Der Aufstieg der Menschheit von Charles Eisenstein

Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters

Du befindest dich hier: Start » Buch lesen » Volltext

Inhaltsverzeichnis:


Soziales Kapital

Soziales Kapital ist die Gesamtheit menschlicher Beziehungen, die das Leben aufrecht erhalten und bereichern. Auf der physischen Ebene umfasst das soziale Kapital die lebenserhaltenden Beziehungen, durch die wir einander mit Nahrung, einem Dach über dem Kopf und Kleidung versorgen, als auch die Fürsorge um Junge, Alte und Kranke. Es enthält auch weniger fassbaren Wohlstand wie Gemeinschaft, Freundschaften, Spaß, Wissensweitergabe und ein Gefühl der Zugehörigkeit. Zusammen machen sie ein kulturelles Erbe aus, einen Schatz, der von Generation zu Generation in Form von erlernten Fertigkeiten, Gebräuchen und Beziehungen weiter gereicht wird – darunter befinden sich auch die „Bindungen“, von denen im letzten Kapitel die Rede war.

Es gibt viele Wege, auf denen man soziales Kapital in Geld umwandeln kann. Beginnen wir mit dem ältesten und allgegenwärtigen Beispiel: Nahrung, oder genauer, die Beziehungen, durch die wir einander ernähren, einschließlich Nahrungsproduktion, Verarbeitung und Zubereitung.

Schon vor der Industriellen Revolution begann der Bevölkerungsanteil der primär in der Nahrungsproduktion Beschäftigten stetig abzusinken, und er erreicht heute in der industriellen Welt 1-2%. Die Standardinterpretation dieser Tatsache ist, dass Technologie, Massenfertigung und so weiter uns befreit haben von der Mühsal der Nahrungsproduktion, so dass die meisten von uns sich nun „aussuchen können, keine Bauern zu sein“. Als Nebeneffekt haben wir nicht nur entschieden, keine Nahrung zu produzieren, sondern haben auch vergessen, wie man es macht. Was einst eine allgemeine Fertigkeit war, die selten mit Geld zu tun hatte, ist heute etwas, für das wir entfernte Spezialisten bezahlen.

Dasselbe ist geschehen mit der Nahrungsverarbeitung, da riesige Fabriken und weltweite Verteilernetze übernommen haben, was einst in Haushalten oder auf lokaler Ebene gemacht wurde. Die Umwandlung von sozialem zu finanziellem Kapital krönend, verschwindet heute sogar die letzte Stufe der Nahrungsproduktion – die Zubereitung und das Kochen – aus unserem allgemeinen Fertigkeitsrepertoire und wechselt in die Hände entfernter Spezialisten3. Zwischen der Hälfte und zwei Dritteln aller Mahlzeiten werden heute in den USA außerhalb der Haushalte zubereitet, entweder in Restaurants, Supermarkt-Imbisstheken oder Kantinen 4. Selbst daheim gekochte Mahlzeiten werden oft aus Fertiggerichten hergestellt; wenn wir kochen, führen wir nur die letzten Schritte aus und nutzen vorgefertigte Mischungen, Soßen, Dosensuppen und so weiter. Wieviele Leute backen heutzutage noch ihre eigenen Kuchen, oder stellen selber Knödel her oder backen ihr eigenes Brot oder kochen ihre eigenen Gemüse ein oder stellen ihre eigenen Suppenfonds her? Diese Fähigkeiten wurden allmählich industrialisiert und waren damit verloren für den durchschnittlichen Haushalt. Wir habe unsere Fähigkeit zu kochen weggegeben und damit diese Form des sozialen Kapitals in finanzielles Kapital, Geld, umgewandelt.

Was ist dabei verloren gegangen? Wichtiger als die Fähigkeiten und das Wissen sind die Beziehungen, die sich damals um das Essen drehten. Jemand anderem Essen zu geben, ist ein intimer Akt, ein urtümlicher Ausdruck des Nährens, der einen kraftvollen Bund erzeugt. Die älteste Art, mit einem Tier oder Fremden Kontakt aufzunehmen, ist das Nahrungsangebot. Siehst du etwas monströses, etwas obszönes, in dem gewohnheitsmäßigen Kauf und Verkauf eines intimen Aktes? Umgewandelt in einen bloßen Service verliert der Akt, einander zu nähren, seine Macht, und der wichtigste Anschub für Beziehungen wird abgewürgt.

