Der Aufstieg der Menschheit von Charles Eisenstein

Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters

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Inhaltsverzeichnis:


Allein in der Menge

Es sollte nicht überraschen, dass Geld stark an der Auflösung der Geminschaft beteiligt ist, denn Anonymität und Wettbewerb liegen im Wesen des Geldes, wie wir es kennen. Die Anonymität des Geldes ist eine Funktion seiner Abstraktion. Die Geschichte des Geldes ist die einer allmählichen Abstraktion vom Wert physischer Objekte. Frühe Formen des Geldes besaßen einen innewohnenden Wert und wurden von anderen Objekten mit intrinsischem Wert aufgrund ihrer Transportabilität, Aufbewahrungsfähigkeit und Universalität unterschieden. Ob Kamele, Getreidesäcke oder Ölkrüge, die frühen Tauschgüter hatten einen innewohnenden Wert für nahezu jedes Mitglied der Gesellschaft.

Als sich die Gesellschaft spezialisierte und der Handel blühte, entwickelten sich abstraktere Formen des Geldes, die nicht von ihrem intrinsischen Wert abhingen, sondern von kollektiven Glauben an ihren Wert. Warum tatsächliche Getreidesäcke handeln, wenn du Repräsentationen dieser Säcke handeln kannst? Papiergeld und weigehend auch Münzen hängen in ihrem Wert mehr von kollektiven Wahrnehmungen ab, als von praktischer Brauchbarkeit. Gold ist nicht essbar.

Der nächste Schritt in der Abstraktion von Wert kam mit der Scheidung des Geldes selbst von Repräsentationen physischer Objekte. Mit der Aufgabe des Goldstandards im 20. Jahrhundert war ein Dollar ... einen Dollar wert. Währung wurde zur vollständig abstrakten Repräsentation von Wert: in der Tat ist die Abstraktion so vollständig, dass es nicht länger auch nur irgend etwas repräsentiert. Die Parallele zur Sprache ist fast unheimlich. So, wie Worte ihren Anker in der Realität unserer Sinne verloren haben und „uns zu immer übertriebeneren Äußerungen zwingen, um überhaupt kommunizieren zu können“, so wurde auch das Geld nicht bloß zu einer Repräsentation von Wert sondern zu einem Wert an sich. Die letzten 30 Jahre sind Zeuge des endgültigen Schritts dieser Abstraktion geworden: die allmähliche Beseitigung physicher Währung zugunsten von Zahlen in Computern.

So, wie Worte zunehmend weniger bedeuten, nähert sich auch das Geld einer Krise, in der es, abgekoppelt von den brauchbaren Objekten, für die es einst stand, nicht mehr ist, als Metallscheiben, Papierstücke und Bits im Computer. Unsere Anstrengungen, diese Eventualität (von Hyperinflation und Währungskollaps) abzuwenden, spiegeln die Logik der Technologischen Lösung, die den Tag der Abrechnung auf später verschiebt.

Geld ist nicht nur abstrakt im Bezug auf Gebrauchsobjekte, sondern auch im Bezug auf Menschen. Eines Jeden Geld ist das gleiche. Während Kamele oder Ölkrüge oder jedes andere fassbare Objekt eine mit ihrem Ursprung verbundene Individualität aufweisen, ist Geld vollkommen gleichförmig und daher völlig anonym. Nichts an den Zahlen auf deinem Bankkonto sagt dir, von wem das Geld kam. Das Geld der einen Person ist so gut wie das der anderen. Es ist kein Zufall, dass unsere Gesellschaft, die zunehmend auf Geld basiert, auch zunehmend eine gleichförmige und anonyme Gesellschaft ist. Geld ist die Art, wie die Gesellschaft der Maschine die Standardisierung und Entmenschlichung, die ihrem Massencharakter und Arbeitsteilung zugrunde liegt, in Kraft treten lässt. Aber mehr noch als nur ein Mittel zur Inkraftsetzung der Entmenschlichung verstärkt das Geld diese noch.

