Der Aufstieg der Menschheit von Charles Eisenstein
Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters
Aus, kleines Licht! |
Wie geschmacklos die entmutigte Welt der auf objektive Teilchen wirkenden deterministischen Kräfte auch sei, wie entmutigend eine Biologie, eine Ökonomie und eine Psychologie, die verwurzelt sind im Überlebenskampf, auch sein mögen, für mehrere Jahrhunderte scheint es nun schon keine tragfähige Alternative mehr zu geben, an die wir glauben können. Was auch immer die Religion lehrt und die Intuition nahelegt, die Wissenschaft hat uns erzählt: Sorry, die Welt ist eben so. Erinnere dich an Richard Dawkins: „Das beobachtbare Universum hat genau die Eigenschaften, die man erwartet, wenn es im Grunde keinen Entwurf, keinen Zweck, kein Böses und kein Gutes gäbe, nichts als blinde, erbarmungslose Gleichgültigkeit38“.
Mit anderen Worten war es immer schon die nüchterne Ansicht der Wissenschaft, dass es, egal welche Bedeutung oder welchen Zweck wir der Welt zuschreiben, in Wirklichkeit nur Teilchen sind, die entsprechend unpersönlicher, objektiver und deterministischer Gesetze interagierten. Es mag andere „übergeordnete“ schlüssige Erklärungen für Dinge geben, aber die grundlegendste Erklärung – die wirkliche Erklärung – für alles, selbst die Liebe, lässt sich herunterkochen auf “Teilchen A stößt mit Teilchen B zusammen“.
Es war das Genie von Darwin, zu erklären, wie komplexes Leben sich auf der Grundlage deterministischer, materieller Gesetze entwickeln konnte, und damit brachte er die letzte Bastion der Religion zum Einsturz. Dank der Zufallsmutation und der natürlichen Auslese, zusammen mit nachfolgenden Entwicklungen in der Genetik und Biochemie war keine irgendwie geartete Kraft mehr notwendig, um das Leben zu erklären. Der Zufall allein war der einzige „Grund“, warum Menschen – oder jegliches Leben – auf diesem Planeten entstand. Wie Jacques Monod es ausdrückt, „Das Universum war weder geschwängert vom Leben, noch war die Biosphäre es vom Menschen. Unsere Zahl ist einfach in Monte Carlo gefallen39“. Wir sind allein im Universum, in welchem die einzige Bedeutung die ist, die wir erschaffen.
Andernorts in seinem Buch identifiziert Monod sehr findig die Quelle von Moral, Werten und Ethik und zwar im Animismus, dem Glauben, nichts sei wirklich unbelebt, sondern alle Dinge wären getränkt in Geist und Zweck. Doch die Wissenschaft, Frucht der Objektivität und eine „neue und einzigartige Quelle der Wahrheit“ warf den Animismus vollkommen über den Haufen. Die letzten Überreste des Animismus im modernen Denken sieht er als eine ängstliche Weigerung, sich der Wahrheit zu stellen. Wir akzeptieren die Macht und die Geschenke, die uns die Wissenschaft gebracht hat, doch unsere Weigerung, ihre vollen philosophischen Konsequenzen zu akzeptieren, lässt uns mit einer Lüge leben. Monod spricht folgendermaßen über wissenschaftliche Objektivität: „Wenn wir diese Botschaft akzeptieren – alles, was sie enthält, akzeptieren – dann muss der Mensch zuletzt aus dem Jahrtausende alten Traum erwachen; und damit erwachen in seine totale Einsamkeit, seine fundamentale Isolation. Dann erkennt er zuletzt, dass er wie ein Zigeuner am Rande einer fremden Welt lebt. Einer Welt, die taub ist für seine Musik, und ebenso gleichgültig gegenüber seinen Hoffnungen, wie seinem Leid oder seinen Verbrechen40“.