Viele der anderen primitiven, physischen Arten der Sorge füreinander und des Aufbaus intimer Verbindungen haben dasselbe Schicksal erlitten. Die Fertigkeiten und Beziehungen, die sich einst um die Kleidung, das Dach über dem Kopf und die Gesundheitspflege drehten, wurden ausgehöhlt und umgewandelt in eine Reihe von Diensten, die von entfernten Maschinen und ihren anonymen Führern erfüllt werden. Fortgerissen aus dem Bereich der Selbstversorgung oder persönlicher Gegenseitigkeit wurden diese Funktionen zu Objekten des Kaufs und Verkaufs – gleichförmige Güter, statt persönlicher Beziehungen. Während sie zu Geld umgewandelt werden, beherrscht die Gelddynamik zunehmend unser Leben und wir verlieren die substantielle Basis für unsere Beziehungen. Die Lebenskosten steigen, unsere Abhängigkeit vom Geld steigt, unsere Verbindungen zu den Menschen vor Ort und dem örtlichen Ökosystem verkümmern, und wir leben zunehmend im Reich des Geldes.

Es ist schwer vorstellbar, aber es gab einmal eine Zeit, als Nahrung selten für Geld verkauft wurde, als der gemeine Bauer überhaupt nicht Teil der Geldwirtschaft war. In manchen Teilen der Welt traf dies auch noch auf das späte 20. Jahrhundert zu; in manchen entfernten Winkeln mag es vielleicht immer noch so sein: kein Geld haben und doch in Genuss ausreichender Nahrung, Kleidung, medizinischer Versorgung, eines Daches über dem Kopf und Unterhaltung. Eine solche Gesellschaft bietet ein enormes geschäftliches Potential, denn soziales Kapital kann abgebaut und exportiert werden wie Erz. Und so geht’s: In jeder Region, in der nicht geldwerte soziale Beziehungen noch immer vorherrschen, sind die Lebenshaltungskosten gering. Die Löhne werden niedrig sein, ebenso die Kosten für Nahrung, Unterkunft und Kleidung. In einem „Entwicklung“ genannten Prozess zerstören wir vorhandene Netzwerke nicht geldwerter Gegenseitigkeit, indem wir Konsumgüter einführen, die vorort nicht erhältlich sind und die nur mit Geld erworben werden können. Gleichzeitig gründen wir Fabriken oder andere Einrichtungen, um die Menschen aus ihrer nicht geldwerten Wirtschaft heraus zu ziehen, damit sie einen Verdienst haben. Das erste wird „die Märkte öffnen“ und das letztere „Investitionen“ genannt; Widerstand gegen dieses Programm nennt man „Protektionismus“, den die entwickelten Länder – jene Länder, deren soziales Kapital nahezu erschöpft ist – mit fairen oder unfairen Mitteln zu überwinden suchen. Der Prozess ähnelt sehr jenem, der notwendig ist, um Menschen „nach dem richtigen Turnschuh dürsten“ zu machen. Im Westen geschah dies vor langer Zeit, denn wie Kirkpatrick Sale erklärt, ist es eine Grundvoraussetzung und dann auch eine Folge der Industrialisierung:

Es war die Aufgabe der industriellen Gesellschaft all jenes [gegenseitige] zu zerstören. All das, was „Gemeinschaft“ bedeutet – Selbstversorgung, gegenseitige Hilfe, Marktmoral, sture Tradition, Regeln des Brauchtums, organisches Wissen statt mechanistische Wissenschaft – musste stetig und systematisch gestört und ersetzt werden. All jene Praktiken, die den einzelnen davon abhielten, ein Konsument zu sein, mussten beseitigt werden, so dass die Riemen und Rädchen einer unaufhaltsamen Maschine namens „Wirtschaft“ ohne Hinderung operieren konnte, beeinflusst nur durch unsichtbare Hände und unvermeidbare Gleichgewichte ...5

Willst du eine gute Geschäftsidee? Find einfach etwas, irgendetwas, das die Menschen noch immer für sich und für einander tun. Überzeuge sie, dass es zu schwierig, mühselig oder gefährlich für sie ist – wenn nötig, behindere es oder mache es illegal. Schließlich verkaufst du es ihnen stattdessen. Mit anderen Worten, nimm ihnen etwas weg und verkaufe es ihnen dann zurück. Viele der heißesten Wachstumsnischen in der Wirtschaft fallen in diese Kategorie: Kinderbetreuung, Gärtnerei, Haushaltshilfe, Imbiss-Gerichte. Es gibt Unternehmen, die deine Weihnachtsdekoration für dich machen. Und es gibt sogar – sitzt du gut? – professionelle Geschenkekäufer, die gegen Gebühr die Weihnachtsgeschenke einkaufen gehen, die du aus Zeitmangel nicht besorgen kannst. Wenn diese Sektoren gesättigt sind, wenn ihr zugehöriges soziales Kapital vollständig in Geld umgewandelt wurde, was kommt dann als nächstes? Was tun die Menschen immer noch für sich selbst?

