Der Aufstieg der Menschheit von Charles Eisenstein
Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters
Der Mensch muss endlich aus einem Jahrtausende alten Traum erwachen; und in dem
er das tut, erwacht er in seiner totalen Einsamkeit, seiner fundamentalen Isolation.
Nun erkennt er zumindest, dass er wie ein Zigeuner am Rande einer fremden Welt
lebt. In einer Welt, die taub ist für seine Musik und ebenso gleichgültig gegenüber
seinen Hoffnungen, seinem Leid oder seinen Verbrechen. |
Der Reduktionismus verneint nicht andere Arten von Erklärungen, aber er behauptet, die reduktionistische Erklärung sei die grundlegende oder die wichtigste. „Warum habe ich gerade an meiner Nase gekratzt?“ Die reduktionistische Erklärung geht ungefähr so: „Eine Rezeptorerregung in der Nasenschleimhaut sendete einen bioelektrischen Impuls zu einem Hirnneuron, welches mit einem anderen Neuron durch synaptische Ausschüttungen von Neurotransmittern kommunizierte, und dieses wieder mit einem anderen, um schließlich eine Muskelgruppe dazu zu veranlassen, in einer bestimmten Reihenfolge zu zucken, damit meine Hand an die Nase gehoben wurde.“ Natürlich lautet eine andere Erklärung, „weil es juckte“, aber dieses übergeordnete Phänomen ist nichts anderes, als die Summe verschiedener (letztendlich biochemisch charakterisierbarer) Zustände von Nervenzellen, und so weiter. Das ist es, was „kitzelte“ wirklich bedeutet, stimmt’s?
Und warum umarmte ich meinen fünfjährigen Sohn, als er weinte? Wieder durch eine lange Folge vollständig deterministischer chemischer und elektrischer Ursachen und Wirkungen. Schallwellen stimulierten Neuronen im Ohr, welche eine Menge neuronaler Feuerungsmuster und Hormonausschüttungen bewirkten; diese stimulierten wieder andere Neuronen, die verschiedene muskuläre Kontraktionen bewirkten, die einen tröstenden Gesichtsausdruck und Schallwellen und eine Umarmung erzeugen. Natürlich könnte ich sagen: „Ich umarmte ihn, weil ich ihn trösten wollte“, aber wie alles andere, reduziert sich dieses „Wollen“ auf einen bestimmten Zustand von Materie. „Ja, du wolltest ihn umarmen, aber was es wirklich bedeutet, ist eine Ausschüttung von Hormonen A, B und C, Neurotransmittern D, E und F, ein bestimmtes Feuerungsmuster in der Formatio reticularis des Gehirns, und so weiter. Das ist es, was „≫Umarmen wollen≪ wirklich ist.“
Die Absurdität dieser Aussagen enthüllt den Reduktionismus als eine Ideologie, und nicht notwendigerweise als die Art, in der Wissenschaft wirklch praktiziert wird. Selbst wenn wir die Umarmung auf ein Ensemble elementarer Partikel und Kräfte reduzierten, würde das überhaupt nichts erklären, es sei denn, wir interpretierten verschiedene einhergehende Zustände als übergeordnete Funktionen, wie Liebe, Trost und so weiter. Darüber hinaus sind teleologische Erklärungen17 in der Wissenschaft sehr üblich, wie etwa in „Warum schwimmen die Lachse landeinwärts?“ Um ihre Laichgebiete zu erreichen.“ Die Ideologie des Reduktionismus sagt, dass solche Aussagen nur Platzhalter sind für „tiefere“ Erklärungen; zum Beispiel, dass einige genetische Faktoren biochemische „Mechanismen“ erzeugen, die das Laichverhalten produzieren.
Seinem Namen gerecht werdend, versucht der Reduktionismus das Komplexe durch das Einfache zu erklären. So wie Newton eine einfache Formel gebrauchte, um Keplers komplexe, empirische Gesetze der Planetenbewegung zu erklären, nimmt der Reduktionismus an, dass alles komplexe Verhalten aus der Summe einiger weniger Typen einfacher Interaktionen entsteht. Die kinetische Theorie der Gase ist beispielsweise ableitbar aus den statistischen Eigenschaften vieler, kleiner Teilchen, die aneinander stoßen. Die übergeordneten Gesetze von Druck, Volumen und Temperatur entstehen auf der untergeordneten, fundamentaleren Ebene – der Newtonschen Kinetik. Diese sind die der Wirklichkeit zugrunde liegenden Erscheinungen. Indem man das Komplexe auf das Einfache reduziert, können wir Leibniz folgen. Lasst uns rechnen!