Monods lautstarker Protest ist nichts als eine Umformulierung seiner eigenen unbewussten Annahmen, Annahmen die in der Galileischen Verbannung der Subjektivität wurzeln. Wir leben am Rande einer fremden Welt, ja, aber es sind wir, die diesen Rand als existent definieren. Wissenschaft definiert von seinem Fundament aus die Welt als fremd. Wenn wir uns erst einmal auf diese Definition eingelassen und sie als nicht zu hinterfragendes Axiom akzeptiert haben, folgen Extreme der Trennung, Entfremdung und Verzweiflung auf ganz natürliche Weise. Vollkommen eingetaucht in die Ideologie der Wissenschaft konnte zum Beispiel auch Bertrand Russel keinen Ausweg sehen:
Noch mehr Zwecklosigkeit, mehr Inhaltsleere bedeutet die Welt, die die Wissenschaft unserem Glauben präsentiert. Inmitten einer solchen Welt, wenn überhaupt irgendwo, müssen unsere Ideale von nun an eine Heimat finden. Dass der Mensch ein Produkt von Ursachen ist, die keine Vorahnung von den Endresultaten hatten, die sie hervorbringen würden; dass sein Ursprung, sein Wachstum, seine Ängste, seine Liebe und sein Glauben nichts als das Ergebnis zufälliger Zusammenstellungen von Atomen ist; dass kein Feuer, kein Heldentum, keine noch so tiefer Gedanke oder noch so tiefes Gefühl das individuelle Leben über das Grab hinaus bewahren kann; dass alle Arbeiten aller Zeitalter, alle Hingabe, alle Inspiration, all die Tageshelle menschlichen Genies dazu bestimmt sind, im unermesslichen Tod des Sonnensystems ausradiert zu werden, und dass der gesamte Eifer menschlicher Errungenschaften unausweichlich begraben wird unter den Trümmern des Universums – all diese Dinge, wenn sie auch nicht ganz unumstritten sind, so ist doch ziemlich sicher, dass keine Philosophie, die sie zurückweist, hoffen kann zu bestehen. Nur innerhalb des Gerüsts dieser Wahrheiten, nur auf dem festen Fundament der unnachgiebigen Verzweiflung kann die Seelenwohnung von nun an sicher gebaut werden.41. |
Immerhin ist Russell sehr offen damit umgegangen. Es war sehr viel gebräuchlicher, „diese Wahrheiten“ zu verschleiern und diese unnachgiebige Verzweiflung zu verschweigen. Russells Logik ist fehlerlos; seine Folgerungen lassen sich unabweisbar ableiten aus der Wissenschaftsmythologie, von der er erfüllt war und die uns noch immer erfüllt. Die Ablenkungen und Süchte, die diese Verzweiflung zum Schweigen bringen, die frenetische Geschwindigkeit und das leere Gewinnstreben der modernen Gesellschaft deuten auf ein inneres Vakuum, auf das Endresultat der fortschreitenden Ausrottung der Subjektivität. Zwar wird Russells Einstellungen mit dem Gipfelpunkt der klassischen Wissenschaft zur Jahrhundertwende in Verbindung gebracht, doch sie waren bloß das Finale eines Prozesses, der lang davor begonnen hatte, als Etikett und Zahl zuerst begannen, die Welt ihrer Einzigartigkeiten zu berauben.
Wie ironisch es ist, dass der Endpunkt dieser enormen Kampagne, uns die Welt einzuverleiben, der war, uns selbst ganz und gar aus der Welt auszuschließen. Der menschliche Bereich hat sich ausgeweitet, um alle Wirklichkeit zu umfassen, und doch sind wir allein im Universum.