Normalerweise gibt es natürlich keine bewusste Verschwörung, die Aufgaben des Lebens unbequem oder illegal zu machen. Der sich beschleunigende Schritt des modernen Lebens allein reicht aus, um uns dazu zu bringen, die Praktikabilität und Effizienz zu nutzen, welche die Lieferanten von Service und Technologie zu bieten haben. Sie nutzen bloß die Gelegenheiten, die unser System ihnen bietet.

Aus diesem Blickwinkel ist die Technologie der Mechanismus, mit dem Fertigkeiten und Funktionen von der allgemeinen Bevölkerung in die Hände bezahlter Spezialisten übertragen werden. Technologie in der Form des „arbeitssparenden Geräts“ stellt nicht nur (und nicht notwendigerweise) die Reduktion von Arbeit dar, sondern vielmehr deren Übertragung von uns selbst und von Menschen, die wir kennen, auf anonyme Funktionäre der Maschine. Ein Staubsauger verkörpert die kombinierten Anstrengungen unzähliger Ingenieure, Bergarbeiter, Erdölarbeiter, Fließbandarbeiter, Lastwagenfahrer und so weiter, die dir alle dabei helfen, deinen Fußboden zu säubern. Sie sind dir natürlich alle fremd, aber sie sind auch sehr viel effizienter. Alle technologischen Objekte, die wir benutzen, verkörpern ähnlich große Massenwirtschaftsunternehmungen und außerordentlich feine Arbeitsteilungen. Statt einer Gemeinschaft helfen uns millionen Fremde beim täglichen Leben. Unsere Beziehung zu ihnen ist die, dass wir die Konsumenten ihrer Produkte sind, und sie die der unsrigen.

Anonymität, Technologie und Spezialisierung sind eng miteinander verknüpft. Die Technologie, beginnend mit der Agrikultur, lieferte die Nahrungsüberschüsse, die das Auftauchen der Arbeitsteilung erst ermöglichte. Die einhergehende Übertragung von Funktionen weg vom durchschnittlichen Individuum endete auch nicht bei der Nahrungsmittelproduktion. Dieselben Dynamiken, die den Aufstieg der Menschheit ins Leben riefen, sind noch immer wirksam; deshalb ist es wenig wahrscheinlich, dass die Übertragung von Funktionen auf bezahlte Spezialisten – die Umwandlung sozialen Kapitals in finanzielles Kapital – sich verlangsamen wird, bevor nicht alles soziale Kapital erschöpft ist – ein Punkt, dem wir immer näher kommen.

Nun, da das Individuum seiner Traditionen, Selbstversorgerfähigkeiten, Gebräuche und Beziehungen beraubt ist, wird es weniger zum Menschen und mehr zum Konsumenten. Zur Erinnerung, entgegen Descartes sind es unsere Beziehungen, die unsere Identität erschaffen. Der Ausverkauf des sozialen Kapitals bedeutet also den Ausverkauf unseres innersten Seins. Sicherlich heißt Konsument-Sein weniger als Mensch-Sein. Und der Ausverkauf sozialen Kapitals lässt uns zurück nur als Konsumenten, außer vielleicht innerhalb der spezialisierten Nische unserer Berufe.

Im Diskurs der Geschäftswelt und oft auch in der Politik wirst du genau so genannt, ein Konsument. Einer, der konsumiert. Die Allgegenwärtigkeit dieses Wortes stumpft uns ab gegen seine volle Bedeutung. Es wird klarer, wenn du es dir ein paar Mal wiederholst: Ich bin ein Konsument, ich konsumiere. Wenn alle anderen Beziehungen verschwunden sind, dann bleibt das übrig.

Das Wort „konsumieren“ führt uns zurück auf die Ursprünge der Trennung im Feuer, einer Metapher für die konsumptive Linearität unserer Zivilisation. In der Tat ähnelt die Umwandlung menschlicher Bindungen zu Geld einer oxidativen Reaktion in der Chemie, bei der bestehende innere chemische Bindungen durch neue, niederenergetische Bindung zu etwas Äußerem, einem Sauerstoffatom, ersetzt werden. Geld ist dabei so etwas, wie die freigesetzte Wärmeenergie, die nicht länger an irgendetwas individuelles gebunden ist, sondern frei Arbeit verrichten kann. Durch das Einäschern von Beziehungen und deren Umwandlung zu Dienstleistungen werden die Bindungen zwischen den Individuen durchtrennt. Eine gekaufte „Dienstleistung“ ist genauso vorgefertigt, wie das Geld, das sie kauft.

Jede soziale Beziehung verkörpert eine Art Wohlstand in Form von Bindung und Verpflichtungen, die prinzipiell flüssig gemacht, in ein Gut verwandelt und als Dienstleistung zurück verkauft werden kann. Fast keine Beziehung ist von der Kolonisierung des sozialen Raums ausgenommen: nicht die elterliche Fürsorge, nicht die körperliche Liebe, nicht die Freundschaft, nicht das Vertrauen.