Um zu sehen wie, kehren wir noch einmal zum Paradies der finanziellen Unabhängigkeit zurück, ignorieren für den Moment, dass die Sicherheit, die sie verspricht, eine Illusion ist, und schauen stattdessen auf die Ergebnisse, die sie tatsächlich erreicht. Oft wird, wenn der Anschein der Unabhängigkeit erreicht ist, ihre Leere am sichtbarsten. Beobachte nur, dass ein finanziell unabhängiges Individuum unter anderen ebenso unabhängigen Individuen keine Grundlage für Gemeinschaft hat, außer dem Bemühen „nett zu sein“ und „sich Freunde zu machen“. Selbst hinter der wohlmotiviertesten sozialen Versammlung liegt das Wissen: Wir brauchen uns gegenseitig eigentlich nicht. Zeitgenössische Partys zum Beispiel gründen fast immer auf Konsum – von Nahrung, Getränken, Drogen, Sport oder andere Formen der Unterhaltung. Wir erkennen sie als frivol an. Diese Art des Spaßes zählt eigentlich nichts und ebenso die Freundschaften, die sich auf diesen Spaß gründen. Wird irgendeine freundschaftliche Beziehung durch Partys wirklich enger?

Übrigens denke ich nicht, dass gemeinsamer Konsum Spaß ist. Es lässt lediglich die Zeit schmerzfreier vergehen, indem es einen Mangel vertuscht, und es hinterlässt uns mit einem umso größeren Gefühl der Leere. Die große Bedeutung der Oberflächlichkeit unserer sozialen Freizeitgestaltung wird offensichtlich, wenn wir diese Art „Spaß“ mit einer sehr anderen Aktivität vergleichen, dem Spiel. Anders als der gemeinsame Konsum ist das Spiel naturgemäß kreativ. Gemeinsame Kreativität nährt Beziehungen, die alles andere als oberflächlich sind. Aber wenn unser Spaß, unsere Unterhaltung selbst Kaufobjekt ist und erschaffen wird von weit entfernten und anonymen Spezialisten für unseren Konsum (Filme, Sportwettbewerbe, Musik), dann werden wir zu Konsumenten und nicht zu Produzenten von Spaß. Wir sind nicht länger Spielende.

Spiel ist die Produktion von Spaß; Unterhaltung ist der Konsum von Spaß. Wenn Nachbarn miteinander die Fußballweltmeisterschaft schauen, sind sie Konsumenten; wenn sie ein Fußballspiel organisieren, sind sie Produzenten. Wenn sie Musikvideos zusammen schauen, konsumieren sie; wenn sie gemeinsam in einer Band spielen, produzieren sie. Nur durch letztere Aktivität ergibt sich die Möglichkeit, einander samt Stärken, Schwächen, Charakter und inneren Ressourcen kennen zu lernen. Im Gegensatz dazu gibt die typische Cocktailparty, das Festessen oder die Meisterschaftsparty wenig Gelegenheit, viel von sich miteinander zu teilen, denn es gibt dort nichts zu tun. (Und es ist sogar zu bemerken, dass jeder Versuch in solchen Situationen etwas von sich mit den anderen zu teilen, gekünstelt, unangenehm, unbeholfen, unpassend oder peinlich erscheint.) Übrigens entsteht wahre Intimität nicht, indem man von sich erzählt – deine Kindheit, deine Beziehungen, deine gesundheitlichen Probleme, usw. – sondern von geteilter Kreativität, die unsere wahren Qualitäten hervorbringt, die dich einlädt, jenen Aspekt von dir zu zeigen, der für die vorliegende Aufgabe benötigt wird. Später, wenn Intimität sich entwickelt hat, kann das Erzählen über dich selbst ganz natürlich kommen – oder es kann auch sein, dass das nicht mal nötig ist.