Ein Schlüsselthema, das später noch in diesem Buch auftauchen wird, ist, dass diese Einsamkeit eine Illusion ist, eine Fabrikation unserer Selbstdefinition, ein Nebenprodukt unserer Art, uns auf die Welt zu beziehen. In deinem Herzen weißt du es. Selbst wenn deine intellektuelle Meinung die Monods oder Dawkins ist, dein Verhalten verrät dich. Glaubenssätze sind nicht nur Ideen in unseren Köpfen, sie sind nicht nur Meinungen, sondern sie enthüllen sich als Taten. Wir alle, selbst die skrupellosesten Zyniker handeln von Zeit zu Zeit so, als wären das Leben nicht, nach Shakespeares Worten, Klang und Wut, das nichts bedeutet42. Wir könnten uns zu dem Glauben an die vollständige Gleichgültigkeit des Universums bekennen. Wir könnten uns zu dem Glauben bekennen, dass alle Ereignisse in unserem Leben hauptsächlich zufällig sind, dass es keinen Zweck unserer Existenz gibt, dass wir bei der Lenkung unseres Schicksals tatsächlich ebenso hilflos sind, wie eine Newtonsche Masse, außer dass wir vielleicht die Kraft meistern, die größer ist, als jene Kräfte die uns fortwährend schütteln. Und die Strukturen unserer Gesellschaft arbeiten gemeinsam daran, diesen Glauben zu bekräftigen. Aber keiner von uns glaubt wirklich daran. Ich weiß es, denn wir verhalten uns nicht danach. Monod hat Recht: wir sind im Herzen noch immer Animisten.
Der Wissende in unseren Herzen weiß, dass die Menschen und Ereignisse aus unserem Leben verbunden sind durch eine unaussprechliche Logik, die wie durch göttliche Fügung in Richtung einer Bestimmung voranschreitet, die aus dem fließt, wer wir sind, und die sich ändert, wenn wir uns entschließen, wer anders zu sein. Nicht nur einige, sondern alle Ereignisse sind bedeutsam; keine sind zufällig. Ja, ich stehe für das „magische Denken“, das von allen primitiven Kulturen geteilt wird. Die Wissenschaft stimmt damit nicht überein. Die Wissenschaft sagt, wir projizieren bloß nicht-existente Muster und Beziehungen auf ein Zufallsgeschehen.
Lasst mich zurückkehren zu einer Behauptung, die ich vorher in diesem Kapitel aufgestellt habe: „Nach dieser Logik zählen die anderen Objekte des Universums, lebende eingeschlossen, nicht viel. Ihnen fehlt etwas, das das Selbst besitzt. Moralität ist auf sie ebenso wenig anwendbar, wie auf einen Mixer oder eine Uhr.“
Aber vielleicht lässt sich Moralität auf Mixer und Uhren anwenden. Vielleicht sind sie nicht mehr gefühllose Monster als Pflanzen, Tiere und Menschen. Die Wissenschaft versteht die Zuneigung, die wir für unbelebte Objekte hegen als eine naive Projektion menschlicher Qualitäten auf Dinge. Hattest du jemals Mitleid mit einem alten Auto, das du schließlich auf den Schrottplatz gegeben hast? Alte Fussballschuhe? Eine Puppe? Unser kindliches Gemüt neigt dazu, ihnen menschliche Gefühle zuzusprechen, selbst wenn sie tatsächlich nur aus lebloser, unbewusster Materie zusammengesetzt sind. Es ist dieses kindliche Verhalten, gegen das sich Monod wendet, indem er einen vielstimmigen Chor wieder gibt, der nach wissenschaftlicher Mündigkeit und einer technokratischeren Gesellschaft verlangt. Lasst die Experten das Ruder übernehmen! Und lasst uns auf individueller Ebene endlich erwachsen werden! Seid vernünftig! Seid leidenschaftslos! Seid rational! Dein Auto ist nur ein Klumpen Metall. Deine Fussballschuhe nur ein Stück Leder. Nun, dieses Buch sagt etwas anderes. Ich sage, eure Gefühle haben ihren Ursprung in einer gültigen Intuition und nicht in einer kindlichen Fantasie.
