Der Aufstieg der Menschheit von Charles Eisenstein

Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters

Du befindest dich hier: Start » Buch lesen » Volltext

Inhaltsverzeichnis:


Die anonyme Macht

Das monetarisierte Leben ist ein einsames Leben, weil es die Menschen in unserem Alltag zu anonymen Rolleninhabern reduziert und weil finanzielle Transaktionen naturgemäß frei von Verpflichtung sind. Wurde das Geld einmal bezahlt und die Ware geliefert, ist die Transaktion vorbei. Es ist keine zukünftige Beziehung notwendig. Beide Parteien haben sich ihrer Verpflichtungen entledigt.

Finanziell sicher zu sein, bedeutet, genug Geld zu haben, um uns all unserer Verpflichtungen zu entledigen, so dass wir es nicht nötig haben, vom Wohlwollen anderer oder von Geschenken abhängig zu sein. Es bedeutet, dass wir frei sind von Verpflichtungen – mit anderen Worten sind wir unabhängig. Aber ein anderes Wort für Verpflichtung oder Obligation ist Anbindung. Das Wort Obligation bedeutet, jemandem eine Bindung aufzuerlegen. Die geschlossene Geldtransaktion hinterlässt wenig oder gar keine Bindung zwischen den Transaktionpartnern. Jemand, der finanzielle Sicherheit genießt, braucht sich nie auf persönliche Beziehungen zu anderen Menschen zu verlassen. Er ist auf niemandes Gefallen angewiesen – er kann für deine Dienste bezahlen, danke schön. Finanzielle Sicherheit bedeutet, dass du nicht abhängig bist vom guten Willen irgendeiner bestimmten Person. Wenn der Bauer, der deine Nahrung anbaut beschließt, dass er dich nicht mag, macht das nichts, denn du kannst jemand anderen dafür bezahlen, deine Nahrung anzubauen.

Geschenktransaktionen sind davon sehr verschieden: sie haben ein offenes Ende und sind persönlich. Die Transaktion ist unvollständig und hinterlässt eine Verpflichtung – eine Anbindung – zwischen dem Schenkenden und dem Beschenkten. Ein Geschenk zu überreichen, erschafft oder bekräftigt eine soziale Beziehung; es verbindet den Schenkenden und den Beschenkten. Geschenke legen gewöhnlich zukünftige Geschenke nahe, ob nun direkt oder an jemand anderen weiter entfernt. Darüber hinaus haben Geschenke meistens keinen standardisierten Wert; ihr Wert hängt ab von der einzigartigen Beziehung zwischen Schenkendem und Beschenktem, und es bekräftigt die Beziehung. Tatsächlich ist das einer der Hauptgründe, warum wir überhaupt schenken: um stärker verbunden und damit weniger unabhängig von der empfangenden Person zu werden. Geld bedeutet das Gegenteil. Geld taugt dafür, Handel zwischen Fremden zu ermöglichen, etwa wenn jemand von uns etwas im Supermarkt oder im Internet kauft, und es mindert die gegenseitige Fremdheit der Handelspartner damit nicht. Geld hat denselben Wert, egal, wer es dir gibt – es erfordert keine Beziehung. Oft werden Beziehungen dadurch sogar verkompliziert oder zerstört.

Die Ökonomie und der gesunde Menschenverstand verbinden Geld mit Eigeninteresse. Es sollte deshalb nicht überraschen, dass Geschenktransaktionen, die sich so stark von Geldtransaktionen unterscheiden, eine andere Auffassung vom Selbst erzeugen, als auch andere Wahrnehmungen darüber, was im Interesse des Selbst liegt. In geschenkbasierten Gesellschaften erstrecken sich die durch Geschenke erzeugten Verbindungen gewöhnlich über die zwei Menschen hinaus und umfassen den gesamten Stamm oder das ganze Dorf. Lewis Hyde beobachtet in seinem Klassiker „Die Gabe“, dass Geschenke in Kreisen laufen und dass diese Kreise sich nach außen ausdehnen. Die Auffassung vom Selbst dehnt sich gleichermaßen aus und umfasst das gesamte Geschenknetzwerk. „Die Festigkeit des Egos hat seine Vorzüge, aber ab irgendeinem Punkt suchen wir die langsame Auflösung ... in der das Ego eine Ausweitung des Gebens-und-Nehmens mit der Welt genießt, um schließlich in voller Reife aufgegeben zu werden2.“ Der gegenteilige Prozess, in dem der Warenaustausch die Geschenknetzwerke verdrängt, geht einher mit einer Einengung des Selbst auf ein einsames und entfremdetes Ego.