Beginnen wir mit einem Beispiel dieser Kolonisierung, das die fehlende Authenzität in Güter umgewandelter Beziehungen verdeutlicht: die „Gastfreundlichkeitsindustrie“. Diesen Namen gibt sich die Hotelindustrie gern, aber was ist das für eine Perversion der ursprünglichen Bedeutung des Wortes Gastfreundlichkeit! Für Gastfreundlichkeit zeugt eine großzügige, willkommen heißende Einstellung beim Teilen des eigenen Heims. Wie würdest du dich fühlen, wenn du für ein paar Tage bei einem Freund übernachtest, um hinterher eine Rechnung präsentiert zu bekommen, mit 500% Aufschlag für jeden Telefonanruf, jede Wasserflasche und jedes bisschen verzehrte Nahrung? Bedenke auch die Perversion des Wortes „Gast“ in diesem Zusammenhang. In gesünderem Umfeld sagt man: „Die Rechnung geht auf mich – sei mein Gast!“ Natürlich hängen solche Beziehungen von Gemeinschaft, Sitten und anderen nicht geldwerten Bindungen ab. Die Hotelindustrie verkörpert den Aspekt der Umwandlung solcher Bindungen zu Geld, die Liquidation dieser Form sozialen Kapitals. Heute müssen wir, wenn wir wollen, dass jemand uns als Gast behandelt, auch jemanden dafür bezahlen.

Auch die Freundschaft selbst konnte den Verheerungen der Professionalisierung nicht entgehen. Es gibt zwar das Sprichwort „Freunde kann man mit Geld nicht kaufen“, aber man kann viele der Funktionen kaufen, denen die Freundschaft einst diente. Eine schleichende Umwandlung von sozialem Kapital sehen wir in der Kommerzialisierung intimer Teilnahme an den Lebensgeschichten anderer, in Form von Berichten über Stars und Sternchen, Fernseh-Dramen und ähnlichem. Wie schon oben beschrieben, ersetzten diese die sorgenden Beziehungen und die intime Kenntnis der Menschen um uns herum durch voyeuristische Blicke in die Leben entfernter oder künstlicher Personen und stillt damit kurzfristig den Hunger nach Intimität und Gemeinschaft. Natürlich ist dieses Gefühl des Bezugs eine Illusion; es ist ein Einweg-Bezug, der deshalb niemals wirklich nährend sein kann. Das wahre Bedürfnis wird nicht gestillt und wird schließlich sogar größer – ein perfektes Rezept zur Suchterzeugung.

Ein weiteres Beispiel für die Professionalisierung von Freundschaft finden wir in der Ausbreitung solcher Berufe wie Lebensberater, Trauerhelfer, Psychologe, spiritueller Lehrer und so weiter. Weiser Rat und eine beruhigende Stimme, eine Person, an die man sich wenden kann und eine Schulter, an der man sich ausweinen kann – all dies ist nun auch zu kaufen. Das rapide Wachstum bei diesen „Dienstleistungen“ kann nur eines bedeuten: wieder wurde den Menschen etwas, das sie einst für sich und andere taten, weggenommen und zurückverkauft. Abgeschnitten von Gemeinschaft und entfremdet von unserer eigenen intuitiven Weisheit werden wir zunehmend abhängiger von professionellem Rat.

Ein weiteres Steinchen in diesem Mosaik der monetarisierten Gesellschaft ist die Ersetzung solcher sozialen Funktionen wie Reputation, Mund zu Mund Propaganda, Glaubwürdigkeit und Leumund durch ihre standardisierten, objektiven Gegenstücke. Da uns die Professionellen, die wir bezahlen, nicht bekannt sind und sich außerhalb unserer geschrumpften sozialen Netwerke befinden, verlassen wir uns auf verschiedene Arten von Zertifizierungen und Lizenzen, um uns zu versichern, dass diese Professionellen kompetent und verantwortlich sind – ein Schutz, den wir in Abwesenheit persönlicher Beziehungen brauchen. Wir wissen nicht das Geringste über diese Menschen, außer über diesen kleinen Ausschnitt ihres Lebens, der öffentlich ist. Wir wissen viel weniger über die Menschen um uns herum als jemals zuvor. Es ist durchaus möglich, mehr über das „Privatleben“ – das Liebesleben, die Familie, die Gesundheit – unserer Stars und Sternchen zu wissen, als von unseren unmittelbaren Nachbarn. Und während Mund zu Mund Propaganda zumindest in kleinen Städten noch einige Macht hat, verantwortliches Handeln bei Professionellen zu ermutigen, wissen wir in den großen, anonymen Städten und Vorstädten, wo der größte Teil der Bevölkerung zugezogen ist, nichts über unsere Architekten, Ärzte, Lieferanten und andere Professionelle, außer durch Expertenmeinung – ein durch Diplome, Qualifizierungen, Verbandszugehörigkeiten oder Lizenzen verkörpertes System zur Erzeugung von Glaubwürdigkeit. In letzter Konsequenz verkörpern diese Diplome und Lizenzen die Umwandlung einer sozialen Funktion, Leumund, zu Geld. Eine ähnliche Dynamik findet sich in den Gesetzen, die Verträge regelt – ein Ersatz für Vertrauen – und im Strafgesetz zur Durchsetzung verantwortlichen Verhaltens – ein Ersatz für gemeinschaftlichen, sozialen Druck. Diese Gesetzeswerke sind nur notwendig in einer anonymen, monetarisierten Massengesellschaft.

