Der Aufstieg der Menschheit von Charles Eisenstein
Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters
Die 1960er waren in vielerlei Hinsicht der Gipfel unser Zivilisation. Wir hatten Kinderlähmung, die Pocken und die Pest besiegt. Sicherlich würden sich Krebs und die restlichen Krankheiten alsbald fügen. Wir hatten die Nazis besiegt. Sicherlich würden die Kommunisten als nächstes gehen. Soziale Probleme wie Armut, Rassismus, Analphabetismus, Kriminalität und Geisteskrankheit würden durch unsere Bemühungen bald um ihre Existenz gebracht. Alles wies in Richtung eines unbegrenzten Wachstums und fortgesetzten Triumphs: Atomenergie, Roboter, Weltraum, künstliche Intelligenz, vielleicht gar Unsterblichkeit. Doch, um mit den Worten Patrick Farleys zu sprechen, liegt die Zukunft ein wenig hinter dem Plan8.
Erste Anzeichen dafür, dass Technologie nicht das Vehikel auf dem Wege Richtung Utopia wäre, zeigten sich zwar früh in der industriellen Revolution, die Erfolge dieser Revolution waren jedoch dermaßen spektakulär, dass es leicht war zu glauben, soziale und Umweltprobleme seien lediglich vorübergehende Einschränkungen, technische Herausforderungen, die wir überwinden würden durch eben jene Methoden, jenes Denken und jene Technik, die schon vorherige Probleme gelöst hat: mehr Technologie, mehr Kontrolle. Heute sind die Erfolge weniger spektakulär, die Krisen schwieriger in Abrede zu stellen, das Versprechen von Utopia „eben um die Ecke“ leerer, doch tun wir noch immer so, als wäre ein Mehr an Kontrolle die Antwort.
Zum Beispiel hat die etablierte Medizin mehr und mehr Probleme, die Tatsache zu verbergen, dass, vielleicht mit der einzigen Ausnahme der Notfallmedizin, vierzig Jahre der „Fortschritte“ kaum nennenswerte Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen und die Sterblichkeit hatte. Schauen wir uns den allgemeinen Effekt dieser Erfolge einmal an. Organtransplantationen waren ein Durchbruch, doch sind ihre Effekte begrenzt auf ein paar tausend Patienten jährlich. Die meisten der gegenwärtigen Pharmaka kontrollieren bloß Symptome, oft mit ernsten Nebenwirkungen. Die Hormonersatztherapie entpuppt sich als Disaster. Das gleiche gilt für cholesterinsenkende Arzneien, Antidepressiva und viele der Schmerzmittel. Wird eine neue Medizin der Öffentlichkeit präsentiert, so wertet man eine „zwanzigprozentige Verbesserung in einer bedeutsamen Gruppe der Probanden“ schon als einen großen Erfolg. Trotz jahrzehntelanger enormer Investitionen erscheint das Zeitalter dramatischer neuer Heilmittel vorbei. Es wurde kein „Heilmittel“ für die Paradebeispiele wie Muskeldystrophie und Brustkrebs gefunden. Sicher auch wurde keine Hauptkrankheit mehr beseitigt, seit wir die großen Seuchen des 19. Jahrhunderts besiegten. Die Koronare Herzkrankheit konnte in den letzten 30 Jahren höchstens ein wenig zurückgedrängt werden. Dem Krebs geht es besser denn je. Arthritis ist so verheerend wie je, Schlaganfälle fast eben so verbreitet und auch Alzheimer sehen wir immer häufiger. Derweil hat eine Unzahl von ungewöhnlichen Krankheiten, für die die konventionelle Medizin allenfalls palliative Gegenmittel anbieten kann, epidemische Ausmaße angenommen: Diabetes, Autismus, Allergien, Multiple Sklerose, Lupus, Adipositas, chronisches Erschöpfungssyndrom, Fibromyalgie, multiple chemische Überempfindlichkeiten, chronisch entzündliche Darmerkrankungen wie Morbus Crohn und Colitis ulcerosa, chronische Pilzinfektionen und vieles andere mehr. Damit nicht genug sind vollkommen neue Krankheiten wie etwa AIDS wie aus dem Nichts aufgetaucht. Um zuletzt dem Schaden auch noch die Beleidigung hinzuzufügen, haben einige einst „besiegte“ Krankheiten wie die Tuberkulose anscheinend ein Comeback, gewöhnlich aufgrund von Antibiotikaresistenzen. Dieser Stand der Dinge stellt eine unausgesprochene Krise in der Medizin dar. Trotz nie dagewesener Milliardeninvestitionen in pharmazeutische Forschung, scheint die Medizin im „Krieg gegen Krankheit“ Boden zu verlieren. Die typische Antwort ist mehr Technologie, präzisere Kontrolle auf genetischer und molekularer Ebene. Eine fortgesetzte Suche nach der „Heilung“.