Werden die Beziehungen des Schenkens in einer Gemeinschaft durch Geldtransaktionen verdrängt, wird das Gewebe der Gemeinschaft aufgelöst. Die eng verwobenen Gemeinschaften primitiver Gesellschaften wurden zusammengehalten durch ein komplexes Schenkungsbrauchtum; so nennt der rebellische Ex-Finanzier Bernard Lietaer die noch überlebenden Schenkungsbräuche Japans als Grund dafür, dass diese Gesellschaft einigen der gemeinschaftszerstörenden Auswirkungen der modernen Wirtschaft widerstehen konnte. Auch wenn es sich vielleicht um eine unbegründete Folgerung handelt, dass Gemeinschaften aus dem Schenken entstehen (und nicht auch anders herum), ist Lietaers Definition einer Gemeinschaft sehr elegant: „eine Gruppe von Menschen, die ihre gegenseitigen Geschenke wertschätzt und die darauf vertrauen kann, dass ihre Geschenke irgendwann, auf irgendeine Weise erwidert werden.“ Fehlt ein solches Vertrauen, dann liegen die Interessen des Selbst in der Anhäufung und Kontrolle von Ressourcen, ein Selbstinteresse also, das die Geldwirtschaft auszeichnet.

Die Schenkmentalität der Jäger und Sammler dehnte sich jenseits von Bekanntschaft und Verwandtschaft aus und schloss ihre gesamte Umwelt ein, so wie auch ihr Vertrauen, dass ihre Bedürfnisse befriedigt werden. Ob nun durch das Betreiben von Menschen oder Natur, das Geschenk findet seinen Weg zurück, um den Gebenden zu bereichern. Deshalb war der Jäger und Sammler nicht daran interessiert, Eigentum anzuhäufen. Im Reich des Geschenks ist die Anhäufung sinnlos.

All das änderte sich mit dem Übergang zur Agrikultur. Sie erfordert eine Investition an Arbeit, um die Natur in ein produktiveres Artengemisch umzuwandeln und fördert eine Mentalität des Nehmens statt des Empfangens frei angebotener Geschenke. Dieser psychologische Übergang geschah allmählich: wir sprechen noch immer von den „Gaben der Scholle“, aber ist es ein echtes Geschenk, wenn wir den Schenkenden manipulieren müssen? Darüber hinaus schließt der Rhythmus der Agrikultur eine Phase der Anhäufung und Speicherung ein, der essentiell ist für die Sicherheit des Bauern. Der wohlhabendste Bauer ist jener mit dem größten Getreidespeicher. Der größte Herr in einer Bauerngesellschaft ist jener, der die größten produktiven Ländereien kontrolliert. Der langsame Niedergang der Schenkmentalität geht Hand in Hand mit der Verschiebung im Denken, die mit der Zivilisation kam. Geld ist eine Verkörperung dieser Verschiebung aber nicht seine grundlegende Ursache. Es verstärkt nur das Denken von Mangel und Anhäufung, das die Trennung des Selbst zwangsläufig begleitet.

Die Annahme des Mangels ist die Wurzel der Wirtschaftswissenschaften, bei der Austausch geschieht, wenn eine Person ein „Bedürfnis“ oder „Verlangen“ hat, welches sie nur schwer oder unmöglich selbst erfüllen kann, das eine andere Person aber leichter erfüllen kann. Jäger und Sammler hatten anscheinend keine solchen Bedürfnisse und selbstversorgende Kleinbauern haben nur sehr wenige. Wir können Wirtschaftswachstum also ansehen als Zeichen einer Eskalation von Bedürftigkeit, einer Intensivierung des Zustands, etwas zu brauchen. Heutzutage werden wir von einer nie dagewesenen Flut materieller Güter und des Luxus überschwemmt und befinden uns dennoch in einem verzweifelten Zustand des Verlangens. Fortwährend im Verlangen zu leben, ist die eigentliche Definition von Armut, egal, wie groß das eigene Haus ist oder das Bankkonto. Nach dieser Definition ist unsere vielleicht die ärmste Gesellschaft, die die Welt je gekannt hat.