Um einen unendlichen Regress zu vermeiden, muss das reduktionistische Programm schließlich auf fundamentalen Bausteinen ruhen, den nicht weiter reduzierbaren Bausteinen oder „Elementen“. Das häufige Auftreten dieses Wortes in einführenden Lehrbüchern („Elemente des ...“) spricht von unseren reduktionistischen Annahmen. Beginne mit den Grundlagen und baue darauf auf. Dieser Ansatz in der Pädagogik ist nicht nur langweilig, sondern auch ineffizient, wie jeder bezeugen wird, der sich durch einen Kurs in organischer Chemie oder zu Differentialgleichungen gekämpft hat. Eine viel bessere Art, Mathematik und Wissenschaft zu lehren und zu lernen, ist in einem historischen Kontext. In einem Einführungskurs in abstrakter Algebra, zum Beispiel, beginne nicht mit einer Auflistung der Axiome, die eine Gruppe definieren. Beginne mit einem historischen Schlüsselproblem, sagen wir der algebraischen Unlösbarkeit quintischer Gleichungen, und zeichne dann die Schritte wachsender Abstraktion nach, durch die das Problem gelöst wurde. Imitieren wir die Geschichte, gelangen wir zu den Axiomen am Endpunkt und nicht am Startpunkt eines Feldes der Mathematik. „Die Grundlagen“ erfordern Kontext, Interesse und Motivation.
Die Idee, dass alle Erscheinungen bloß unterschiedliche Permutationen von einigen wenigen grundlegenden Elementen sind, geht schon zurück auf die altertümliche Zeit – die fünf Elemente der Chinesen, die vier Elemente der Griechen, die drei Doshas der Hindus – aber am meisten wird sie mit den griechischen Atomisten in Verbindung gebracht18. Diese Idee nährt den Glauben an die Möglichkeit vollständiger Kontrolle der Natur: alles, was wir zu tun brauchen, ist, diese wenigen Bausteine zu beherrschen. Ob nun ein griechischer Arzt die Körperteile den vier Säften zuordnet, oder ob ein moderner Nanoingenieur versucht, Materie Atom für Atom aufzubauen, der Reduktionismus bietet dieselbe Vision von unbegrenzter Macht über die Natur.
Die komplexe Welt unserer Erfahrungen auf die Einfachheit einer endlichen Zahl von Elementen zu reduzieren, findet eine Parallele in der in Kapitel II beschriebenen Reduktion des Einzigartigen auf das Allgemeine durch die Sprache und die Messung. Einzigartigkeit ist eine Illusion: Alle Objekte sind bloß verschiedene Abwandlungen von identischen, allgemeinen Protonen, Neutronen und Elektronen (halten wir es für den Augenblick mal einfach). Das Reduktionistische Programm betrachtet zwei Exemplare eines einzigen Elements als identisch. Ein Elektron ist ein Elektron ist ein Elektron. Dasselbe gilt für ein Proton, ein Neutron und damit für alles, was aus ihnen besteht – alle Atome und alle Materie. Gewissheit und Kontrolle erfordern beide diese Gleichförmigkeit der Elemente. Haben wir ein Ding erstmal auf seine Elemente reduziert, haben wir es vollständig charakterisiert. Es gibt keine weiteren Variablen, keine Individualität, keine Einzigartigkeit jenseits unseres Verständnisses. Reduktionismus sagt, dass die Reduktion der unendlichen Wirklichkeit auf eine endliche Menge von Etiketten und Daten tatsächlich überhaupt keine Reduktion sei. Wenn man es weit genug treibt, können Etiketten und Zahlen die Wirklichkeit vollständig erfassen, ohne etwas auszulassen.