Die Lebenserwartung hat ebenfalls nicht die gehegten Hoffnungen erfüllen können. Seit nunmehr einem halben Jahrhundert sagen Futuristen dramatische Zuwächse bei der Lebenserwartung vorher: Es gibt keinen Grund, warum 120 Lebensjahre nicht vollkommen gewöhnlich werden sollten; vielleicht könnte es mit der Gentherapie sogar unendlich verlängert werden. Ein Blick auf die Statistik zeigt allerdings, dass die dramatischsten Zugewinne bei der Lebenserwartung insgesamt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auftraten und nicht etwa seit 1970. Von 1900 bis 1950 stieg die Lebenserwartung um beeindruckende 21 Jahre; seitdem stieg sie lediglich um weitere 9 Jahre. Zudem schulden wir den größeren Teil dieser letzten Steigerung einer geringeren Kindersterblichkeit und einer besseren Notfallmedizin, wenn wir uns nämlich die Lebenserwartung im Alter von 65 Jahren anschauen, so finden wir im zurückliegenden halben Jahrhundert nur einen Zuwachs von dürftigen 4 Jahren9.
Zugewinne bei der Lebenserwartung zeigen das gleiche vertraute Muster abnehmender Grenzerträge, wie es im klassischen Ertragsgesetz beschrieben wird und wie wir sie beispielsweise auch bei der Anwendung von Dünger in der Landwirtschaft sehen. Der anfängliche Einsatz von Technologie (Dünger) zeitigt dramatische Resultate, doch nachfolgende Anwendungen haben geringerern Nutzen bis schließlich enorme Mengen notwendig werden, um die Erträge nur ein klein wenig zu steigern oder sogar nur um zu vermeiden, dass sie sinken. Wie stets wachsende Gesundheitsausgaben zeigen, wenden wir im Gesundheitswesen enorme technologische Anstrengungen auf und erzielen damit nur kleine Zugewinne, wenn wir diese einmal vergleichen mit den dramatischen Verbesserungen, die die vergleichsweise geringen Ausgaben des frühren 20. Jahrhunderts erbrachten haben. Wir können wohl annehmen, dass die Lebenserwartung während der nächsten zehn Jahre stagnieren wird und vielleicht sogar anfangen wird zu sinken10, solange sich die grundlegende Richtung der medizinischen Technologie nicht ändert.
Genauso wenig hat die Technologie das Versprechen vom Zeitalter der Muße einlösen können. In den Vereinigten Staaten wuchs die Freizeit im 20. Jahrhundert bis etwa 1973, bevor sie ihren allmählichen und anhaltenden Rückgang einleitete. Die meisten Untersucher stimmen darin überein, dass Freizeit in den letzten 30 Jahren zurückgegangen ist: wir verbringen mehr Zeit bei der Arbeit, mehr Zeit beim Pendeln, mehr Zeit bei Besorgungen, mehr Zeit, den Anforderungen des Lebens zu entsprechen11. Der Computer, gelobt als endgültige Schlüsseltechnologie, die für die Plackerei in der geistigen Arbeit das tun würde, was Maschinen (angeblich) für die körperliche Arbeit getan haben, entpuppte sich als das genaue Gegenteil: mehr Zeit wird in Büros verbracht, an Schreibtischen und Tastaturen. Heute dürfte klar sein, dass der Computer die Plackerei im Büro genauso wenig beseitigt, wie uns die Dampfmaschine von der Qual körperlicher Arbeit befreit hat. Trotz der „Informationsrevolution“ würden nur wenige Leute behaupten, dass Büroarbeit in den letzten 30 Jahren intelektuell ansprechender oder bedeutungsvoller geworden wäre. Die Lösung? Wieder heißt es mehr Technologie, mehr arbeitssparende Geräte, größere Effizienz, besseres „Zeitmanagement“.