Der Zusammenbruch der Gemeinschaft unter dem Angriff der Geldwirtschaft ist wohl dokumentiert, wo immer Geld den Platz traditioneller Gegenseitigkeit eingenommen hat. Helena Norberg-Hodge zeichnet in ihrem Buch, „Faszination Ladakh“, ein besonders klares Bild dieses Prozesses. Sie beschreibt die Auswirkungen der Monetarisierung in der Himalayaregion Ladakh, wo Gebräuche des Austauschs von Arbeitsleistungen zwischen Nachbarn den Bauern seit Generationen erlaubten, die Ernte rechtzeitig einzubringen, ohne die Notwendigkeit, bezahlte Hilfe in Anspruch zu nehmen. Nachdem Arbeit zur Ware wurde und die Menschen von Geld abhingen, um zu überleben, verschwanden diese Gebräuche. Bauern mussten Lohnarbeiter einstellen und wurden so tiefer in die Geldwirtschaft hineingezogen. Sie wurden davon abhängig, ihre Ernten zu verkaufen und damit anfällig für Schwankungen der Weltmarktpreise.

In scharfem Kontrast zur monetarisierten Welt der finanziellen Sicherheit, die unaufhaltsam jeden von jedem anderen trennt, ist die Schenkwirtschaft eine Wirtschaft der Verpflichtung und Abhängigkeit. Finanzielle Sicherheit ist keine echte Unabhängigkeit, sondern nur eine Abhängigkeit von Fremden, die die Dinge, welche für dein Überleben notwendig sind, nur dann erfüllen, wenn du sie bezahlst. Möchtest du lieber abhängig sein von Fremden oder von Menschen, die du kennst? Nun, das hängt vielleicht davon ab, wie du die Leute behandelst, die du kennst. Deshalb zerstört das monetarisierte Leben einige der Anreize für Menschen, getreu sozialen und ethischen Normen zu handeln. Auflösung von Gemeinschaft ist fest eingebaut in unser System des Geldes. Die Monetarisierung des Lebens löst Gemeinschaft auf, und die Auflösung von Gemeinschaft macht eine weitere Monetarisierung des Lebens notwendig.

Die trennenden und anonymisierenden Auswirkungen des Geldes machen es unwahrscheinlich, dass die Menschen, von denen wir wirtschaftlich abhängen, unsere Freunde sind. Im Gegenzug erfüllen unsere Bekanntenkreise, unsere Freunde für gewöhnlich spezialisierte Funktionen, die überhaupt nicht direkt mit unserem Leben in Beziehung stehen. Arbeit und Freundeskreise sind meist getrennt. In der Tat wird es oft als für die Freundschaft ungünstig oder bedrohlich angesehen, in eine wirtschaftliche Wechselbeziehung einzutreten, auch wenn es möglich wäre. Nehmen wir mal als Beispiel eine hypothetische Gruppe von Freunden: eine Programmiererin, ein Hochschullehrer, ein Facharzt, eine Anwältin, ein Immobilienmakler, eine Versicherungsangestellte und ein Künstler. Keiner dieser Menschen hängt von dem anderen ab, um irgendein Bedürnis zu erfüllen, außer der gemeinsamen Freizeitgestaltung. Die Anwältin braucht kein Kunstobjekt vom Künstler zu kaufen. Der Immobilienmakler kann leicht zu einem anderen Facharzt gehen. Die Kinder der Programmiererin werden wahrscheinlich nicht von diesem Hochschullehrer ausgebildet. Die Gruppe trifft sich immer mal wieder am Wochenende beim gemeinsamen Essen. Manchmal schauen sie ein Fußballspiel oder machen ein Picknick. Eine typische Gruppe von Freunden. Sie kommen gut miteinander aus, und es gibt wirklich keinen Grund für sie, nicht gut miteinander auszukommen, denn es gibt einfach keine Gelegenheit für Interessenkonflikte.