Es wäre also ein Disaster für den Reduktionismus, wenn jedes bißchen Materie im Universum einzigartig wäre, wenn jeder Tropfen Wasser verschieden von jedem anderen wäre, wenn jedes Elektron seine eigene Persönlichkeit hätte. Natürlich ist dies genau die Art, in der prätechnologische Völker die Welt sahen. Animisten sehen einen Geist in allem, so dass kein Fels einfach ein Fels, kein Löwenzahn einfach ein Löwenzahn, kein Wassertropfen einfach ein Wassertropfen ist. Ein Jedes hat eine Individualität, die keine noch so feine Etikettierung je fassen kann. Eigenartig genug, dass die Quantenmechanik genau das zu bestätigen scheint. Bei identischen experimentellen Gegebenheiten werden sich zwei Elektronen unterschiedlich verhalten, als ob jedes eine andere Persönlichkeit hätte. Die konventionelle Interpretation begegnet dieser Situation wahrscheinlichkeitstheoretisch und besteht darauf, dass die zwei identisch sind. Die Möglichkeit, dass irgendwelche zwei Materieteilchen des Universums irreduzibel einzigartig sein könnten, wird nur selten in Betracht gezogen, denn das würde das Reduktionistische Programm torpedieren und die Wirklichkeit für immer der vollständigen Beschreibung und Kontrolle entziehen. Quantenmechanische Interpretationen wie die eines David Bohm, dessen „verborgene Variablen“ ein Zugeständnis ausdrücken, dass Elektronen, die sich unterschiedlich verhalten, sich auch unterscheiden, sind deshalb eine Lästerung bei den wissenschaftlichen Meinungsführern. Denn am Schluss führen sie uns zurück zum Animismus19.
Das gleiche gilt für die aufkeimende Erkenntnis, dass Wasser keine uniforme Flüssigkeit ist, sondern das in der Tat jeder Tropfen Wasser auf diesem Planeten strukturell einzigartig ist. Die gängige Wissenschaft hat diese Information lange ignoriert, weil es nicht mit dem Programm vereinbar ist, die Wirklichkeit auf eine Handvoll generischer Elemente oder Bausteine zu reduzieren. In dieser Formulierung sehen wir wieder die Motivation des Programms: dass wir vielleicht auch diese Bausteine verwenden könnten, um eine verbesserte Wirklichkeit unserer Wahl zu erschaffen.
Die Macht und Gewissheit, die wir erhalten, indem wir die Natur auf ihre Elemente reduzieren, ist nur in dem Ausmaß anwendbar, in welchem diese Elemente tatsächlich grundlegend sind. Vielleicht erklärt dies den enormen institutionellen Widerstand gegen die Forschungen eines Louis Kevran, eines respektierten französischen Chemikers, der in den 1960ern überzeugende Resultate für häufig auftretende, biologische Umwandlungen bestimmter Elemente bei niedrigen Temperaturen lieferte20. Diese Befunde haben auch den erfolgreichen Versuch angetrieben, die scheinbar willkürlichen, ungeordneten und komplexen Eigenschaften chemischer Elemente im Sinne einiger weniger, einfacher subatomarer Partikel zu erklären, gefolgt von dem weniger erfolgreichen Versuch, die verschiedenen subatomaren Kräfte mit ihren scheinbar willkürlichen Werten in eine einzige Kraft zu der „Theorie von Allem“ zu vereinigen, von der ich oben sprach. Heute ist der Ehrgeiz, alles auf einige wenige Bausteine zu reduzieren, in tiefen Schwierigkeiten, da eine ausufernde Menagerie „grundlegender“ Partikel, von denen es sogar mehr gibt, als die ursprünglichen 92 Elemente, notwendig ist, um alle in der Physik beobachteten Wechselwirkungen zu erklären. Man erzählt uns, dass die Physiker dabei sind, eine umfassende Feldtheorie zu formulieren, die diese Partikel wiederum auf eben soviele Permutationen von etwas fundamentalem reduziert. Die Parallele zwischen dieser Theorie von Allem, die seit Einstein jeden Augenblick zu erwarten ist, und dem technologischen Utopia fällt sehr ins Auge. Es ist nur eine Frage von wenigen weiteren Entdeckungen.
Können wir eine bessere Version der Wirklichkeit mit endlich vielen Bausteinen konstruieren? Nur wenn auch die Wirklichkeit selbst endlich ist. Können wir einen Turm bis in den Himmel bauen? Nur wenn der Himmel endlich weit entfernt ist. Interessanterweise behauptet die gegenwärtig orthodoxe Kosmologie ein endliches Universum: begrenzt im Makroskopischen und diskret im Mikroskopischen. Die erste Grenze ist das Produkt der Urknall-Kosmologie; die zweite der Stückelung von Zeit und Raum. Alle möglichen Variablen im Universum haben einen endlichen Wertebereich. Die Zahl der Permutationen ist mehr als astronomisch und für alle praktischen Belange unendlich, aber es bestärkt die Täuschung, die uns seit dem 17. Jahrhundert begleitet: das gesamte Universum ist nichts als Zahl. Es gibt keinen Aspekt der Wirklichkeit, der nicht eines Tages in den menschlichen Einflussbereich gebracht werden könnte.