Eine Sache, welche die Menschen seit Jahrmillionen für sich getan haben, ist die Sorge und Betreuung der Kinder, eine heilige Verantwortlichkeit, die man nur den intimsten Freunden und Verwandten anvertrauen würde. Gemäß meiner „guten Geschäftsidee“ ist die Elternschaft deshalb eine große Verdienstgelegenheit. Warum solltest du es selbst machen, wenn eine riesiger Wirtschaftszweig mit seinen Spezialisten es so viel effizienter kann? Und tatsächlich war die Kinderbetreuung in den zurückliegenden Jahrzehnten eine weitere riesige Wachstumsindustrie; einst eine Sache größter Intimität befindet sie sich nun im Bereich der professionellen Dienste. Jemand wird dafür bezahlt, eine Beziehung zu deinem Kind zu haben. Eine meiner Studentinnen beschrieb ihren Nebenjob in einer Betreuungseinrichtung einmal so: „Einige der Eltern bringen ihre Kinder morgens um 8 und holen sie um 8 Uhr abends wieder ab. Wir geben den Kindern Mittagessen und Abendbrot, wechseln ihre Windeln, Lesen ihnen vor, trösten ihre kleinen Wehwehchen, machen mit ihnen Töpfchentraining ... wir sind diejenigen, die diese Kinder aufziehen, nicht die Eltern.“ Zugegeben, dies ist ein Extrembeispiel, aber der weitverbreitete Trend geht dahin, dass die Elternschaft in vielerlei Hinsicht zu einer bezahlten Funktion wird. Es ist wirtschaftlich immerhin effizienter, wenn Spezialisten mehrere Kleinkinder in eigens dafür vorgesehenen Einrichtungen betreuen, als wenn jedes Elternpaar es für sich selbst tun würde.

Verstehe mich recht, wir dürfen nicht die Eltern beschuldigen. Sie sind nicht faul oder unfürsorglich, sondern sie sind bloß Opfer der Monetarisierung des Lebens, welche die Notwendigkeit der Effizienz in jeden Winkel des Lebens getragen hat. Die Monetarisierung des Lebens macht das Leben abhängig vom Geld, während sich die alten Netzwerke der Gegenseitigkeit auflösen. Viele Mütter haben keine andere Wahl, als einer bezahlten Arbeit nachzugehen. Nimmt man die physische und soziale Isolation der Vorstädte hinzu und vor allem die Zergliederung der erweiterten Familie, so kann das Leben einer daheim bleibenden Mutter sehr einsam und erschöpfend sein. Ich weiß das, denn ich war für einige Jahre ein daheim gebliebener Vater.

Die folgenden Phasen der Kindererziehung ist auch die Domäne von Fremden. Wir bezahlen die Schulen, Lehrer und den gesamten Bildungsapparat dafür. Wie bei der Nahrungsproduktion, der Unterhaltung und so weiter, wird eine lange ungenutzte Fähigkeit schließlich verkümmern. Unserer Fähigkeiten als Eltern zunehmend unsicherer wenden wir uns an Professionelle; in der Tat, selbst wenn wir uns weigern, zwingen uns Gesetze und bürokratische Bedingungen dazu. Was ist beispielsweise die angemessene Balance zwischen Freiheit und Begrenzung für mein Kind? Sollte es allein im Park nahe der Wohnung herumstreifen dürfen? Weisheit in solchen Angelegenheiten wurde von ihrem ursprünglichen Netz aus Familie, Gemeinschaft, Sitten und Traditionen übertragen in die Hände von Professionellen. Eine unüberschaubare Zahl von Büchern, Beratern, Sozialarbeitern, Psychologen, Kinderärzten, Lehrern und gesetzlichen Regulationen liefern uns heute diese Richtschnüre.