Interessenkonflikte entstehen nur, wenn, sagen wir mal, der Facharzt ein Rechtsproblem hat und seine Freundin als Anwältin nimmt, wenn der Künstler ein Haus kaufen möchte und den Immobilienmakler beauftragt, wenn der Lehrer eine Versicherung bei seiner Freundin abschließt. Auf einmal werden die Dinge delikat und eigentümlich. Wenn es ums Geld geht, fangen die Leute an sich zu fragen: „Werde ich übervorteilt?“ Der Künstler fühlt sich vom Immobilienmakler wie ein Kunde behandelt, dem er ein Haus verkaufen will. Der Arzt mag im Geheimen aufgebracht sein über die hohen Gebühren, die seine Freundin berechnet. Der Lehrer mag sich fragen, ob er vielleicht überversichert ist. Es ist um so vieles einfacher, Freundschaft und Geschäft getrennt zu halten. Und wirklich machen viele Leute sich dies zur Maxime. Sie halten die Beziehung zwischen ihnen und ihrem Anwalt, Arzt, Versicherungsmakler usw. auf einer rein „geschäftlichen“ Ebene. Es scheint, als sei das Geheimnis zur Erhaltung einer Freundschaft, vollkommen unabhängig voneinander zu bleiben, zumindest im wirtschaftlichen Bereich.

Während wir in der Vergangenheit mit den Menschen, von denen wir materiell abhingen, intim verbunden waren, sind unsere wirtschaftlichen Beziehungen heute immer stärker getrennt von unseren sozialen Beziehungen, bis hin zum Extrem, wo Gelddinge oft unsere Freundschaften zerstören. Wir haben nicht länger wirtschaftliche Bindungen mit unseren Freunden, wir müssen stattdessen irgend jemanden bezahlen. Wen bezahlen wir? Wenn wir „rational“ sind, dann denjenigen, der den günstigsten Preis für dieselbe Leistung anbietet. Wann immer ein Produkt oder eine Dienstleistung ein standardisiertes Gut wird, ist der Preis das einzige Unterschiedungsmerkmal. Wettbewerb ist die Kehrseite der Entpersonalisierung. Wir sind zum Wettbewerb miteinander gezwungen, nicht weil es die menschliche Natur wäre, sondern weil der allgegenwärtige Druck des Geldes jede andere Auswahl beseitigt.

Geld öffnet entschieden unfreundlichen Kräften die Tür. Es ist nicht sehr nett, dein rationales Selbstinteresse zu maximieren. Und doch ist es das, wozu uns das gegenwärtige Geldsystem zwingt. Ja, es ist besser das Geld aus der Freundschaft heraus zu halten. Das einzige Problem ist, wenn das gesamte Leben in Geld umgewandelt worden ist, müssen wir auch das gesamte Leben aus der Freundschaft heraushalten, und das lässt uns nur noch Oberflächlichkeiten. Diese Trennung zwischen spirituellen Bedürfnissen in der Freundschaft und materiellen Bedürfnissen in wirtschaftlichen Beziehungen spiegelt die Cartesische Trennung von Geist und Materie. Freundschaft ohne wechselseitige materielle Abhängigkeit ist für gewöhnlich ebenso blutarm, ebenso oberflächlich, wie Spiritualität getrennt von der wirklichen Welt.

Ich denke, ich genieße einige meiner Freundschaften, in denen wir nur reden, aber Nettigkeit, Feiern, Essen und Reden sind nichts, worauf man eine Gemeinschaft aufbaut. In echten Gemeinschaften hängen die Menschen voneinander ab. Sie sind dazu gezwungen, miteinander klar zu kommen, denn sie brauchen einander. Sie müssen lernen, mit den Fehlern aller zurecht zu kommen. Akzeptanz ist entscheidend für das Überleben einer jeden Person. Dies steht in scharfem Kontrast zu den meisten sogenannten „Online Netzwerken“, bei denen das Verlassen einer Gemeinschaft so einfach ist, wie auf die Löschtaste zu tippen.

In alten Zeiten zementierte gegenseitige Abhängigkeit und das Bedürfnis nach gemeinsamer Kreativität Freundschaften, und es gab reichlich Gelegenheit im gemeinsamen Wirken Teil von etwas zu werden, das größer war als wir selbst. In kleinen Bauerngemeinschaften, zum Beispiel, halfen Nachbarn und Verwandte einander bei der Ernte. Sie halfen einander bei vielen Projekten, die für eine Familie zu groß waren, wie etwa die Errichtung einer Scheune oder eines Hauses. Sie kümmerten sich um die Tiere anderer in Zeiten von Krankheit, Trauer, Hochzeiten und ähnlichem. Sie hingen auch voneinander ab – also, von Menschen, die sie persönlich kannten – bei Unterhaltung, Musik, Geschichten und anderen Formen der Kultur, von denen sie nicht bloße Konsumenten waren, sondern Mitproduzenten. Manchmal hing ihr Überleben selbst von der Kooperation ab.