Im Herzen des reduktionistischen Programms finden wir eine tiefe Annahme über das Wesen der Wirklichkeit. Entgegen der Argumentation in Kapitel II, dass wir die Welt durch unsere Etikettierung und Zählung reduzieren und verarmen, nimmt der Reduktionismus an, dass nichts Wesentliches verloren geht. Das bedeutet, dass was immer verschwunden zu sein scheint – Heiligkeit, Schönheit, Bedeutung, Geist – von Anfang an nie existiert hat. Sie sind Illusionen, menschliche Projektionen, nicht Teil der harten, kalten Realität. Wenn wir die Welt auseinandernehmen, dann sind sie nicht da. Wenn sie existieren, wo sind sie dann?
Wo ist der menschliche Geist? Er ist nicht, wie Descartes behauptete, in der Zirbeldrüse. Er ist nicht im Herzen. Er ist nicht in der Hirnanhangdrüse, in der Leber, im Magen. Nimm eine Person auseinander, und du wirst ihn nicht finden. Reduktionismus behauptet, dass, wenn etwas existiert, können wir es extrahieren, isolieren, es heraustrennen. (Bemerke, dass auch hier die Religion mit der Wissenschaft übereinstimmt. Die Seele ist getrennt vom Körper und kann herausgetrennt werden.)
Wo ist die Schönheit? Sie ist in einem Schmetterling, aber wenn wir ihn chloroformieren, ihn auf einen Seziertisch legen und auseinanderschneiden, ist die Schönheit fort. Schönheit ist in einem Gedicht, aber wenn wir es überanalysieren, um herauszufinden, was daran genau schön ist, verschwindet die Schönheit auch daraus. Schönheit ist in einem Gemälde, aber können wir sie auf quantitative Maße von Farbe und Proportion reduzieren und diese dann anwenden, um standardisierte Schönheit zu produzieren? Nein. Schönheit ist eine Beziehung, nicht eine objektive Eigenschaft, und die Massenproduktion standardisierter Beziehungen gebiert notwendigerweise eine Ästhetik, die gleichermaßen vorgetäuscht, standardisiert und billig ist.
Wo ist Heiligkeit? Derselben tiefsitzenden Ideologie ihrer wissenschaftlichen Brüder folgend, haben die religiösen Autoritäten versucht, die Heiligkeit ebenso zu isolieren, sie auf Bibeln, Kreuze und Kirchen zu begrenzen. Die extremste Ausprägung dieser Trennung stimmt in ihrer Entstehung zeitlich mit ihrem wissenschaftlichen Gegenstück im 16. und 17. Jahrhundert überein. Die protestantische Bewegung schloss fortschreitend das Göttliche mehr und mehr aus der menschlichen Welt aus. Früher hatte die katholische Kirche das Göttliche aus den gewöhnlichen Menschen entfernt; nun begannen die protestantischen Reformisten, es von Maria und auch von den Heiligen zu entfernen, so dass alles, was von der ursprünglichen Welt des Allgöttlichen übrig blieb, ein einziges, isoliertes Körnchen Göttlichkeit war, das durch Jesus Christus verkörpert wird.