Hast du dich jemals gefragt, warum deine Freundschaften in der Kindheit enger waren, intimer und verbundener als jene im Erwachsenenalter? Zumindest erinnere ich meine so. Es war nicht so, weil wir Herz-zu-Herz Konversationen über unsere Gefühle geführt hätten. Mit unseren Freunden in der Kindheit fühlten wir eine Nähe, die vielleicht nicht in Worten ausgedrückt wurde. Wir taten Dinge zusammen und wir erschufen Dinge zusammen. Aus einer Erwachsenenperspektive war unsere Kreativität nichts weiter als Kinderspiel: unsere Spielburgen und Kartonhäuser, unsere vorgeblichen Kaffeekränzchen, Phantasiesportmannschaften und Teddybärfamilien waren nicht real. Als Kinder aber waren diese Aktivitäten für uns in der Tat sehr real; wir waren mit vollem Ernst dabei und haben nicht weniger Emotionen in unsere Als-Ob-Welt investiert, als Erwachsene es in ihren tun.

Ja, die Erwachsenenwelt ist auch ein Als-Ob. Rollen und Kostüme, Spiele und Vorspiegelungen tragen zu einer ausgedehnten Geschichte bei. Wenn wir uns dessen bewusst werden, fühlen wir die Künstlichkeit von allem und fühlen uns vielleicht wie ein Kind, das Erwachsener spielt. Das gesamte Gebäude von Kultur und Technologie ist auf Geschichten aufgebaut, komponiert aus Symbolen davon, wie die Welt ist. Normalerweise bemerken wir es nicht; wir denken, es sei alles „wirklich so“. Unsere Geschichten sind größtenteils unbewusst. Aber das neue Gebäude, das sich aus den Ruinen des alten erheben wird, wird auf gänzlich anderen Geschichten über das Selbst und die Welt aufgebaut sein, und diese Geschichten werden im vollen Bewußtsein erzählt. Wir werden wieder spielen.

Für uns zählten die Dinge viel, die wir als Kinder zusammen gemacht haben. Für uns waren sie wirklich; sie betrafen uns ganz intensiv und sie riefen unser volles Sein wach. Im Gegensatz dazu zählen die meisten Dinge, die wir als Erwachsene gemeinsam tun, um Spaß zu haben oder Freundschaft zu pflegen, nicht viel. Wir erkennen sie als frivol oder unnötig und schreiben sie unserer „Freizeit“ zu. Ein Kind schreibt das Spiel nicht seiner Freizeit zu, außer es wird dazu gezwungen.

Ich erinnere mich noch an die langen Nachmittage der Kindheit, als meine Freunde und ich in irgenwelches Projekt vertieft waren, das für diesen Moment das allerwichtigste im Universum war. Wir waren vollkommen eingetaucht in das Projekt und in die Gruppe. Unsere Vereinigung war stärker als unsere bloße Summe von Individuen; das Ganze war größer, als die Summe seiner Teile. Die Freundschaften, die unser Bedürfnis nach Verbindung befriedigen, sind jene, die jede Person zu mehr machen, als sie es allein wäre. Diese Extradimension gehört sowohl zu allen Teilnehmern als auch zu keinem, ähnlich der „fünften Stimme“, die aus den Harmonien einer vierstimmigen Gesangsgruppe auftaucht. In vielen meiner erwachsenen Beziehungen fühle ich mich reduziert und nicht vergrößert. Ich fühle mich nicht, als hätte ich Begrenzungen losgelassen, um Teil zu werden von etwas Größerem als ich selbst; stattdessen sehe ich mich streng meine Grenzen bewachend und nur so wenig von mir selbst preisgebend, dass ich sicher, liebenswert oder angemessen erscheine. Andere tun dasselbe. Wir sind reserviert. Wir sind zurückhaltend.