Deshalb war es früher eine sehr ernste Sache, von seiner Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden. Wenn der örtliche Arzt, der Gemischtwarenhändler, der Weber, der Schmied sich weigerten, dich zu bedienen, konntest du nicht einfach „jemand anderen dafür bezahlen“. In eine andere Gegend zu ziehen war ein sehr großes Unternehmen, denn du musstest Teil einer neuen Gemeinschaft werden. Heutzutage erfordert ein Umzug in eine andere Gegend nur wenig Veränderung des Lebensstils – du kannst dir alles Nötige (und auch Luxus) überall in genau denselben Supermärkten besorgen. Alles, was du brauchst, ist Geld. Du brauchst mit niemandem klar zu kommen, du brauchst dank dieser anonymen Macht nicht einmal jemanden mit Namen zu kennen.

Es gibt neben der wechselseitigen Abhängigkeit einen weiteren Grund, warum Ausschluss eine der schlimmsten Strafen in altertümlichen Gesellschaften war. Es war nicht so sehr, dass wir für unser Überleben auf unsere sozialen Beziehungen angewiesen waren: ein Jäger und Sammler oder ein Urbauer konnte im Allgemeinen sehr gut für sich allein klar kommen, auch wenn das Leben ohne das Teilen und die Gegenseitigkeit in der Gruppe schwieriger war. Vielmehr wurde das Gefühl von Identität, die Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“, von unserer Stellung im sozialen Netz abgeleitet. Zuvorderst waren wir durch unsere verwandtschaftlichen Bande definiert; weiter waren wir durch unsere Fertigkeiten, Erfahrungen und unsere Berufung definiert. Wer bin ich? Ich bin Johns Bruder, Jimis Vater, Lauras Onkel, Cathys Cousin, Danas Schwager. In einer traditionellen Gesellschaft erstreckte sich das anerkannte Verwandtschaftsnetz über hunderte familiäre Gesichter, vereint durch Gebräuche der Gegenseitigkeit und durch Geschichten von Großvätern und Urgroßmüttern, die sich in der Vergangenheit in Legenden und Mythen verlieren. Aus einem Dorf oder einem Stamm ausgestoßen zu werden, hieß, seiner Identität beraubt zu werden, ein Schicksal, das vielleicht schlimmer ist, als der Tod.

In den heutigen Industrienationen wurde nicht nur die Gemeinschaft, sondern selbst die weitere Familie als lebensfähige soziale Einheit zerstört. Die sogenannte Kernfamilie ist die Regel; fast genauso oft, wie nicht, leben Vater und Mutter getrennt. Großeltern, Onkel, Cousins und Cousinen sind gelegentliche Besucher, und viele Erwachsene sehen ihre Cousins oder sogar ihre Geschwister für Jahre nicht. In unserem hochmobilen Zeitalter, wo es nicht unüblich ist, eine Anstellung in weiter Entfernung anzunehmen, sind unsere Verwandten oft über das ganze Land verstreut. Außerhalb der unmittelbaren Familie, der Schule und des Arbeitsplatzes sind die Gesichter, die wir täglich sehen, die Gesichter von Fremden. Und von den uns bekannten Gesichtern ist uns überhaupt nur die Familie mit ihren Lebensgeschichten intim bekannt.

Als Ergebnis fehlen uns die Mittel, eine starke Identität zu entwickeln. Niemand kennt unsere Geschichte. Menschen haben sich immer zum großen Teil durch ihre Beziehungen zu anderen definiert und haben eine gemeinsame Geschichte aufgebaut, die jeden ihrer Akteure definiert. Jetzt sind diese Geschichten zersplittert in kleine Vier-Personen-Einheiten (ich übertreibe hier ein wenig), die unterhalb der Schwelle für eine robuste Selbst-Definition liegen. Anders, als im traditionellen Dorf oder Stamm, wo jeder deine Geschichte kannte, wo du die Geschichte eines jeden anderen kanntest und du damit einen Kontext für die Erschaffung einer soliden Geschichte vom Selbst hattest, haben wir heute Alltagskontakte mit Außenstehenden. Wir erhalten unsere privaten Leben aufrecht und wissen wenig über das Leben unserer Kollegen, Kunden, Studenten, Lehrer, Nachbarn oder anderer Leute außerhalb unseres Haushalts.