Kann irgendetwas wirklich abgetrennt vom Rest des Universums verstanden werden? Die Wissenschaftskultur der letzten 400 Jahre sagt „Ja“. Wir entdecken die Wirklichkeit, indem wir sie un-organisieren: Teile isolieren, Variablen eliminieren, von Außeneinflüssen abschirmen. Daher bringt der Insektenforscher tote „Exemplare“ zurück ins Labor; der Geologe bringt Proben; der Physiologe seziert Kadaver, und der Chemiker sucht reine, von den chaotischen Verschmutzungen der Welt befreite Substanzen. Solche Methoden haben durchaus ihren Nutzen. In der Tat haben sie eine Welt geschaffen, die zumindest oberflächlich sehr verschieden ist von der, die wir vor 400 Jahren kannten. Diese Methoden sind allerdings unfähig, etwas zu erfassen, das nur in Beziehung existiert, etwas, das, wenn du das Ganze in Einzelteile zerlegst, nicht länger da ist. Was sind diese Dinge, die nur in Beziehung existieren, die Eigenschaften von Gesamtheiten sind und nicht von Teilen? Hier sind ein paar Beispiele: Bewusstsein, Geist, Heiligkeit, Leben, Schönheit, Selbstheit, Göttlichkeit, Liebe, Wahrheit, Emotion, Sinn, Transzendenz, Wille; kurz, alles, was uns menschlich macht. Wenn du aber den Menschen auseinander nimmst, ist nichts davon da. Die Epigonen der Wissenschaftlichen Revolution schließen daher, dass sie „in der Wirklichkeit“ nicht existieren. Sie können die Möglichkeit nicht gutheißen, dass diese Eigenschaften, in Mumfords Worten, „keine zufälligen Beiprodukte von Masse, Energie und Bewegung, sondern ursprüngliche Teile desselben Systems sind.“21
Man denke nur an die Formulierung, die ich einige Absätze zuvor gebraucht habe, „harte, kalte Realität“, und bemerke, wie natürlich uns das heutzutage von der Zunge rollt. Das ist das Erbe eines Galileo, denn es offenbart, welche Qualitäten wir für real halten und welche nicht. Wissenschaftlich lange schon überholt, lebt die Auffassung von Wirklichkeit als einer Ansammlung nahezu unendlich vieler, winziger, harter Massen fort in unseren Metaphern und Intuitionen.
Der Versuch, das Universum zu verstehen und es damit in den menschlichen Bereich zu bringen, vollzieht sich oft auf dem Wege der Metapher. Wir projizieren menschliches Schaffen auf die Welt als Ganzes. Wir können nicht anders; selbst bei der Benutzung der Sprache verknüpfen wir Worte mit Dingen. Nicht zufällig lieferte die Technologie, die Europa zu dominieren begann, als die Wissenschaftliche Revolution voranschritt, ihren Denkern deren mächtigste Metapher: die Maschine. Wie das Newtonsche Universum ist die Maschine etwas, das wir durch Zerlegung verstehen. Wie das Newtonsche Universum besteht sie ebenso aus einer endlichen Zahl generischer, austauschbarer Teile. Wie das Newtonsche Universum arbeitet sie deterministisch im Sinne ihres Konstrukteurs. Kein Wunder, dass „das Universum ist eine gigantische Maschine“ als andauernder Refrain seit den wissenschaftlichen Pionierszeiten tönt.
Und es wird noch schlimmer. Kannst du dir eine Maschine vorstellen, die nichts tut? Eine Maschine, deren einzige Funktion darin besteht, zu funktionieren und dies präzise und unverändert zu tun? Alle Maschinen sind so gedacht, aber eine Maschine, die nur das macht? Es ist der Inbegriff der ewigen, regulären und doch zweckfreien Bewegung, der wiederholten Routine. Die Maschine, von der ich spreche, ist natürlich die Uhr. Überlege einmal, was ein Uhrwerks-Universum bedeutet. Überlege, was durch die Auffassung von Gott als Uhrmacher nahegelegt wird. Das Universum und unsere Leben darin ticken fort und fort – zweckfrei. Kein Wunder, dass wir uns in einer Gesellschaft, die von der Uhr beherrscht wird, oft fühlen, als würden wir nur Zeit markieren.
Galileo und seine Zeitgenossen zogen große Inspiration aus den gewitzten Automaten der Zeit, deren Uhrwerke ganze Szenen bewegten. In dem sie Lebewesen mit diesen Uhrwerkmodellen gleichsetzten, schrieben sie dem Leben eben diese Qualitäten der Uhr zu: automatisch, vorprogrammiert, mechanisch. Überhaupt kein Leben, sondern eine Anmutung von Leben. Die Gesellschaft, in der wir leben, ist ebenso ein Auswuchs dieser Uhrwerksauffassung, vermählt mit Technologien, die selbst die Regularität, Präzision und Automatie der Uhr verkörpern. Eine solche Gesellschaft bietet ein Leben, das auch nur eine Anmutung von einem Leben ist. Galileos Auffassung des Wirklichen entkleidete die Wirklichkeit von allem subjektiven Inhalt und lud uns ab in einer verlorenen Hülle einer Welt, dessen leere, wiederkehrende Routinen unsere verlorene Zugehörigkeit niemals wieder gutmachen können.