Am anderen Ende des Lebens hat sich die Altenbetreuung, aber auch die Behinderten- und Krankenpflege, ebenso verändert: von einer unbezahlten Funktion der weiteren Familie und Gemeinschaft zu einem professionellen Dienst. Das sollte man aber nicht den Familien anlasten, denn dieses Phänomen steht mit vielen anderen Entwicklungen in der modernen Gesellschaft in Verbindung: die örtliche Verstreuung, die der Auflösung von Gemeinschaft folgte, die Monetarisierung des Lebens, die beide Eltern eines Haushalts zur Arbeit zwingt, die Medikalisierung des Alters und die Professionalisierung der Medizin, als auch die allgemeine Verschlechterung der Gesundheit bei alten Menschen, die sie für Jahrzehnte abhängig macht.

Einmal fragte mich mein sechsjähriger Sohn Matthew: „Wofür würdest du dich entscheiden, berühmt sein, Geld, oder Liebe?“ Ich erklärte ihm, dass Liebe niemals zu verkaufen ist, und wie manchmal reiche Leute von der Sorge beschlichen werden, dass die anderen sie nur wegen ihres Geldes mögen. Und dann überkam mich ein Frösteln als ich daran dachte, wie sich Liebe normalerweise ausdrückt. Ein Aspekt von ausgedrückter Liebe ist einfach, sich um jemanden zu kümmern, jemand in einer nährenden physischen Art zu helfen – so wie mir beispielsweise mein Massagetherapeut oder Heilpraktiker hilft. Sie lindern meine Schmerzen und heilen meine Wunden. Und ich bezahle sie dafür. Verstehe mich nicht falsch – keiner der beiden ist besonders geschäftsmäßig, aber die Gesellschaft, in der wir leben, lässt uns keine andere Wahl oder lässt es zumindest so erscheinen, als müssten wir Geld nehmen für das Heilen, Lieben, Sorgen und Nähren. Wie ich schon erwähnte, sind andere urtümliche Ausdrücke der Liebe, jemanden zu füttern, zu kleiden und zu beherbergen, ebenfalls zu kommerziellen Dienstleistungen geworden. Ja, mein Freund, die Liebe selbst ist zu verkaufen, wenn nicht das tatsächliche Gefühl, so doch viele Aspekte von dessen Ausdruck.

Wenn du für dein Kind eine Vorschule aussuchst, wirst du dann in deine Entscheidung einfließen lassen, ob es in ihr eine „liebevolle Atmosphäre“ gibt? Wieviel mehr wärst du bereit dafür zu bezahlen? Sollte die Liebe Teil der Aufgabenbeschreibung sein? Was ist mit Unternehmen, die damit werben, dass ihnen die Kunden „am Herzen liegen“? Ihre Angestellten sprechen am Telefon mit dir voller Enthusiasmus. Der Kassierer im Supermarkt wünscht dir einen schönen Tag. Wir erkennen all diese Ausdrücke der Zuwendung als aufgesetzt, weil wir wissen, dass jemand nicht dafür bezahlt werden kann, dass ihm etwas am Herzen liegt. Wir können uns höchstens anstrengen, den Anschein zu erwecken. Genauso sind die kommerzialisierten Dienstleistungen niemals so authentisch oder so nährend, wie die persönlichen Beziehungen, die sie ersetzt haben.

Das Ergebnis ist eine fast allgegenwärtige Einsamkeit und eine Aufgesetztheit die alles so sehr durchdringt, dass wir es kaum mehr bemerken. Was können wir erwarten, wenn die Menschen, welche wesentliche lebenserschaffende Funktionen erfüllen, dies nur deshalb tun, weil sie dafür bezahlt werden? In vielen Kulturen wurde die Zubereitung von Nahrung für den anderen als ein intimer Akt angesehen. Sich auf den physischen Ebene um jemanden zu kümmern, ist intim; es ist seit Menschen Gedenken die Basis von Familie, Freundschaft und Gemeinschaft. Nun, da diese Funktionen verkauft wurden, sind die Beziehungen, die sie einst nährten, ausgehöhlt. Kein Wunder, dass die Scheidungsraten überall dort gestiegen sind, wo die moderne Ökonomie die traditionelle „Hauswirtschaft“ verdrängt und die Familie nach Émile Durkheims Worten auf einen Bereich des „emotionalen Rückhalts und des Teilens von Zuneigung6“ beschränkt hat.