Gemeinsam mit dem Aufstieg der geldbasierten Beziehungen hat sich durch die moderne Geschichte hindurch in beschleunigendem Maße der Bereich des Privaten ausgeweitet. Gesellschaften hatten immer schon einen Bereich des Privaten, ein bestimmtes Maß an Intimität, in welchem solche Funktionen, wie Geschlechtsverkehr, das Gebären oder die Ausscheidungen in Abgrenzung vom großen Teil der Gesellschaft stattgefunden haben, während andere Funktionen vollkommen öffentlich waren. Heute verschließen wir fast unser ganzes Leben in den privaten Kästen unserer Wohnungen, die nicht zufällig seit den 1950ern ihre Größe verdoppelt haben – eine buchstäbliche Verkörperung des anschwellenden privaten Bereichs.

Zusätzlich zum abgeschmolzenen Gefühl von Identität trägt die physische und soziale Isolation in den Wohnungskästen der modernen Gesellschaft zu der fast universellen Einsamkeit und Langeweile bei. Die einsame Hausfrau, isoliert in ihrem vorstädtischen Käfig, ist ein Symbol für unsere abgetrennten Leben. Abgepuffert durch die Wände unserer spezialisierten Rollen als auch durch die Infrastruktur der Vorstadt haben wir Kontakt zu anderen Leben durch das unpersönliche Medium Geld.

Die Fragmentierung der Gesellschaft, die aus der Ökonomie der Maschine folgte, bietet ein enormes geschäftliches Potential. Wenn der Stamm und das Dorf, der Clan und die erweiterte Familie zerstört sind, erschafft die dadurch entstandene emotionale Leere ein Verlangen nach Ersatzbeziehungen. Das aus unserer Isolation geborene, schwach ausgeprägte Selbstgefühl macht uns extrem verwundbar für eine Haltung des Konsums, indem wir versuchen, uns zu definieren durch das, was wir besitzen. Wir sind versucht, uns selbst durch unsere Turnschuhe zu definieren – „Sei wie Mike“ sagt die Nike-Werbung – und durch unsere Autos, Häuser, Armbanduhren, Kleidung und Sportmannschaften. Eine noch hinterhältigere Tendenz ist die, dass wir neue Geschichten aufsuchen müssen, um unsere fehlenden Geschichten von Verwandtschaft und Gemeinschaft, in die wir einst eingebettet waren, zu ersetzen. Zwar sind uns einige Überbleibsel von „Familiengeschichten“ geblieben, aber die Funktion des Geschichtenerzählens wurde im Großen und Ganzen auch wieder von entfernten Professionellen gekapert: die Fernseh- und Kinoproduzenten auf der einen Seite und die Nachrichtenmedien und das Erziehungskartell auf der anderen. Diese Institutionen versorgen uns mit neuen Geschichten, um die Frage „Wer bin ich?“ zu beantworten. Die Unterhaltungsindustrie füttert uns mit Geschichten über vollkommen Fremde. Fernsehdramen und Seifenopern verleihen die Illusion, mit dem Leben von Menschen intim vertraut zu sein. Solche Sendungen nutzen die angeborene identitätsbildende Funktion der Psyche, aber diese Funktion ist eingeschränkt, wenn diese intim betrachteten Leben aus dem Fernsehland niemals irgend welche Rückwirkungen auf unser Leben haben.

Auch die größeren Geschichten darüber, wo wir herkommen und warum wir hier sind, wurden professionalisiert. Statt Mythen und Legenden haben wir die Geschichtswissenschaft und die Nachrichten, die unser Bedürfnis nach einer Geschichte der Menschen, mit der wir uns identifizieren können, mit politischen und wirtschaftlichen Zielsetzungen ausnutzen. Im schlimmsten Falle nehmen die Menschen in ihrem Wunsch nach einer Geschichte, durch die sie sich identifizieren können, eine solche an, die rassistisch oder nationalistisch ist, wie etwa jene, die einem großen Teil der grausamen Geschehnisse des letzten Jahrhunderts zugrunde lag.