Die Technologie hat es ebenso nicht die Welt der Fülle für alle gebracht. Zwar ist die Nahrungsversorgung in der Tat genug gewachsen, um eine verdoppelte Weltbevölkerung zu ernähren, aber Hungersnöte sind nicht weniger verbreitet. Und das aus denselben alten Gründen: Krieg, Unterdrückung und Dürre. Darüber hinaus haben sich riesige, einst zur Landwirtschaft genutzte Flächen in Wüste verwandelt, so dass wir uns vielmehr mit der Aussicht auf eine Ernährungskrise, als auf die einer Überfülle konfrontiert sehen. (Zum Zeitpunkt des Schreibens gehen die Weltgetreidereserven zurück12 und die größten Fischbestände sind erschöpft.) Die letzten vierzig Jahre der „Entwicklung“ in der Dritten Welt hat nicht den versprochenen Wohlstand gebracht. Im Gegenteil, die Schere zwischen reich und arm ist weiter geworden, global als auch in der Dritten Welt selbst. Wer in der Dritten Welt reist, kann leicht mit eigenen Augen sehen, dass Elend, Krankheit und Vertreibung, wie sie auch in unserer industriellen Revolution üblich war, auch heute noch Gang und Gäbe ist. Und die Rechtfertigung dafür ist auch gleich: Es handelt sich nur um eine vorübergehende Phase, bevor ihr zu einer „entwickelten“ Nation werdet, wie wir. Wir mussten da hindurch, und so müsst ihr es ebenfalls; es ist die natürliche Reihenfolge der Dinge. Und wieder lautet das Rezept mehr vom gleichen, weitere „Fortschritte“ in der Landwirtschaft und intensivere Wirtschaftsentwicklung. Nun fangen Menschen auf der ganzen Welt an, dieses Dogma zu bezweifeln, einfach aus dem Grund, weil der Abfall im Lebensstandard der Dritten Welt zu lange ungehindert fortschreiten konnte. So ist beispielsweise in vielen Lateinamerikanischen Ländern die Mittelschicht fast vollständig verschwunden.
Im Weltraum führten die Triumphe der 1960er und 1970er nie zu Weltraumkolonien, bemannten Marsexpeditionen und interstellaren Reisen, wie sie seinerzeit für das Jahr 2000 Jahr vorhergesagt wurden. Es gab seit der Rakete, die vor etwa 70 Jahren entwickelt wurde, praktisch keine umwälzenden Fortschritte auf dem Feld der Antriebstechnik. Als ich in den frühen 1970er Jahren aufwuchs, hielt das Weltraumfieber die Gedanken meiner Zeitgenossen in seinem Bann: Wir hatten Weltraumbrettspiele, Weltraumbrotboxen, selbst raketenförmige Shampooflaschen. Wir landeten auf dem Mond, und dann taten wir es noch einmal. Und noch einmal. Wir sind allerdings seit den 70ern nicht auf den Mond zurückgekehrt und es gibt heute wenig Begeisterung für eine solche Mission. Wir waren da und haben es getan ... wozu hat es geführt? Gerade erst hat Präsident Busch eine neue Initiative für die Errichtung einer permanenten Mondbasis und für eine bemannte Marsmission vorgeschlagen, doch hören wir heute nicht einmal ein Echo der Begeisterung, die die Nation in den Tagen meiner frühen Kindheit erfasst hatte.
Das Zeitalter der Muße und der mühelosen Fülle - Technotopia - bleibt für ewig immer eben um die Ecke. Zuerst war es das Zeitalter der Kohle, welches uns von der Arbeit befreien sollte. Stattdessen bekamen wir Ausbeutungsbetriebe, die Kohlenminen, die Gießereien, die höllischen Stahlhütten und infernalischen Hochöfen, die 80-Stundenwoche, Kinderarbeit, Arbeitsunfälle, Hungerlöhne, Elendsquartiere und gleichzeitig herrlicher Wohlstand Weniger, entsetzliche Verschmutzung, zerstörte Gemeinschaft und ruinierte Leben. Doch keine Sorge! Das Goldene Zeitalter wartet eben um die Ecke, dank der Elektrizität, Chemie, des Automobils, Kernenergie, Raketen, Computer, Gentechnik, Nanotechnologie! Leider aber hat nichts davon jemals das Versprechen eingelöst.
Und nun befinden wir uns im 21. Jahrhundert, welches doch das Zeitalter der Muße und der Freizeit sein sollte, das Informationszeitalter, die Wissensgesellschaft. In letzterem Ausdruck wird eines der Vorurteile des Aufstiegsmythos bloßgestellt. Es geht von einem Fortschreiten aus dem industriellen Zeitalter aus, welches noch durch eine gewisse Verbindung zur Materie beschmutzt war, und entwickelt sich fort zu einem abgeschlossenen, ausschließlich dem menschlichen Wissen angehörigen Bereich. Das Grundinteresse der materiellen Produktion sollte nun weniger entwickelten Ländern überlassen werden; unsere Gesellschaft hingegen sollte darüber hinausgewachsen sein und sich nur noch um Produkte des Geistes kümmern. Irgendwann, mit der Perfektion von Robotern sollten alle Gesellschaften uns dahin folgen.