Unsere Reserviertheit sollte uns nicht allzu sehr überraschen, denn es gibt wenig in unseren erwachsenen Freundschaften, das uns dazu zwingt, zusammen zu sein. Wir können uns treffen und reden, wir können uns treffen und essen und reden, wir können uns treffen und trinken und reden. Wir können zusammen einen Film oder ein Konzert anschauen und unterhalten werden. Es gibt viele Gelegenheiten für den gemeinsamen Konsum, aber wenige für gemeinsame Kreativität oder dafür, gemeinsam etwas zu machen, um die wir uns intensiv kümmern. Wir können höchstens mal mit Freunden segeln gehen oder gemeinsam Sport treiben, und immerhin arbeiten wir dann zusammen an einem gemeinsamen Zweck, aber dennoch erkennen wir es als Spiel, als Freizeit. Der Grund, warum erwachsene Freundschaften so oberflächlich erscheinen ist der, dass sie oberflächlich sind. Der Grund, warum wir wenig tun können, außer uns zum Reden zu treffen oder uns zu treffen, um uns Zerstreuungen zu widmen, ist der, dass uns die Spezialisierung unserer Gesellschaft wenig Raum für mehr gibt. Daher auch der ständige Refrain des Teenagers: „Es ist nichts los.“ Er hat Recht. Wenn wir erwachsen werden, bietet man uns Konsum statt Spiel, Wettbewerb statt gemeinsamer Kreativität und Arbeitskollegen statt Spielkameraden 1.

Das Gefühl, dass „wir uns eigentlich nicht brauchen“, ist nicht nur auf Freizeitgesellschaften beschränkt. Welche treffendere Beschreibung könnte es für den Verlust von Gemeinschaft in der heutigen Welt geben? Wir brauchen einander eigentlich nicht. Wir brauchen die Person, die unsere Nahrung anbaut, liefert und verarbeitet, die unsere Kleidung herstellt, unser Haus baut, unsere Musik erschafft, unser Auto baut und repariert, nicht zu kennen; wir brauchen nicht einmal die Person zu kennen, die auf unser Kleinkind aufpasst, während wir arbeiten. Wir sind abhängig von der Funktion, aber nur beiläufig von der Person, die diese Funktion erfüllt. Was auch immer es sei, wir können immer jemand anderen dafür bezahlen, solange wir das Geld haben. Und wie bekommen wir das Geld? Indem wir irgendeine andere spezialisierte Funktion erfüllen, was meistens bedeutet, dass andere Leute uns dafür bezahlen, etwas für sie zu tun. Das nenne ich das monetarisierte Leben, in welchem nahezu alle Aspekte des Daseins entweder in Güter verwandelt wurden oder einen finanziellen Wert zugemessen bekommen.

Die Unerlässlichkeiten des Lebens sind Spezialisten überantwortet worden, was uns mit keiner bedeutungsvollen Tätigkeit außerhalb unserer eigenen Spezialisierung zurücklässt, außer uns zu zerstreuen. Dabei sind die Tätigkeiten des täglichen Lebens, die uns geblieben sind, zumeist einsame Angelegenheiten: irgendwo hinfahren, Sachen kaufen, Rechnungen bezahlen, Fertiggerichte zubereiten, Hausarbeit machen. Keine dieser Tätigkeiten erfordert die Hilfe von Nachbarn, Verwandten oder Freunden. Wir wünschen uns, wir wären unseren Nachbarn näher; wir denken von uns selbst als freundliche und hilfsbereite Menschen. Aber es gibt so wenig, bei dem wir ihnen helfen können. In unseren Schuhkartonhäusern sind wir selbstgenügsam. Oder vielmehr sind wir selbstgenügsam in Bezug auf die Leute, die wir kennen, aber abhängig wie nie zuvor von vollkommen Fremden, die tausende Kilometer entfernt leben.

Krisenzeiten können uns unseren Nachbarn dennoch näher bringen. Wenn eine Gesundheitskrise unfähig macht, die einfachen Funktionen des täglichen Überlebens zu erfüllen, oder eine Naturkatastrophe oder eine soziale Krise die Nahrungsversorgung, die Stromversorgung und den Verkehr unterbricht, die uns alle abhängig machen von entfernten Fremden, aber unabhängig von unseren Nachbarn, dann helfen wir einander gerne aus. Auf Gegenseitigkeit beruhende Beziehungen bilden sich schnell aus. Aber für gewöhnlich helfen wir unseren Nachbarn nicht viel, weil es nicht viel zu helfen gibt.