Das Universum als Maschine findet einen zweifelhaften Verbündeten in der theistischen Religion. Eine Maschine ist etwas, das von einem Intellekt zu einem bestimmten Zweck ersonnen wurde. Die Maschinenmetapher ist dem Wesen nach teleologisch. Welch eine Ironie, wenn man bedenkt, dass der Determinismus, der diese Metapher motivierte, eben jene Zweckgerichtetheit ausdrücklich verneint. Wie Mumford darüber hinaus beobachtet: „Indem er [Descartes] den Menschen zu einer Maschine machte, die durch die Hand Gottes erschaffen wurde, verwandelte er stillschweigend jene zu Göttern, die dazu in der Lage waren, Maschinen zu entwerfen und zu bauen.“22 Die mechanische Metapher über das Leben verwandelt Menschen in Götter. Kein Wunder also, dass wir so forsch nach den olympischen Mächten des Fliegens, der Wetterkontrolle, der ewigen Jugend und so weiter trachteten. Einige dieser Mächte haben wir erreicht, und das schließt die Fähigkeit ein, den Planeten auf dem nuklearen Scheiterhaufen zu vernichten; andere Mächte bleiben für immer in naher Ferne. Selbstüberschätzung fordert, wie wir wissen, einen unvermeidlichen Preis, und in unserem Ehrgeiz, das Universum zu erobern und Gott zu ersetzen, haben wir uns selbst zum äußerst Vorstellbaren aufgebläht. Lasst uns hoffen, dass der endgültige Preis geringer ist, als der Grad unserer Selbstüberschätzung ahnen lässt.
Hier ist noch eine große Ironie: In dem Maße, in dem die Quantifizierung des Universums und die Reduktion der Wirklichkeit auf die Mathematik alles Existierende in den menschliche Bereich geholt hat, schließt es auch all das aus der Wirklichkeit aus, was uns zum Menschen macht. Die bedeutsamen Aspekte des Lebens wurden sekundär, reduziert auf Kräfte und Bewegung, Chemie, Elektrizität oder aber ihre Existenz selbst wurde insgesamt verneint. Ich sage nicht, dass irgendein anderes Element die menschlichen Gefühle, das Bewusstsein und die Wahrnehmung durchzieht – ein immaterieller Geist, der dem elektrochemischen, physikalischen Gemisch hinzugefügt wird. Nein! Mein Punkt ist der: was ist primär? Galileos Unterscheidung zwischen primären und sekundären Qualitäten ist nichts als Ideologie. Wir können genauso gut Bewegung, Kräfte und Ausdehnung sekundär nennen und sagen, diese Qualitäten seien bloß die Formen, in denen sich die menschlichen Qualitäten audrückten. Materie, könnten wir sagen, ist das bloße Mittel, mit dem dasjenige umgesetzt wird, was primär ist: Gefühle, Glauben, Ideen, Wahrnehmungen, Bewusstsein, Träume, Geist, Poesie, Kunst, Liebe, Schönheit, Göttlichkeit.
Was ist es für eine monströse Doktrin, die all diese Dinge (Gefühle, Glauben, Ideen, Wahrnehmungen...) für unwirklich erklärt und damit eine missgestaltete Gesellschaft hervorbringt. Wie kann es sein, dass wir eine Religion – die Wissenschaft – erschaffen haben, die ganz ausdrücklich das tiefliegendste Gewebe menschlicher Erfahrung verneint? Mein Ziel ist es, dass du erstaunt und geschockt bist. In dieser Doktrin inbegriffen ist die Abwertung all dessen, was uns menschlich macht, und deshalb unsere Reduktion auf den Status von Automaten. Es ist diese Doktrin, die uns des Lebens selbst beraubt. Kannst du die Waghalsigkeit dieses Raubs erkennen? Wir nehmen dir deine Gefühle – es sind nur Zustände des hormonellen Systems, von Blutgefäßen und Neuronen. Wir nehmen dir deine Wahrnehmungen – sie sind nur neurologische Resultate von Lichtabsorption und elektro-chemischer Umwandlungen. Wir nehmen dir deine Heiligkeit, deine Poesie, und deine Kunst. Wir setzen dich aus in der kalten, harten Welt, in der Materie, Kräfte und Vernunft herrschen.