Wir leben in einer Welt, der nichts mehr am Herzen liegt. Deiner Telefongesellschaft bist du, der Kunde, trotz ihrer anders lautenden Telefonschleifen, eigentlich egal. Dem Angestellten an der Supermarktkasse ist es eigentlich egal, ob du einen „schönen Tag“ hast. Wie könnte er, da er dich nicht einmal kennt? Der Programmierer von Benutzeroberflächen hegt dir gegenüber keine Gefühle des Danks, was auch immer die Meldungen auf dem Bildschirm sagen mögen. Der Ober ist eigentlich nicht daran interessiert, wie es heute bei euch so läuft. Dies ist alles Teil des großen Geflechts aus Lügen, die ich in Kapitel II erwähnt habe, und sie legen deutlich offen, was genau wir eigentlich in Geld umgewandelt haben. Wir haben unsere authentischen menschlichen Beziehungen verkauft.

Keine Abhandlung über die Monetarisierung menschlicher Beziehungen wäre vollständig, ohne dass wir den Sex behandeln, dessen Umwandlung in eine Ware so breite Ablehnung findet, dass es fast schon zum Klischee geworden ist. Prostitution ist nur die Spitze des Eisbergs; genauso bedeutsam ist die Verwendung sexueller Andeutungen für die Verkaufsförderung, als wäre der Sex selbst zu verkaufen. Auch Pornographie ist eine Reduktion der heiligsten menschlichen Interaktion auf eine Ware. Reduktion ist das zutreffende Wort, denn sexuelle Gefühle und sexuelle Beziehungen sind potentielle Schlüssel, um das Gefängnis des getrennten Selbst zu überwinden, und sie sind auch der Weg, neues Leben zu erschaffen. Ich könnte mir nichts heiligeres denken! Und doch sagen die Bilder der Werbung und Pornographie, nein, Sex sei nur eine Sache von Titten und Hintern, einen Ständer zu bekommen, es besorgt zu kriegen und einen Orgasmus zu haben.

Die Metaphern von „Haben“ und „Bekommen“, die für gewöhnlich auf den Sex angewendet werden, zeugen von dem Ausmaß, in welchem er bereits zur Ware umgewandelt wurde. Warum sprechen wir für gewöhnlich nicht davon „Sex zu geben“ oder „Sex zu teilen“? Selbst in Abwesenheit irgendwelcher direkten finanziellen Transaktionen ist das Denken unserer Kultur über den Sex mit halbwegs ökonomischen Konzepten von Verlust und Gewinn durchzogen. Es ist unvermeidbar, es ist festgeschrieben in unser Selbst-Definition als getrennte, unterschiedene Wesen. Und gerade weil ihre tiefste spirituelle Funktion darin besteht, die Grenzen dieser Trennung abzuschmelzen, wird die sexuelle Liebe mehr als jede andere Beziehung durch ihre Umwandlung zur Ware entwertet und herabgesetzt. Aus demselben Grund hat der Sex ein enormes subversives Potential. Das Teilen von Selbst, das der Sex mit sich bringt, sprengt die Grundfesten der Welt von Trennung, in der wir leben, und die damit verbundene Freude deutet hin auf die Extase, die uns erwartet, wenn wir die Fesseln der Trennung abwerfen. Vielleicht ist dies der Grund dafür, dass repressive politische Regime typischerweise eine starke Feindseligkeit gegenüber sexueller Freizügigkeit zeigen – eine Form der Repression, die George Orwell als eine Schlüsseleigenschaft des Totalitarismus identifizierte. Unsere eigene Gesellschaft verwendet eine andere, schleichendere Methode, um das explosive, revolutionäre Potential des Sex zu entschärfen, indem sie versucht, dessen transzendentalen Kern herauszuschneiden. Die Hülle, die übrig bleibt, ist je nach Kontext eine folgenlose Freude, eine biologische Funktion, grobe Animalität, obszöne Versuchung oder ein beängstigendes Tabu. Nichts davon ehrt die heilige Dimension des Sex, die alte taoistische und tantrische Praktik als nichts geringeres betrachtete, als ein Eingangstor zur Transzendenz der kosmischen Polaritäten. Als potentieller Eichstab zur Rückbindung an die wahre Einheit hinter unserem alles verschlingenden Spiel der Individuation und als potentielle Geheimtür im Schleier unseres phantasierten Getrenntseins, wurde die heilige Sexualität reduziert auf einen Fick.

Aber natürlich ist der Sex, was auch immer wir vorgeben, daraus zu machen, viel mehr als das. Sein seelenerschütterndes und lebensschaffendes Potential bleibt trotz aller kulturellen Vorspiegelungen, dass er eine beliebige Ware sei. Was ist das Resultat solchen Wahns? Gebrochenes Herz, emotionale Wunden, Schuld, Scham, Vergewaltigung, Abtreibung und ein Gefühl des Betrogenseins, welches seine Wurzel im inneren Wissen hat, dass wir bei etwas mitmachen, dass so unendlich ärmer ist, als das, was das Leben bieten kann. Daher das fast allgegenwärtige Eingeständnis, dass flüchtiger Sex spirituell leer und emotional unbefriedigend ist. Dasselbe könnte allerdings auch von jeder anderen Beziehung gesagt werden, die entpersonalisiert wurde.