Menschen, die fest verwurzelt sind in einer lokalen, verwandtschaftlichen Gesellschaft, sind weniger anfällig sowohl für eine Konsumhaltung als auch den Faschismus, weil beide ihre Anziehungskraft aus dem Bedürfnis nach Selbst-Identität schöpfen. Deshalb ist es notwendig, zuerst das Identitätsgefühl einer zuvor isolierten Kultur zu zerstören, bevor man dort eine Konsumhaltung etablieren kann. Und so wird’s gemacht: Störe ihre Netzwerke der Gegenseitigkeit durch die Einführung von Konsumgütern von außen. Zermürbe ihr Selbstwertgefühl mit prächtigen Bildern vom Westen. Mache ihre Mythologien lächerlich mit Hilfe von Missionarsarbeit und wissenschaftlicher Erziehung. Beseitige ihre traditionellen Formen der Wissensweitergabe durch die Einführung von Beschulung mit auswärtigen Lehrplänen. Zerstöre ihre Sprache, indem du diesen Unterricht in Englisch oder einer anderen nationalen Weltsprache abhältst. Durchtrenne die Verbindung zu ihrem Land durch den Import billiger Nahrungsmittel, um örtliche Landwirtschaft unökonomisch zu machen. Dann wirst du ein Volk erzeugt haben, das nach dem „richtigen“ Turnschuh trachtet.

Der Übergang von einer geschenkbasierten Gesellschaft, über den Tauschhandel, die Warenwährungen, Edelmetalle hin zum gegenwärtigen Finanzsystem hat in manchen Gesellschaften tausende von Jahren gebraucht und wurde in anderen Gesellschaften recht plötzlich eingeführt. Das setzt sich bis in die heutige Zeit fort: Mehr und mehr unserer menschlichen Fähigkeiten, Fertigkeiten, Beziehungen und Kultur werden Gegenstand des Besitzes und damit des Geldes. Wir nähern uns tatsächlich dem Gipfel eines enormen historischen Prozesses – die Umwandlung einer Reihe anderer Formen des Wohlstands, die nie zuvor Gegenstand von Kauf, Verkauf oder Eigentum waren, die niemals zuvor mit Geld in Verbindung standen, sondern die gemeinschaftlich genutzt wurden, das Gemeinwohl. Nun, da dieses monetarisiert wird, schleichen sich die mit dem Geld verbundenen Eigenschaften von Anonymität, Verknappung und Entfremdung immer weiter ein in diese verbleibenden Bereiche des menschlichen Seins, wo die Dynamik des Geschenks noch immer Gültigkeit hat.

Diese anderen Formen des Wohlstands werden manchmal soziales Kapital genannt. Ich fand es erhellend, dieses noch weiter in soziales, kulturelles, spirituelles und Naturkapital zu unterteilen. Die Unterscheidung zwischen diesen vier Arten von nicht geldwertem Kapital ist ein wenig künstlich, aber sie half mir zu erkennen, wie tief die Umwandlung des Lebens in Geld reichte. Ich führe die neuen Ausdrücke ein, weil sie helfen, die Dimensionen unserer Verarmung offenzulegen, die oft unerkannt bleiben.

Die Geschichte hinter der Umwandlung jeder dieser Arten des Gemeinwohls und die Auswirkungen, die diese Umwandlung gehabt hat, wirft ein Licht auf die Natur des Eigentums, die Natur des Geldes und das einhergehende, grundlegende Verständnis von Selbst und Welt. Die Auflösung von Gemeinschaft auf der ganzen Welt, die Anreicherung unserer Nachbarschaften mit Fremden, die Einsamkeit und Anonymität der modernen Gesellschaft, der Niedergang der erweiterten Familie, der Raubbau am planetaren Ökosystem, die Verkürzung der Aufmerksamkeitspanne bei Kindern usw. entstehen alle aus unserem Geldsystem. Und das Geld, die große, anonymisierende Macht, hat noch tiefere Wurzeln in unserer Auffassung vom Selbst. Die lange Wandlung vom Geschenk zum Geld, vom Geben zum Nehmen, ist in unserer grundlegender Selbst-Definition festgeschrieben. Zusammen genommen ergeben unsere Selbst-Definition und ihre monetäre Verkörperung ein Muster, das in rasantem Tempo auf ein soziales und ökologisches Disaster zusteuert.

2 Hyde, Lewis. Die Gabe. Frankfurt: S. Fischer, 2008. S. 17.

"Der Aufstieg der Menschheit" in anderen Sprachen:
Chinesisch . Englisch . Finnisch . Französisch . Ungarisch . Rumänisch . Russisch . Serbisch . Spanisch

1998-2011 Charles Eisenstein