Ich stimme überein mit den Intuitionen der Kinder und der Primitiven, die allen Dingen im Universum Bewusstheit und Geist zusprechen, seien sie belebt oder nicht. Der indianische Begriff „alle meine Beziehungen“ ist nicht beschränkt auf Lebewesen; er schließt Berge, Felsen, Wasserfälle, Seen, den Wind und den Erdboden mit ein. Alle haben Geist, vielleicht sogar Leben. Der Fehler resultiert nicht, indem man Moralität auf unbelebte Objekte anwendet, sondern indem man dieselbe Moralität auf sie anwendet, wie auf Lebewesen. Gut zu deinem Auto zu sein, heißt nicht, dass du ihm in kalten Nächten eine Decke gibst. Heutzutage begehen wir einen viel größeren Fehler als das. Abgeschnitten von unserer animistischen Liebe zur materiellen Welt, behandeln wir sie ohne Zuneigung, ohne Liebe und ohne Moralität. Abgeschnitten vom Animismus zerstören wir die Welt und bleiben dabei moralisch straffrei.
Ich werde keinen Beweis dafür anbieten, dass der Animismus wahr ist. Wie du entdecken wirst, wenn du ihn auf dein Liebesleben anwendest, kann die gesamte Suche nach Sicherheit selbst die Möglichkeit von Sicherheit vereiteln. Nein, du kannst dir nie sicher sein, dass dein Auto, deine Fussballschuhe, deine Puppe oder, wenn wir schon dabei sind, Haustier, Freund, Geliebter wirklich Subjektivität hat. Letztendlich beruht der Glaube auf einer Entscheidung. Unglücklicherweise war unsere Entscheidung seit vielen Jahrhunderten gefärbt durch eine sinnentleerende Ideologie, die nun überflüssig geworden ist. Nicht länger braucht göttliche Orchestrierung einen Orchesterleiter, der der Welt seine Schöpfung aufdrückt. Nicht länger braucht Bewusstheit oder Geist von außen eingehaucht zu werden, gleichsam als Geist in der Maschine. Bezieht man sich auf neu auftauchende Denkweisen in der Wissenschaft, so verfügen wir jetzt über eine Alternative, die sehr viel großartiger ist, als die gegenwärtige.
Mit einem traurigen Seufzen wenden wir uns ab vom Wissen unserer Herzen und leben ein Leben unter Kontrolle. Wir üben eine persönliche Version des Technologischen Programms über uns selbst aus. Die Natur, die wir erobern, schließt die menschliche Natur ein. Wir tun dies aus Angst. Wir ängstigen uns fort aus einem Leben gemäß unseres Wissens über einen Zweck, Bedeutsamkeit und Heiligkeit in jedem Handeln, Ereignis, in jeder Person, jedem Ort und Ding. Auf millionen unterschiedliche Arten erzieht uns die Gesellschaft, all die Vorannahmen der Trennung zu akzeptieren. Im tiefsten Innern wissen wir, dass sie nicht wahr sind, aber wir fürchten, sie könnten es sein. Wir haben die Angst, es gäbe nur das, nur ein paar unterschiedene, getrennte Wesen in einem „blinden, schonungslosen und gleichgültigen“ Universum von Kraft und Masse.
Eingezwängt zwischen Angst und innerem Wissen haben die Menschen seit vielen Jahrhunderten versucht, einen Ausweg zu finden aus dem scheinbar unentrinnbaren Würgegriff der deterministischen Wissenschaft. Häufig mündeten ihre Bemühungen in eine naiven Aufmüpfigkeit: „die Wissenschaft kann nicht alles erklären“. Aber da ein Mysterium nach dem anderen sich wissenschaftlicher Erklärung ergibt, wird dieser Mut immer verzweifelter, und die Befürchtung wächst, dass die Wissenschaft vielleicht doch alles erklären kann. Vielleicht kann das Wissenschaftliche Programm doch erfüllt werden.