Glücklicherweise waren die kulturellen Versuche, die Sexualität zu zähmen, nie vollständig erfolgreich, und der Sex bleibt eine mächtige Kraft, fähig, die sicherste Festung des Selbst, das geordnetste Leben und die am strengsten kontrollierte Persönlichkeit zu zertrümmern. Meine männlichen Studienkollegen und ich sprachen früher über den Sex in der gröbsten Sprache von Haben und Bekommen, aber das war meistenteils reines Theater. Unsere jugendlichen Ausflüge in die sexuelle Liebe waren nicht weniger erschütternd. Allein mit unseren jeweiligen Freundinnen war es etwas vollkommen anderes. Unsere vorgebliche Lockerheit konnte uns nicht davor bewahren, dass die aufwühlende, befreiende und erschütternde Macht der sexuellen Liebe eine Tür zur Seele öffnete. Ich frage mich, ob irgendeine meiner Freundinnen aus der Zeit das Lesen wird? Wenn ja, dann möchte ich, dass ihr wisst, auch wenn ich damals vielleicht als hoffnungsloser Prolet erschien, hat eure Liebe tiefe, unsichtbare Schlüssel in meiner Seele gedreht. Was ihr mir gabt, brauchte ich für meine zukünftige Öffnung.

Typischerweise sind es wir Männer, welche die äußersten Winkel der Trennung ausloten. Wie Theseus im Labyrinth würden wir vielleicht ewig darin herumirren, wäre da nicht die Rettungsleine, welche die Frau zur Verfügung stellt. Natürlich existieren diese männlichen und weiblichen Prinzipien in allen von uns; in jedem Mann und jeder Frau gibt es beides, das Yin und das Yang. Das weibliche Prinzip in uns allen – eher intuitiv als logisch, eher organisch als analytisch – bringt uns zurück von unserer Reise der Trennung hin zur Ganzheit.

Entsprechend ist die gegenwärtig extreme Trennung, zu der unsere Gesellschaft „aufgestiegen“ ist, ein Yin-Yang-Ungleichgewicht, das sich in patriarchaler Religion und Gesellschaftsordnung äußert. Wie die alten Chinesen verstanden haben, ist das Extrem von Yang auch die Geburt des Yin. Nur im Zusammenlaufen der Krisen, welche die Trennung uns gebracht hat, kann das Zeitalter der Wiedervereinigung beginnen. Eine weniger optimistische Auslegung wäre, dass es in der Chinesischen Medizin auch einen Zustand namens „Zusammenbruch des Yang“ gibt, der dann eintritt, wenn die Aufrechterhaltung eines andauernden Ungleichgewichts die körperlichen Kräfte derart erschöpft, dass nichts mehr bleibt, um den Prozess der Wiederherstellung zu unterstützen. Dann ist alle Behandlung zwecklos. Es ist zu spät, und der Patient stirbt.

Auf die Zivilisation übertragen bedeutet der Zusammenbruch des Yang, dass wir, wenn wir schließlich die Quelle unserer Krisen erkennen, schon zu schwach sein werden, um etwas dagegen zu unternehmen. Noch haben wir diesen Punkt nicht erreicht. Es gibt noch immer ausreichend soziale und natürliche Ressourcen, um für uns alle eine wunderbare Welt zu erschaffen. Und doch fahren wir fort, soziales, natürliches, kulturelles und spirituelles Kapital immer zügiger zu erschöpfen. Wie lange noch, bis wir es so sehr erschöpft haben, dass uns, wenn wir die Notlage erkennen, die Kraft fehlt, jene wunderbare Welt zu erschaffen, die wir zuletzt so klar sehen können?

3 Mit „Spezialist“ meine ich jemanden, der dafür bezahlt wird, eine bestimmte Tätigkeit auszuführen, im vorliegenden Fall die Nahrungszubereitung. Das heißt nicht, dass die Arbeit eine hohes Maß an Wissen oder technischer Erfahrung bedarf.

4 Die Zahl 50% wurde für 1998 vom US-amerikanischen Rat für Ernährungssicherheit berichtet; neurdings hörte ich im Radio die Zahl zwei Drittel, kann aber keine Quelle angeben.

5 Sale, Kirkpatrick, „Rebels Against the Future“, Perseus Books, 1995.

6 Zitiert bei Charles Siegel, The End of Economic Growth, The Preservation Institute, 1998.

"Der Aufstieg der Menschheit" in anderen Sprachen:
Chinesisch . Englisch . Finnisch . Französisch . Ungarisch . Rumänisch . Russisch . Serbisch . Spanisch

1998-2011 Charles Eisenstein