Der Aufstieg der Menschheit von Charles Eisenstein
Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters
Der Gedanke des Besitzes ergibt sich ganz natürlich für das unterschiedene und getrennte Selbst. So, wie die cartesische Objektivität die Welt in Selbst und Anderes teilt, unterteilt der Besitz in Mein und Dein. So, wie der galileische Materialismus darauf besteht, dass nur das messbare wirklich sei, beziffert die Wirtschaft allen Wert in Geldeinheiten.
Der Drang zu besitzen entsteht als natürliche Antwort auf eine entfremdende Ideologie, die gefühlte Verbindungen kappt und uns „allein im Universum“ zurücklässt. Abgeschnitten von der Verbindung und Identität mit dem Geflecht allen Seins, hat das winzige, isolierte Selbst, das übrig bleibt, ein nimmersattes Bedürfnis, so viel wie möglich dieses verlorenen Seinsgefühls für sich zu beanspruchen. Wenn die ganze Welt, das ganze Leben und die Erde nicht länger Ich ist, kann ich mich immerhin dadurch entschädigen, dass ich sie Mein mache.
Von Kindern wird oft gesagt „ihre Wünsche sind ihre Bedürfnisse“. Dasselbe gilt tatsächlich auch für Erwachsene, außer dass der Wunsch so verzerrt wurde, dass dessen Objekt nicht länger das Bedürfnis befriedigen kann und es sogar noch intensiviert. Ein solcher Fall ist die Gier. Gier ist nicht irgendein unglücklicher Anhang der menschlichen Natur, der kontrolliert und erobert werden will. Sie entsteht aus einem Identitätshunger – nach dem Beziehungsreichtum aus dem die Identität zusammengesetzt ist. Vergleicht man dies mit dem Muster irgendeiner Sucht, so wird ironischerweise, wenn man sich der Gier hingibt, das dahinter liegende Bedürfnis noch verstärkt. Umschließen wir nämlich mehr von der Welt im Bereich von Mein, so trennt uns das umso mehr vom verbundenen Sein, nach welchem wir hungern.
Vielleicht kann diese Erkenntnis unser schlechtes Urteil über die Gierigen mildern. Das nächste Mal, wenn du Gier siehst, sehe stattdessen eine hungrige Person. Das nächste Mal, wenn du selber Gier fühlst, nimm dir einen Augenblick, um dieses Wollen zu berühren, diese existentielle Unvollständigkeit hinter dieser Gier. Dasselbe gilt im Allgemeinen für die Selbstsucht, dieses beengende Gefühl, die Welt außerhalb des Selbst kontrollieren zu wollen, um sie zum eigenen Vorteil zu wenden. Selbstsucht in all ihren Formen sucht den Vorteil und die Aufblähung des Selbst, welches künstlich kleiner gemacht wurde, ein Selbst, welches tatsächlich ein ideologisches Konstrukt ist.
Wie das Wort Mein anzeigt, bedeutet Eigentum eine Anbindung von Dingen an das Selbst. Je mehr wir besitzen, desto mehr sind wir. Das Gefüge von mir und Mein wächst. Aber egal, wie groß das unterschiedene und getrennte Selbst auch wächst, es ist viel kleiner, als das Selbst des Jägers und Sammlers. Der Verstand vor der Trennung ist in der Lage gleichzeitig und ohne Widersprüche zu bestätigen: „Ich bin dieser Körper“, „Ich bin dieser Stamm“, „Ich bin der Wald“, „Ich bin die Welt“. Egal, wieviel Wald wir kontrollieren, wir sind kleiner als jener, der weiß „Ich bin der Wald“. Egal, wie sozial dominant wir sind, wir sind weniger als der, der weiß „Ich bin mein Stamm“. Und wir fühlen uns auch viel weniger sicher, denn all diese Anhänge unseres winzigen, getrennten Selbst können uns leicht entrissen werden. Wir sind deshalb andauernd und unheilbar unsicher. Wir tun alles, um all diese Zutaten zur Identität zu schützen, unsere Habseligkeiten und Geld und unseren guten Ruf, und wenn in unser Haus eingebrochen wird, unsere Brieftasche gestohlen oder unser Ruf beschmutzt wird, fühlen wir uns, als wäre unserem innersten Selbst Gewalt angetan worden.