Fasst Mut, ihr Skeptiker, ich habe auf diesen Seiten nicht vor, unerklärte Mysterien herunterzuleihern und aus ihnen zu schließen, „seht her, da ist doch zuletzt Raum für Gott“. Ein solcher Ansatz verstärkt tatsächlich auf subtile Weise das Cartesische Weltbild. Es behauptet zwei Reiche, das eine, welches enorme Mengen bereits gelöster Mysterien und damit fast alles umfasst, ist materiell, blind, erbarmungslos und gleichgültig, und das andere ist spirituell aber zunehmend unbedeutend, da ein verbliebenes Mysterium nach dem anderen durch die Wissenschaft erklärt wird. Nein, die Wahrheit ist viel herrlicher als das gleichgültige, materielle Universum, dass durch einen Schöpfergott geführt wird, oder der verschwindende Krümel Geist im Robotor aus Fleisch.
Ich will damit nicht behaupten, es gäbe keine unerklärten Mysterien mehr, sondern nur, dass wir uns nicht auf sie als Quelle von Heiligkeit und Sinn verlassen sollten. In der Tat ist die Folgerung der Neuen Humanisten, die die Ideologie des Wissenschaftlichen Programms wiedergibt, dass die meisten Mysterien gelöst sind, lachhaft. Die wissenschaftlichen Institutionen haben lediglich große Bereiche der Wirklichkeit aus ihren Überlegungen ausgeschlossen, einfach weil die Phänomene nicht in die gegenwärtigen Paradigmen passen. Dabei erinnere ich mich an Richar Feynmans Reaktion auf Uri Gellers Demonstration des Löffelverbiegens: „Ich bin klug genug zu wissen, dass ich dumm bin.“ Damit meinte er, dass irgend eine Taschenspielerei am Werke war, irgend ein Bühnentrick, den der uneingeweihte Beobachter, selbst ein brillianter Physiker, nicht entdecken kann. Weil es einfach nicht wahr sein kann. Für Feynman war dies eine Möglichkeit, die es nicht einmal wert war, untersucht zu werden. Und so geht es weiten Bereichen von „Anomalien“: Psi, Hellsehen, Homöopathie, Qi Gong und andere, die aus dogmatischen Gründen aus der Sphäre des Mysteriösen ausgeschlossen werden. Die Logik dabei ist zirkulär: es muss eine simple Erklärung geben (wie etwa Betrug, Wahrnehmungstäuschung, schlampige Wissenschaft oder übersehene physikalische Mechanismen), denn wir können bereits alles erklären.
Angefangen mit Fritjof Capras bahnbrechendem „Das Tao der Physik“ und Ilya Prigogines „Dialog mit der Natur“ haben verschiedene Denker für einen Zeitenwechsel in den grundlegenden Fundamenten der Wissenschaft gesprochen, eine Verschiebung weg von der Newtonschen Weltmaschine. Es wächst das Gewahrsein, dass die Wissenschaft des 20. Jahrhunderts die Newtonschen Prinzipien von Determinismus, Reduktionismus, Objektivität, Dualismus und Mechanismus ausgelöscht hat. Wir fangen gerade erst an, die Auswirkungen dieser Verschiebung zu spüren, was nicht weniger als das Abbröckeln der Sicherheit zur Folge hat, den Todesstoß für das Wissenschaftliche Programm und Abschied vom Regime der Trennung. Wir brauchen nicht länger an die Tapferkeit und die Intuition zu appelieren. Die Wissenschaft selbst hat sich zu einem Punkt hinentwickelt, an dem seine eigenen Annahmen offensichtlich unhaltbar geworden sind. Dasselbe ist der Illusion der Trennung im Allgemeinen geschehen. Alle Lügen neigen dazu zu wachsen und zu ihrer Aufrechterhaltung selbst unser ganzes Leben zu kollonisieren, aber indem sie das tun, werden sie immer anfälliger und offensichtlicher. Wir haben stark in unsere Lügen investiert, aber das Spiel ist aus. Die Energie, die wir benötigen, um das Lügengebäude vom unterschiedenen, getrennten Selbst zu stützen, übersteigt seinen Nutzen bei weitem. Wir beginnen loszulassen.