Wenn ich den psychologischen Effekt der Doktrin des Reduktionismus übertrieben habe, so habe ich nicht stark übertrieben. Die Beweise sind überall um uns herum zu finden. Was treibt unsere Gesellschaft an? Was ist es, das die Welt regiert? Was liefert die Einheiten, mit denen mehr und mehr von der Welt zu Zahlen reduziert wird? Die Antwort ist natürlich das Geld. Die galileische Behauptung, dass alles Wirkliche durch Zahlen ausgedrückt werden kann, nimmt praktische Form an in der heutigen Welt, in der alles einen Wert, ein Preisschild hat, und in der Menschen gemäß ihrem „rationalen Eigeninteresse“ handeln. Geld ist die Berechnungseinheit, um zu bestimmen, was tatsächlich unser rationales Eigeninteresse ist. Es ist, was die „kalte, harte Welt der Kräfte und Vernunft“ bemisst, in die wir geworfen sind. (Und was ist die wirklichste Form von Geld? Kalte, harte Währung.) Die praktisch veranlagte Person „schaut auf die Zahlen“ und versucht herauszufinden, ob „die Rechnung aufgeht“.
Die Welt wurde auf den Kopf gestellt. Zahlen, das Äußerste an Abstraktion, sind wirklicher geworden als unsere subjektiven Erfahrungen. Versuche das mal den Pirahã zu erklären! Und doch verhalten wir uns, als wäre es wahr. In der Wirtschaft zum Beispiel zählt ein Objekt oder eine Aktivität nicht als „Gut“ oder „Dienstleistung“, solange sie nicht für Geld ausgetauscht wurden. Frei gegebene Geschenke zählen nicht. Lies den letzten Satz bitte noch einmal! Zählen nicht. Hier ist wieder genau die Annahme in unserer Sprache verkörpert, die ich in Frage stelle. Wenn etwas „zählt“, ist es real.
Die wachsende Allgegenwart der Geldwirtschaft und die zugrundeliegende Dynamik, die ihr Wachstum antreibt, sind Gegenstand von Kapitel IV. Bei dessen Lektüre wird dir auffallen, wie die fortschreitende Monetarisierung des Lebens über die letzten Jahrhunderte der fortschreitenden wissenschaftlichen Eroberung des Subjektiven gleicht.
Offensichtlich gehen die Auswirkungen von Galileos ontologischem Ausschluss menschlicher Subjektivität weit über die Philosophie hinaus. Er erzeugt – oder zumindest verstärkt – eine Entfremdung, die das Herz aus allem herauswäscht, was unsere Zivilisation je erreicht hat. Die Verbannung des Menschen nimmt konkrete Form an in der vollständigen Ersetzung menschlicher Arbeit durch Maschinen, in der Mechanisierung und Entmenschlichung selbst jener Tätigkeiten, die noch immer von Menschen ausgeführt werden, und schließlich in der Kommerzialisierung von mehr und mehr Formen menschlicher Beziehungen. Konzeptuell und praktisch haben Wissenschaft und Technologie die Qualitäten der Maschine weiter und weiter in das organische Leben ausgedehnt.
Paradoxerweise lassen uns dieselben Prinzipien von Mechanismus, Reduktionismus und Determinismus, die Gewissheit und Kontrolle versprechen, an Gefühlen der Machtlosigkeit und Verwirrung leiden. Denn wenn wir uns selbst bei den Newtonschen Massen des Universums einschließen, dann sind wir auch den blinden, unpersönlichen Kräften ausgeliefert, die unsere Lebensbahn gänzlich festlegen. In der Ideologie, die wir von der Wissenschaftlichen Revolution ererbt haben, ist der freie Wille, wie alle anderen sekundären Qualitäten, ein bloßes Konstrukt, eine statistische Annäherung, aber nicht grundlegend real.
Um Bedeutung, Heiligkeit oder freien Willen zurück zu erhalten, bedarf es anscheinend des Dualismus, einer Trennung des Selbst von den deterministischen Gesetzen des Universums – eine letztendlich unschlüssige Lösung, die uns nur noch mehr entfremdet. Und doch ist die Alternative schlimmer: der Nihilismus, die Leere der Existenzialisten – diese Philosophien sind nicht zufällig in der Blütezeit der Newtonschen Weltmaschine im frühen 20. Jahrhundert entstanden. Diese Weltsicht durchdringt unsere Intuitionen und unsere Logik so tief, dass wir uns kaum ein Selbst vorstellen können, das weder dualistisch verschieden von Materie ist, noch ein deterministischer Automat, dessen Attribute Geist und Seele bloße Epiphänomene sind. Vor dem 20. Jahrhundert waren dies die einzigen Alternativen, die uns die Wissenschaft anbot, eine trostlose Wahl, die auch heute noch mit uns ist, wie ein Stein im Schuh, und die weiterhin existentielles Unbehagen bereiten wird, bis wir eines Tages schließlich die Tragweite der wissenschaftlichen Erkenntnisse des 20. Jahrhunderts verdaut haben werden.