Unser Besitzstreben entsteht nicht nur aus der Trennung, es verstärkt sie auch. Die Ansicht, dass ein Wald, ein Gen, eine Idee, ein Bild, ein Lied getrennte Dinge wären, die man besitzen könne, ist recht neu. Wer sind wir, dass wir ein Teil der Erde besitzen können, dass wir einen Teil des heiligen Universums heraustrennen, um es Mein zu nennen? Ein solche Anmaßung, die in alter Zeit unbekannt war, hatte die unglückliche Folge, dass wir uns selbst damit ebenfalls aus dem Geflecht der Wirklichkeit heraustrennen, dass wir uns von einander, von der Natur und vom Weltgeist abschneiden – in der persönlichen Erfahrung und wohl auch tatsächlich. Indem wir die Welt und alles in ihr objektivieren, indem wir aus der Welt ein „Anderes“ machen, so objektivieren wir uns selbst in Beziehung zu diesem Anderen notwendigerweise auch. Das Selbst wird zum einsamen, isolierten Ego, das auf pragmatische, nicht aber auf essentielle Weise mit der Welt verbunden ist, das Angst hat vor dem Tod und damit gegenüber dem Leben verschlossen ist. Ein solches Selbst, abgeschnitten von seiner wahren Natur und getrennt von der gedachten Umgebung, die durch seine eigene Selbst-Definition erschaffen wurde, wird immer unsicher sein und wird immer versuchen mehr und mehr Kontrolle auf diese Umgebung auszuüben.
Das Ausmaß, in dem wir uns mit unseren Körpern, Besitztümern und unserem Bereich der Kontrolle identifizieren, ist auch das Ausmaß unserer Angst vor dem Tod. Ich spreche hier nicht von dem biologischen Schrecken, der jedes Tier in den Fängen des Raubtiers zum Überlebenskampf treibt, sondern von einem schwebenden Unheil, das uns dazu treibt, uns selbst zu täuschen und uns zu verkriechen. Mehr als jede andere Krise ist der Tod ein Eindringling, dessen bloßes Herannahen die Festung des getrennten Selbst bröckeln lässt. Eine persönliche Berührung mit dem Tod oder selbst der Tod einer nahestehenden Person verbindet uns mit einer Wirklichkeit jenseits der Konstruktionen von Mir und Mein. Der Tod öffnet unsere Herzen. Der Tod erinnert uns mit einer Klarheit, die alle Logik aussticht, dass nur die Liebe wirklich ist. Und was ist die Liebe anderes, als die Verschmelzung der Grenzen zwischen Selbst und dem Anderen? Wie viele Dichter verstanden haben, ist die Liebe auch eine Art Tod.
Für eine Person, die sich mit dem Stamm, dem Wald, dem Planeten identifiziert, ist der Tod des Körpers, den er kontrolliert viel weniger beängstigend. Eine andere Art, eine solche Person zu beschreiben, ist, dass sie in Liebe ist mit der Welt. Liebe ist das Gegengift für die Furcht vor dem Tod, denn sie erweitert die eigenen Grenzen über das hinaus, was verloren werden kann. Umgekehrt blockiert die Furcht vor dem Tod die Liebe, indem sie uns einschließt und uns klein macht. Und die Furcht vor dem Tod ist eingebaut in unsere Ideologie – die Selbst-Definition, die die objektive Wissenschaft nahelegt.
Geld und Besitz setzen diese Selbst-Definition lediglich durch. Sie sind konkrete Manifestierungen des getrennten Selbst, des Selbst, das Angst hat vor dem Tod und das der Liebe verschlossen ist. Geld in seiner gegenwärtigen Form ist Antiliebe. Aber es ist nicht die Wurzel alles Bösen, sondern nur ein weiterer Ausdruck der Trennung, ein weiteres Puzzleteil. Es sind andere Geldsysteme möglich, die den gegenteiligen Effekt haben, als unsere gegenwärtige Währung. Aus strukturellen Gründen ermutigen sie nicht zur Anhäufung von Mir und Mein. Neugierig? Dann lies weiter ... ich komme in Kapitel VII dazu.
Etwas, wie ein Geldsystem kann nicht in Isolation geändert werden. Es entspricht nicht nur unserem Selbstgefühl und unserer Identifikation mit dem Ego, es ist auch ein Ausfluss aus dem metahistorischen Prozess der Trennung, den ich bisher beschrieben habe.
Angefangen bei Feuer und Stein, Etikett und Zahl verfestigte sich die Objektivierung der Welt in einer neuen Phase mit der Ankunft der Agrikultur: die Zähmung von Pflanzen und Tieren und die Umwandlung der Natur für Zwecke des Menschen. Und dann beförderte die Maschine die Trennung auf neue Höhen: ihr Versprechen der Überschreitung natürlicher Begrenzungen positioniert uns über die Natur und außerhalb der Natur, während der gesellschaftliche Massencharakter und die Arbeitsteilung Gemeinschaften umkrempelte. Schließlich erreichten die Methoden und die Logik der Maschine ihren Höhepunkt in der Wissenschaft, die die seit langem entstehende Ideologie des unterschiedenen und getrennten Selbst in den Stand einer geheiligten Wahrheit erhob.