In Kapitel VI werde ich beschreiben, wie die zweite Wissenschaftliche Revolution, die gerade im Gange ist, eine völlig andere Auffassung vom Selbst und der Welt nahelegt, eine Auffassung, die das Regime der Kontrolle, den Ehrgeiz des Technologischen Programms, die Umwandlung von Leben zu Geld, den Steinerschen „Krieg jeder gegen jeden“ und alle anderen bitteren Früchte des Zeitalters der Trennung abwickeln wird.
Der Glaube, die materielle Welt sei nicht selbst heilig, hat dieselben zerstörerischen Folgen, egal ob er nun von rationalen Atheisten oder religiösen Fundamentalisen gehegt wird. Im Innern sind die Folgen existentielle Leere, Entfremdung vom Kosmos und die „unnachgiebige Verzweiflung“, auf denen wir versuchen müssen, eine Philosophie des Lebens aufzubauen. Und im Äußeren spiegeln wir dieses innere Ödland durch eine Entsprechende Kampagne der Zerstörung, die die Erde und alles auf ihr behandelt, als seien sie nicht mehr als bedeutungslose Klumpen Materie. Was können wir anderes erwarten, wenn wir es so definiert haben? Die einzige Grenze für die Plünderung der Wirklichkeit ist ein kleiner Rest schlechten Gewissens, das Überbleibsel unserer angeborenen Liebe zum Leben. Wohlmeinende Menschen versuchen es vernunftsmäßig etwa so zu fassen: „Wir sollten die Umwelt schützen, denn wir hängen von ihr ab“. Aber da das Technologische Programm bedeutet, dass diese Abhängigkeit vorübergehend ist und weniger wird, ist eine solche Überlegung selten überwältigend, und trägt in der Tat zu der dahinter liegenden Ideologie bei, gemäß derer die Natur nur wegen ihrer praktischen Brauchbarkeit für den Menschen wertgeschätzt wird. Welche andere Schlussfolgerung könnte es geben in der Abwesenheit des Heiligen?
Wieviel der menschlichen Plünderung, Gewalt und Zerstörung hat ihre Wurzeln in der Entfremdung vom Kosmos, die der Sicht vom mechanischen Universum innewohnt? Es ist ein Universum, in welchem nach Jacques Monods Worten „der Mensch zuletzt weiß, dass er allein ist in der gefühllosen Unermesslichkeit des Universums, aus dem wir nur durch Zufall entstanden sind. Sein Schicksal ist nirgendwo ausbuchstabiert, noch seine Pflicht.“ Er hätte fortfahren können, wie Russell es tat, dass Schicksal und Pflicht, und damit Gut und Bösen, Moralität und Zweck von uns erschaffen werden müssen. Zuletzt sind sie also künstlich.
Die Künstlichkeit oder das kulturell konstruierte Wesen der Bedeutung ist ein Eckpfeiler des Dekonstruktivismus, der das Denken des 20. Jahrhunderts über Literatur und Kunst stark beeinflusst hat. Der Dekonstruktivismus versucht sich mit der beschriebenen nihilistischen Leere auseinander zu setzen und diente anfangs einem brauchbaren Zweck durch seine Kritik an der reduktionistischen Suche nach objektiver Sicherheit. Aber schließlich versank er in seinen eigenen Annahmen (oder deren Abwesenheit) und degenerierte zu einer irrelevanten Flut steriler, undurchsichtiger, frivoler und oft alberner Texte (Oder vielleicht ist es nur, dass ich mich dumm fühle, wenn ich versuche diese Texte zu lesen!). Texte, Texte über Texte und Texte über Texte über Texte ... ein weiteres künstliches Reich, welches jenes spiegelt, in dem wir uns selbst ohnehin befinden.