Was gibt es für den typischen Vorstädter mit seinen Freunden zu tun? Wir können zum Vergnügen miteinander kochen, aber wir brauchen die gegenseitige Hilfe nicht bei der Nahrungsproduktion. Wir brauchen einander nicht, um ein Dach über dem Kopf und Kleidung zu bekommen. Wir brauchen einander nicht, wenn wir krank werden. All diese Funktionen haben wir an bezahlte Spezialisten übergeben, die im Allgemeinen Fremde sind. In einem Zeitalter des Massenkonsums brauchen wir einander nicht, um Unterhaltung zu produzieren. In einem Zeitalter der bezahlten Kinderbetreuung zögern wir, einander um Hilfe wegen der Kinder zu fragen. Im Zeitalter von Fernsehen und Internet brauchen wir einander nicht, um uns die Neuigkeiten zu erzählen. In der Tat gibt es nicht nur wenig miteinander zu tun, es gibt ebenso wenig miteinander zu bereden. Als Themen bleiben uns das Wetter, der Vorgarten, Stars und Sternchen und Sport. „Ernste“ Themen sind tabu. Wir können unsere sozialen Treffen sicherlich mit Worten füllen, aber wir fühlen uns dennoch leer und senden diese Worte in eine gähnende Leere, die diese Worte niemals füllen können.

Und so finden wir in unserer Kultur eine Einsamkeit und einen Hunger nach Authentizität, die in unserer Geschichte wohl unübertroffen ist. Wir versuchen, „Gemeinschaft aufzubauen“ und verstehen, dass das bloße Vorhaben nicht genug ist, wenn die Trennung eingebaut ist in die grundlegende soziale und physische Infrastruktur unserer Gesellschaft. Sofern diese Infrastruktur in unserem Leben intakt ist, werden wir niemals Gemeinschaft erleben. Gemeinschaft ist unverträglich mit dem modernen Lebensstil von hoch spezialisierter Arbeit und vollständiger Abhängigkeit von anderen Spezialisten außerhalb dieser Arbeit. Es ist ein Trugschluss zu denken, dass wir ein ultraspezialisiertes Leben leben und auf irgendeine Weise eine andere Zutat namens „Gemeinschaft“ hinzufügen. Nochmal, was gibt es wirklich zu teilen? Nicht viel, was etwas zählt, sofern wir unabhängig von den Nachbarn und abhängig von gesichtslosen Institutionen und entfernten Fremden sind. Wir können es versuchen: geh und triff dich mit Nachbarn, organisiere eine Tombola, eine Mailingliste, eine Party. Solche Gemeinschaft kann niemals wahrhaftig sein, weil das Fundament des Lebens schon Anonymität und Bequemlichkeit ist.

Wenn wir Professionelle dafür bezahlen, unsere Nahrung anzubauen und zuzubereiten, unsere Unterhaltung zu erschaffen, unsere Kleidung herzustellen, unsere Häuser zu bauen und sauber zu halten, unsere Krankheiten zu behandeln und unsere Kinder auszubilden, was bleibt dann noch? Was bleibt, auf dem eine Gemeinschaft aufzubauen wäre? Echte Gemeinschaften sind wechselseitig abhängig.