Die Bühne war nun frei für diese Ideologie, um sich im materiellen und sozialen Bereich auszutoben. Wenn die Welt zu einer Ansammlung von Objekten wird, wie in der symbolischen Kultur, und wenn diese Objekte dem menschlichen Gebrauch untergeordnet werden, wie in der Zähmung und Agrikultur, dann werden sie unweigerlich zu Besitz, zu Dingen, die gekauft und verkauft werden können und die definiert sind durch ihren Gebrauchswert für den Menschen. Als dann durch Wissenschaft und Maschinentechnologie diese Unterordnung der Natur vollkommen wurde, entwickelte sich auch die Umwandlung der Welt zu Geld und Besitz zum Totalen. Die Aneignung und Monetarisierung des Lebens, die wir hier diskutieren wollen, erwächst unweigerlich aus der Trennung, die mit der Agrikultur und davor begann, und die ihre konzeptuelle Erfüllung mit der Newtonschen Weltmaschine erreichte.
Geld ist das Instrument – nicht der Grund, sondern das Instrument – durch welches sich unsere Trennung von Natur, Weltgeist, Liebe, Schönheit, Gerechtigkeit, Frieden und Gemeinschaft ihrem Extrem nähert.
Durchzogen von der Logik des Geldes erachten wir diese Trennung tatsächlich als etwas Gutes. Wenn das wie eine freche Behauptung klingt, dann überlege einmal was mit „finanzieller Unabhängigkeit“ und der damit eng verbundenen finanziellen Absicherung gemeint ist. Finanzielle Absicherung bedeutet, genug Geld zu haben, um nicht von Glück oder Wohlwollen anderer abhängig zu sein. Geld verspricht uns zu schützen vor den Launen der Natur, den Unwägbarkeiten des Schicksals und vor der physischen und sozialen Umgebung. Aus dieser Sicht ist die Suche nach finanzieller Sicherheit nichts anderes als eine Projektion des Technologischen Programms in das persönliche Leben. Absicherung vor den Launen der Umwelt – was bedeutet, sie zu bezwingen, sie unter Kontrolle zu bringen – ist der uralte Auftrag der Technologie. Und seine Erfüllung, perfekte Kontrolle über die Natur, heißt auch perfekte Sicherheit, die Ausschaltung von Risiko.
Die Kampagne, uns vollkommen von den Launen des Schicksals, von den Unwägbarkeiten der Natur und von der Abhängigkeit von der eigenen Gemeinschaft zu befreien, kann niemals wirklich erfolgreich sein, so wie das Technologische Programm niemals in seiner Kampagne zur vollständigen Kontrolle der Natur erfolgreich sein kann, aber der Anschein des Erfolgs mag noch für eine gewisse Zeit erhalten bleiben: der durchschnittliche Vorstädter aus der oberen Mittelklasse mit einem guten Job samt Aufstiegsmöglichkeiten, guter Gesundheit und guter Krankenversicherung, breit gestreuten Rücklagen und allem was dazu gehört. Eine solche Person ist in einem sehr realen Sinne nicht abhängig von irgendjemandem – genauer gesagt, nicht von irgendeiner bestimmten Person. Sicherlich ist er abhängig von dem Bauern, der seine Nahrung anbaut, aber nicht von irgendeinem bestimmten Bauern, keiner bestimmten Person. Das Wohlwollen einer bestimmten Person ist unnötig, denn wir können jederzeit „jemand anderen bezahlen, es zu tun“. Er lebt daher in einer Welt ohne Verpflichtung. Er ist niemandem etwas schuldig.
Nicht nur, dass perfekte Unabhängigkeit, finanziell oder sonstwie, immer außer unserer Reichweite sein wird, sie ist auch eine Illusion, die eine umso größere Abhängigkeit verbirgt. Es ist allerdings nicht die Abhängigkeit, die gefährlich ist – es ist die Illusion. Diese Illusion trennt uns von dem, wovon wir in Wirklichkeit abhängig sind und erlaubt uns, so viel davon zu zerstören. Was braucht es, um diese Illusion in sich zusammenfallen zu lassen? Üblicherweise braucht es eine Krise: eine Begegnung mit dem Tod oder eine andere Lebenskatastrophe, wie etwa Scheidung, Bankrott, Krankheit, Entwürdigung oder Gefängnis. Wir halten diese Dinge mit unseren persönlichen Programmen der Kontrolle fern, doch irgendwann wird das eine oder das andere seinen Weg auch in die sichersten Festungen des Selbst finden. Diese Ereignisse verwandeln uns. Wir lassen in dem Moment los, da wir entdecken, dass die einzige bleibende und verlässliche Sicherheit dadurch entsteht, dass wir weniger kontrollieren, statt mehr, dass wir uns dem Leben öffnen, die starren Grenzen des Selbst lockern, andere Menschen einlassen und uns verbinden – das heißt, abhängiger werden – mit einer Gemeinschaft von Menschen und Natur.