Dieses Buch ist nicht nur eine weitere Version des Postmodernismus, die behauptet, die Wirklichkeit käme nur durch unsere Interpretation von ihr zustande. Alle Qualitäten, die dem Reduktionismus entgehen – Zweck, Bedeutung, Ordnung, Schönheit, Heiligkeit – tauchen ganz natürlich auf als eine Funktion von Beziehungen, mit oder ohne menschliche Beteiligung. Die Dekonstruktivisten und Postmodernen sind die letzte Verkörperung einer langen Linie kulturell empfindsamer Menschen – Heidegger und Nietzsche, Sartre und Camus, Foucault und Derrida – die versucht haben mit unserer Trennung von der Matrix organischer Göttlichkeit klar zu kommen und den Nihilismus einzudämmen, aber keiner von ihnen hat die Voraussetzungen dieser Trennung wahrhaftig abgelehnt. Nihilismus, Existentialismus und Dekonstruktivismus sind alle unterschiedliche Ausdrücke von Russells unnachgiebiger Verzweiflung. Das gleißende Versprechen der Neuen Welten der Aufklärung ließ diese Verzweiflung für eine Weile in den Hintergrund treten. Als im 20. Jahrhundert das Scheitern dieses Versprechens immer weniger zu leugnen war, erhob auch die Verzweiflung wieder ihr hässliches Haupt. Gegenwärtig ist unsere endgültige Flucht die Apathie, der Zynismus und die Resignation. Trash und Kitsch. Was auch immer. Ist mir egal, und es ist mir egal, dass es mir egal ist. Oder Hingabe zum offensichtlich Unwichtigen und Absurden. Sport Mannschaften. Reality TV. Game Shows. Seifenopern. Unbedeutende Hobbys und Spezialgebiete. Vollständig getrennt von der wirklichen Welt geben wir uns mit seiner albernsten Fälschung zufrieden.
Außer natürlich, wir sind nicht zufrieden. Die Freuden, die unsere Fluchten bieten, können den Schmerz der inneren Wunde selbst in den besten Zeiten kaum lindern. Und sie stellen sich als um so schwächer heraus, wenn die Krisen des wirklichen Lebens den Weg zu uns finden. Leidenschaft, gebrochenes Herz, Verlust, Schmerz und Tod bringen uns zurück in ein Reich, das, trotz der Ideologie, die so vollständig von uns Besitz ergriffen hat, unleugbar und erfahrungsmäßig wirklich ist.
Wenn dies kollektiv geschieht, und das wird es aufgrund der zusammenlaufenden Krisen, werden wir zurückschauen auf unserer zurückliegenden Beschäftigungen – Bundesliga und Stars und Sternchen – und zwar mir offenem Mund. In was für einer Welt haben wir gelebt? Wie konnten uns so unbedeutende Dinge so wichtig sein?
In einer Welt, in der nichts etwas bedeutet, sind die grausamsten Ereignisse nicht länger erschreckend; die bedauernswertesten Opfer erregen nicht länger unser Mitleid; die beängstigendsten Möglichkeiten, wie Nuklearkrieg oder ökologische Zerstörung locken uns nicht länger hinter dem Ofen hervor. Manchmal reden wir es klein als „Mitleidsermüdung“, aber eigentlich ist es der Verbindungsverlust zur Wirklichkeit. Nichts davon erscheint real. Wir lehnen uns betäubt zurück und beobachten, wie die Welt langsam auf einen Abgrund zuschlittert, als wäre es ein Fernsehereignis. Auf gleiche Weise beobachten wir unsere Lebensjahre vorbeimarschieren, gleichgültig gegenüber der Kostbarkeit eines jeden vorüberziehenden Moments. Nur manchmal ertönt eine Alarmglocke; wir geraten für einen Moment in Panik mit dem Gedanken: „Dies ist jetzt wirklich! Das ist mein Leben! Weswegen bin ich hier?“ Und dann verführt uns unsere Umgebung wieder zurückzukehren in die Stumpfheit.
