkeit Erfolg haben werden, wo Technologie, Gesetze und Wachsamkeit vorher scheiterten. Aber größere Anstrengungen in unserem gegenwärtigen Zustand verstärken nur unseren Zustand. Der Gebrauch von größeren Kräften befördert die Mentalität des Kraftgebrauchs. Methoden, die ihren Ursprung in der Trennung haben, machen die Trennung nur schlimmer. Kann sich heute noch jemand daran erinnern, dass man inbrünstig glaubte, der Erste Weltkrieg wäre „der Krieg, der alle Kriege beenden würde“? Trotz dieses beeindruckenden Scheiterns lebt eine vergleichbare Logik fort im gegenwärtigen „Krieg gegen den Terror“.
Dank der Wissenschaft haben wir mehr Informationen über die Welt als je zuvor. Dank der Technologie haben wir ebenso nie dagewesene Fähigkeiten, Kräfte anzuwenden. Und doch haben wir trotz Jahrhunderte währendem Fortschritt bei den Technologien der Kontrolle alles in allem wenig Fortschritte bei der Verbesserung ökologischer, sozialer und politischer Bedingungen gemacht. Im Gegenteil: unser Planet taumelt in die Katastrophe. Was ist die Quelle dieses Scheiterns? Wir haben versucht, die lineare Strategie C = F + I jenseits ihres vorgesehenen Bereiches anzuwenden. Mit einem komplexen Problem konfrontiert, bricht der Ingenieur oder Manager es auf seine Teile hinunter, wobei jeder Prozess ein getrenntes Modul ist, das eine Funktion aus einer Serie spezialisierter Funktionen erfüllt. Organische wechselseitige Abhängigkeit und Rückkopplung ist fatal für solche Systeme der Handhabung und Kontrolle. Die Leistung eines jeden Teils eines organischen, nicht linearen Systems kann nicht abgetrennt vom Rest verstanden oder vorhergesagt werden, sondern nur in Beziehung zu allen anderen Teilen. Solche Teile sind nicht länger frei austauschbar, und die Methodologie des Reduktionismus ist machtlos.
Die Lösung für viele Jahrhunderte war es zu versuchen, dasjenige linear zu machen, was tatsächlich nicht linear ist. Manchmal tun wir dies sehr mild: In der Mathematik, zum Beispiel, benutzen wir numerische Methoden, um Lösungen von nicht linearen Differentialgleichungen zu nähern, die im allgemeinen analytisch unlösbar sind. Viel düsterer ist der Versuch, menschlichen Institutionen und den Menschen selbst Linearität aufzuzwingen, was die Zerstörung all dessen notwendig macht, was organisch, traditionell und autonom ist. Alles muss rational geplant sein, und jede Person wird zu einem getrennten, standardisierten Element einer enormen Maschine. In der Medizin sind Folgen der Reduktion des Organischen zu etwas Linearem ebenso schrecklich. Dies sind nur zwei Facetten der allumfassenden „Welt unter Kontrolle“, die ich in Kapitel V beschreibe.
Ich sage nicht, dass die reduktionistische Wissenschaft und die darauf gründende Technologie machtlos sind. Im Gegenteil hat sie die gesamte Infrastruktur unserer Gesellschaft hervorgebracht, von Brücken und Wolkenkratzern bis zu Batterien und Mikroprozessoren, und zwar aus standardisierten Komponenten und gemäß generalisierter Prinzipien. Die Reduktion der unendlich diversen natürlichen Welt auf eine endliche Menge von Standardinputs und -prozessen funktioniert tatsächlich – bei Anwendungen, bei denen die unvermeidlich verbleibenden Unterschiede nicht ins Gewicht fallen. Für diese praktischen Zwecke ist jedes Elektron, jedes Eisenatom, jeder Tropfen Wasser, jeder Granitblock, jede „qualifizierte menschliche Ressource“ gleich. Für diese praktischen Zwecke, aber nicht für alle praktischen Zwecke – dies ist der Wahn, in den uns unser Erfolg geführt hat. Reduktionistische Wissenschaft und Rationalität selbst gründen beide auf der Abstraktion von Regularitäten in der Natur und erlauben uns, ein in der Tat sehr hohes Gebäude zu errichten, das näher an den Himmel reicht als je zuvor. Doch sind wir dem Himmel paradoxerweise nicht näher als am Anfang.
Wir haben die Meisterschaft im linearen Bereich erzielt und haben versucht, diesen Bereich zu erweitern, um das Universum einzuschließen. Die meisten Systeme der wirklichen Welt, und das schließt lebende Organismen ein, sind allerdings hoffnungslos nicht-linear. Aus dieser Erkenntnis wird im Allgemeinen ein neuer Ansatz der Ingenieurswissenschaft und des Problemlösens entstehen, der nicht damit anfangen wird, das Problem in Teile herunterzubrechen. Unser ganzes Konzept vom „Design“ wird sich ebenso entwickeln, weg von hierarchischen, modularen Ansätzen, hin zu jenen, die auf Selbst-Organisation und Emergenz gegründet sind. Indem wir das tun, wird ein bestimmter Grad an Gewissheit und Kontrolle verloren gehen. Unsere Beziehung zur Natur, zueinander und zum Universum wird sich radikal wandeln. Diese Verschiebung kann nur als Teil einer grundsätzlichen Transformation unseres Selbstverständnisses und davon, wer wir in Beziehung zum Universum sind, geschehen. Wir werden die Kontrolle loslassen müssen und uns der Angst hinter diesem Zwang stellen. Lewis Mumford hat folgendes identifiziert: „Heute überlebt diese fast krankhafte Furcht vor dem, was sich direkter Untersuchung und Kontrolle entzieht – externer, vornehmlich mechanischer, elektronischer oder chemischer Kontrolle – als wissenschaftliche Entsprechung eines viel älteren Atavismus, der Furcht vor Dunkelheit“16. Kontrolle loszulassen bedeutet also, dass das Zeitalter des Feuers, in dem der Kreis der Häuslichkeit den menschlichen Bereich als das Beleuchtete definiert, zu Ende geht. Wir werden uns wieder heimisch fühlen in der Dunkelheit: heimisch im Geheimnis, in der Ungewissheit, in der Unvernunft. Oder zumindest werden wir nicht länger fürchten, dort hinein zu gehen.
13 Tatsächlich folgt außer in einfachen linearen Systemen aus dem Determinismus praktisch weder Vorhersagbarkeit noch Kontrolle, aber das wurde bis zur Ankunft der Chaostheorie in der letzten Jahrhunderthälfte kaum verstanden.
14 Diese Passage hinterließ bei mir einen sehr starken Eindruck, als ich sie in einem Philosphieseminar an der Universität zum ersten Mal las. Es ist nicht von geringer Bedeutung, dass zwischen Buchhaltern Meinungsverschiedenheiten entstehen können und mit großer Sicherheit auch entstehen! Aussagen können innerhalb eines formalen Systems bewiesen werden, aber die Korrespondenz dieses Systems zur Wirklichkeit kann nicht mathematisch bewiesen, sondern nur empirisch argumentiert werden.
15 Mit anderen Worten, 2 + 2 = 4 ist eine notwendige Wahrheit, die nicht anders sein könnte, während wir uns eine Welt mit anderen physikalischen Gesetzen vorstellen könnten, welche deshalb bedingte Wahrheiten sind. Selbst hier finden wir die ungenannten Annahmen der Objektivität, dass die Gesetze der Physik getrennt sind von uns selbst, die wir uns diese Gesetze überlegen.
16 Mumford, S. 72
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