Wie oben, so unten. Jede dieser persönlichen Krisen hat ein kollektives Gegenstück, der sich die Menschheit heute gegenüber sieht. In unserer Erschöpfung natürlicher Rohstoffe – Boden, Wasser, Energie – haben wir den Bankrott; im Zusammenbruch unserer Gemeinschaften und der Auftrennung des sozialen Geflechts haben wir die Scheidung; in den wachsenden ökologischen Krisen und der nuklearen Bedrohung sehen wir uns dem Tod gegenüber. Die übliche Reaktion ist es zu versuchen, alles irgendwie zusammenzuhalten und die Illusion von Unabhängigkeit weiter aufrecht zu erhalten, indem wir sie noch weiter ausdehnen. Das heißt, das Scheitern der Kontrolle zu beheben, indem wir mehr Kontrolle ausüben.
Die Wichtigkeit, die wir der Unabhängigkeit von der sozialen und materiellen Umwelt beimessen, hat tiefe Wurzeln in unserer einfachen Mythologie. In einem grundlegend gleichgültigen Universum eines Newton oder der grundlegend wettbewerbsorientierten Welt eines Darwin ist die Unabhängigkeit vom Rest der Welt sicherlich eine gute Sache. Indem wir mehr und mehr von der Welt besitzen, machen wir sie sicher, machen wir sie Unser. Wir gewinnen die Oberhand über die zufälligen Kräfte, die uns hin und her stoßen, und wir maximieren die Ressourcen, die unserem Überlebesvorteil zur Verfügung stehen.
Dieses Kapitel untersucht die Mittel und Wege, mit denen das Geld als Instrument die Liebe, Wahrheit, Schönheit, Geist, Natur und Gemeinschaft zerstört. Auf der konzeptuellen Ebene hat die reduktionistische Wissenschaft ihr Verschwinden schon vor einigen Jahrhunderten vorher gesagt, denn sie vertritt die Beseitigung aller Sekundärqualitäten, die „verschwinden, sobald man sie auseinander nimmt“. Geld, die Berechnungseinheit für die Reduktion des Lebens, hat den Reduktionismus in den Alltagsbereich gebracht. Diese Kapitel erzählt die Geschichte unserer Verarmung. Es ist nicht mein Ziel, dich zu verbittern, so greifbar mein Ärger auch sein mag. Es ist vielmehr mein Ziel, Erwartungen zu schüren und in dir ein Gefühl von großartigen Möglichkeiten zu inspirieren. Indem wir identifizieren, was verloren wurde und wie es dazu kam, können wir vielleicht einen Weg zu dessen Wiedererlangung erschaffen. Ich spreche zu deinem Gefühl der Enteignung – ob du nun reich bist oder arm, mächtig oder unterdrückt. In der Tat mag die Enteignung, von der ich spreche, bei den sogenannten Gewinnern der Gesellschaft noch extremer sein, und zwar aus zwei Gründen. Einer ist, dass die zur Verarmung führende Dynamik des Geldes in ihrem Leben häufig weiter fortgeschritten ist; der andere Grund ist, dass die Leere der gesellschaftlichen Belohnungen für jene offensichtlicher ist, die sie schon ihr Eigen nennen. Nicht länger kann das Streben nach ihnen den Hunger nach dem verlorenen Wohlstand von Verbindung und Sein verschleiern.
Mit anderen Worten spreche ich zu deiner Ahnung, dass eine schönere Welt möglich ist. Wir brauchen uns nicht länger in der Trauer über die schönen Dinge, die vergangen sind, zu suhlen, noch brauchen wir uns zu suhlen in Bitterkeit gegen die Kräfte, die sie uns genommen haben. Es ist aber wichtig, das anzuerkennen und traurig zu sein über das, was verloren ist, so dass wir die Vergangenheit abschließen und eine Zukunft in Ganzheitlichkeit erschaffen können. Sei bereit, aus der vollen Erfahrung der Wirklichkeit heraus zu leben und zu erschaffen.
Im Folgenden wird vieles von dem, was uns über die Welt bekümmert, in einen breiten Zusammenhang gestellt werden. Hier sind einige der Fragen aufgeführt, die die Forschungen zu diesem Buch seit zehn oder mehr Jahren inspiriert haben. Ich lade dich ein, sie bei der Lektüre dieses Kapitels im Hinterkopf zu behalten.
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