Jetzt haben wir den sinistren Kern der finanziellen Unabhängigkeit erreicht: sie neigt dazu, uns in einer Welt von Fremden zu isolieren. Es sind Fremde, die wir bezahlen, um uns die oben genannten Funktionen zu erfüllen. Es ist eigentlich egal, wer unsere Nahrung anbaut – wenn sie ein Problem haben, kannst du immer jemand anderen dafür bezahlen. Diese Formulierung fasst vieles über unsere moderne Gesellschaft ein. Wenn alle Funktionen standardisiert und genau definiert sind, ist es mehr oder weniger egal, wer sie ausfüllt. Wir können immer jemand anderen dafür bezahlen. Als Individuum ist es wirklich hart, sich entbehrlich zu fühlen, als ein Rädchen im Getriebe. Wir fühlen uns entbehrlich, weil wir im Sinne des Überlebens und im Sinne der wirtschaftlichen Funktionen des Lebens tatsächlich entbehrlich sind.

Wenn du Essen im Restaurant kaufst, sind die Menschen hinter den Küchentüren, die du niemals triffst, entbehrlich. Wenn sie auscheiden, selbst wenn sie sterben, kann jemand anderes angestellt werden, um dessen Platz einzunehmen. Dasselbe gilt für die Arbeiter in Indonesien, die die Kleider herstellen, die du im Supermarkt kaufst. Und gleiches gilt auch für die Ingenieure, die deinen Computer entwerfen. Wir verlassen uns auf ihre Rollen, ihre Funktionen, aber als individuelle Menschen sind sie vernachlässigbar. Vielleicht bist du eine nette, freundliche Person, die tatsächlich freundliche Begrüßungen mit der Kassiererin austauscht, die seit fünf Jahren im lokalen Supermarkt arbeitet, aber während du vielleicht abhängig bist von ihrer Funktion, so ist die bestimmte Person, die diese Funktion erfüllt, unwichtig. Es ist eigentlich egal, ob du mit dieser Person gut auskommst oder sogar ihren Namen kennst. Sie könnte entlassen werden oder sterben, und es würde für dein Leben nur einen geringen Unterschied bedeuten. Es wäre kein großer Verlust. Wenn du nicht in einer sehr kleinen Stadt lebst, wirst du wahrscheinlich nie erfahren, was mit ihr geschehen ist oder jemals überlegen, danach zu fragen. Das gilt umso mehr für die große Mehrheit der Leute, die unser materielles Leben aufrecht erhalten. Sie sind für uns, anders als die Kassiererin, vollkommen gesichtslos.

Weil die Wirtschaft von unseren Rollen abhängt, sich aber nicht darum schert, welche Individuen diese Rollen ausfüllen, leiden wir an einer allgegenwärtigen Angst und Unsicherheit, die aus der Tatsache resultiert, dass die Welt blendend ohne uns auskommen kann. Wir sind leicht ersetzbar. Natürlich sind wir für unsere Freunde und Lieben – Menschen, die uns persönlich kennen – unersetzbar. Aber mit der zunehmend feinen Arbeitsteilung und dem Massencharakter der modernen Gesellschaft werden diese Menschen weniger und weniger, und immer mehr der sozialen Funktionen gehen über in den monetarisierten Bereich. Deshalb leben wir in Angst und Unsicherheit, und das aus gutem Grund, denn wir sind leicht ersetzbar in den Rollen, die wir bekleiden, um Geld zu verdienen. Wir kommen blendend ohne dich aus. Wir werden einfach jemand anderen dafür bezahlen.

1 Wir können mit unseren Arbeitskollegen Freundschaft schließen, vor allem wenn wir uns einem gemeinsamen Ziel widmen. Allerdings ist die Möglichkeit für Freundschaft am Arbeitsplatz dadurch getrübt, dass Geld als der hauptsächlich motivierende Faktor in unserer Arbeit hervorsticht. Und persönlicher Gewinn ist kein gemeinsames Ziel. Im Gegenteil, viel zu oft müssen Arbeiter um Beförderung, Festanstellung oder andere Vergünstigungen konkurrieren. Da Geld die vorstechende Motivation ist, die Menschen zur Arbeit bringt, überlagert das Geldmachen naturgemäß jedes gemeinsame Schaffen als erstes Ziel der Arbeit. Freundschaften am Arbeitsplatz bestehen deshalb häufig unter Vorbehalt.

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1998-2011 Charles Eisenstein