Diese Wahl spiegelt eine offensichtliche Unvereinbarkeit von Wissenschaft und Religion. Indem sie intuitiv den „deterministischen Automaten“ der Wissenschaft zurückweisen, haben evangelikale Freunde von mir sich stattdessen entschieden, weiten Teilen der Wissenschaft zu misstrauen – all jenen Teilen der Physik, Biologie, Archäologie, Paleontologie, Geologie und Astronomie, die mit der biblischen Genesis in Widerspruch stehen. Währenddessen nehmen wissenschaftlich orientierte Leute die ebenso wenig beneidenswerte Position ein, ihre Intuitionen über Zweck, Bedeutung und Schicksal im Leben zu verneinen. Ich bemerke oft ein Bedauern bei selbsternannten Atheisten, als ob sie wünschten, es gäbe Seele, Gott, Sinn und Bedeutung – Wäre das nicht schön! – aber unglücklicherweise diktiert die nüchterne Vernunft es anders. Manchmal überspielen sie dieses Bedauern oder dieses Verlustgefühl mit einer aggressiven Darstellung von Selbstsicherheit etwa so: „Ich kann mit der schonungslosen Wahrheit umgehen, aber du musst dich mit Märchen trösten.“ Andere wieder sind aggressive Zyniker und reflexhaft spöttisch. Die Gefühle von Wut und Trauer, die diesen Reaktionen zugrunde liegen, rühren von dem monströsen Raub, den ich oben beschrieben habe. Und noch einmal, dieser Raub ist nicht die Wegnahme von Gott aus dem Himmel – es ist die Wegnahme der Göttlichkeit aus der Welt. Ob nun Gott aus dem Himmel entfernt wurde, wie durch die Religion, oder insgesamt ausgetilgt, wie durch die Wissenschaft, spielt keine große Rolle.
Ein Zweck dieses Buches ist es, eine organische Auffassung von der Göttlichkeit zu etablieren, die ihre Kraft aus den Wundern zieht, die die Wissenschaft entdeckt hat, statt von deren Verneinung abzuhängen. Damit im Zusammenhang steht eine organische Auffassung vom Selbst als einer emergenten Eigenschaft komplexer Beziehungen und nicht einer getrennten Seele, die bloß durch die Welt zieht und ihr damit fremd ist, und ebenso nicht eines Körnchens Bewusstsein, das bloß die Welt aus einem Gefängnis aus Fleisch beobachtet, und zuletzt auch keiner seelenlosen biologischen Maschine, die durch ihre Gene programmiert ist zu überleben und sich zu vermehren. Es sind die wissenschaftlichen Ursprünge des modernen Selbstgefühls, denen wir uns als nächstes zuwenden werden.
17 Erklärungen von Phänomenen durch ihren Zweck und nicht durch ihre Verursachung.
18 Tatsächlich ist die Zuschreibung einer atomistischen Seinslehre bei den Chinesen recht unangebracht. Die fünf Elemente (wu xing) sind besser zu übersetzen als „fünf Phasen“; sie sind wechselseitig abhängig und, wie Yin und Yang, haben sie keine getrennte und unabhängige Existenz.
19 Der Grund dafür ist, dass diese verborgenen Variablen sich ihrem Wesen nach unserem Wissen entziehen. Sie sind ein mathematischer Trick, um die Resultate der Quantenmechanik herzuleiten, aber sie können niemals experimentell isoliert werden. Obwohl die Theorie verborgener Variablen das Reduktionistische Programm voranzubringen scheint, beerdigt sie es tatsächlich.
20 Kevrans Arbeiten sind nur schwer in englisch zu finden, eine Ausnahme ist „Biological Transmutations“, herausgegeben von Happiness Press, 1989. Ich habe auch nach einer überzeugenden Widerlegung seiner Arbeit gesucht, aber das meiste, was ich fand, waren Anschuldigungen in Richtung elementarer Fehler im Sinne von: „Das Resultat kann nicht wahr sein, deshalb muss er einen Fehler bei der Erklärung von XYZ gemacht haben.“
21 Lewis Mumford, ’Mythos der Maschine. Kultur, Technik und Macht.’ Europaverlag: Wien, 1974.
22 ebd.
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