Dieses Gefühl der Unwirklichkeit begünstigt die unbemerkte Kehrseite des Nihilismus: eine zugehörige Erlaubnis zur unbegrenzten Herrschaft über das Universum. Es gibt keinen Zweck zu erfüllen, keine natürliche Rolle oder Funktion. Nichts außer Aberglaube und vorübergehende praktische Begrenzungen halten uns davon ab, tatsächlich die „Herren und Besitzer“ der Natur zu werden. Der Wille, die Natur zu dominieren, spiegelt unser selbst auferlegtes Exil außerhalb der Natur wider.
Je mehr wir dominieren, besitzen und kontrollieren, als desto getrennter erfahren wir uns. Je getrennter wir uns selbst erfahren, desto stärker das Verlangen zu dominieren, zu besitzen und zu kontrollieren.
Wir versuchen gewaltsam, uns das zu nehmen, was uns schon gehört. Wie der Wohlstand der Jäger und Sammler ist das, wonach wir am meisten verlangen, schon immer verfügbar gewesen, ohne große Anstrengung. Die Zwangsvorstellung, unserem Selbst mehr und mehr hinzuzufügen, kommt von unserer Leugnung all dessen, was wir sind. Woher ich weiß, dass wir mehr sind als das? Ich weiß es aus demselben Grund, aus dem du es weißt. Bestimmte Augenblicke haben es mir gezeigt. Sie kamen ungebeten und ohne mein eigenes Zutun.
Obwohl eine halbbewusste Verschiebung im Gange ist, haben wir als Spezies noch nicht das äußerste Extrem der Trennung erfahren, das den Capraschen „Wendepunkt“ zu einem Zeitalter der Widervereinigung markieren wird. Wir sind aber fast da. Wir waren einmal ganz und gar in die Natur eingebettet sind, so dass wir sie uns nicht als etwas von uns getrenntem vorstellen konnten. Jetzt besitzen wir eine Ideologie, die uns keine andere Schlussfolgerung lässt als unsere vollständige Trennung. In unserem Zeitalter stehen die Konsequenzen unserer Vorspiegelung der Herrschaft über das Leben und die Welt in voller Blüte: eine Welt, in der sich unser Ehrgeiz, die „Herren“ der Natur zu werden, als ein allumfassendes Programm der Kontrolle manifestiert, und in der sich unser Ehrgeiz, die „Eigentümer“ der Natur zu werden, als ein allumfassendes Regime von Geld und Besitz manifestiert.
Diese beiden Entwicklungen gehen schon tausende Jahre zurück. Und jetzt schließlich nähert sich die Reduktion der Realität zu Repräsentationen seinem endgültigen Ausdruck in der Umwandlung von Leben, Zeit und Welt zu Geld; und das Technologische Programm der Kontrolle gipfelt in dem Ansinnen, alle Aspekte der menschlichen Existenz unter dessen Herrschaft zu bringen. Die nächsten beiden Kapitel werden diese Phänomene als abschließenden Ausdruck des Zeitalters der Trennung untersuchen.
38 Zitiert von Michael Shermer im Scientific American, Februar 2002, S. 35.
39 Monod, Jacques, Zufall und Notwendigkeit, München, Piper, 1971.
40 ebd.
41 Aus „A Free Man’s Worship“, veröffentlicht 1903.
42 Ich bin Wendell Berry dankbar für die Nutzung dieses Zitats in dem Kontext: siehe „Christianity and the Survival of Creation“ aus seinem Buch „Sex, Economy, Freedom, and Community“. Pantheon Books, 1992.
"Der Aufstieg der Menschheit" in anderen Sprachen:
Chinesisch .
Englisch .
Finnisch .
Französisch .
Ungarisch .
Rumänisch .
Russisch .
Serbisch .
Spanisch