Die Hoffnung, sich über die Materie zu erheben, zeichnet moderne Religion genauso aus, wie auch moderne Ökonomie und Technologie. Das ist kein Zufall. Alle entspringen einer gemeinsamen Quelle, die ich in diesem Buch immer wieder behandeln werde. Alle sind Variationen des Themas Aufstieg, des Aufstiegs der Menschheit. „Materialität“ ist zuletzt doch einfach ein geringschätzendes Wort für Natur, und wir setzen den Aufstieg der Menschheit gleich mit einer fortschreitenden Transzendierung der Natur. Einstmals Sklave der Natur, jetzt ihr Meister. Deshalb ist es selbstverständlich höher, besser, fortgeschrittener sich in geistigen Sphären zu bewegen, als in Bereichen der materiellen Produktion.
Aus diesem Grund genießen Berufe wie „leitender Angestellter“ oder „Referent“ ein Ansehen, welches dem „Maschinenbaumeister“ oder dem „Klempner“ fehlt. In den zurückliegenden zwanzig Jahren oder mehr haben junge Menschen solche Positionen angestrebt, ohne sich Gedanken darum zu machen, was sich dahinter verbirgt. Sie machen Abschlüsse in Wirtschaft, Marketing und Finanzen, darauf hoffend, ein „leitender Angestellter“ zu werden, wo auch immer. Zum Teil mag dies im einhergehenden Wohlstand und Status solcher Berufe begründet sein, aber es ist auch die Wirkung eines tieferen Prinzips: Die Trennung von Geist und Materie, Leib und Seele, Mensch und Natur, die so alt ist, wie die Zivilisation. Seit Anbeginn der Aufgabenteilung ging das Prestige an jene, die sich ihre Hände nicht schmutzig machten – zuerst mit Ackerkrume und später dann mit der gesamten materiellen Welt. Aus diesem Grund war es den Füßen altertümlicher Könige nicht erlaubt, die Erde zu berühren. Der heutige Wissensarbeiter sollte die demokratisierte Vollendung dieses Trends sein. Jeder Mann ein König.
Der Bankrott dieses Ehrgeizes, welcher im Wort „Wissensgesellschaft“ mitschwingt, wird immer offensichtlicher. Büroarbeit ist kein bisschen weniger langweilig als die Arbeit am Fließband oder der industriellen Landwirtschaft – und zwar aus den selben systemimmanenten Gründen, die ich im Kapitel II beschreiben werde. Ein großer Teil der heutigen Wissenswirtschaft besteht aus Dateneingabe. Außerdem zeigt die Abwanderung „wissensintensiver“ Berufe, wie etwa Hochtechnologie und Programmierung in neue industrielle Zentren wie Indien und China, dass die Bereiche von Geist und Materie doch nicht so separat sind, wie wir es uns zu denken wünschen.
Das Versprechen eines Utopia eben um die Ecke, welches jetzige Entbehrungen rechtfertigt, zieht sich wie ein roter Faden durch jedes technologische Programm. Wir sahen es im Zeitalter der Kohle und wir sehen es heute in der Computerrevolution: Wir müssen zunächst eine riesige Anstrengung unternehmen, alle nötigen Daten einzugeben; dann werden Computer alles sehr viel effizienter steuern. Wir sehen es beim Programm des IWF, dass der Dritten Welt Einschränkungen auferlegt, die heute Opfer verlangen, um morgen Wohlstand zu bringen. Die Maßnahmen des IWF werden häufig kritisiert als Instrument der Globalisierung, das die bereits Wohlhabenden begünstigt, doch die Notwendigkeit dieser Maßnahmen entsteht aus einer viel tieferen Quelle als jener. Verzicht ist ein Urmerkmal eines jeden kapitalistischen Systems, das auf zinsbringendem Geld beruht: verzichte heute, um das Geld zusammen zu bringen, das wiederum Geld erbringt. Noch tiefer ist dies verwurzelt in der Mentalität der Agrikultur, in der wir heute säen, um morgen ernten zu können. Eben diese Mentalität beeinflusst auch die Religion, die uns aufruft zum Verzicht auf weltliche Genüsse, um später in ein hypothetisches Himmelreich eintreten zu dürfen. Das Problem mit all diesem ist, ob nun in der Dritten Welt oder bei der endlosen Dateneingabe, das Opfer scheint ewig zu dauern. Das Himmelreich kommt nie. Aus den Tiefen der Industriellen Revolution formulierte William Wordsworth es wohl am besten:
Mit Dir trauere ich, wenn auf der dunkleren Seite |
Fortwährendes Opfer. Das ist eine Ideologie, die in nahezu jeden Aspekt unseres Lebens eindringt. Was wird geopfert? Was ist der rote Faden? Ganz grundsätzlich handelt es sich um ein Opfer der Gegenwart für die Zukunft. Schränke dich heute ein, damit du morgen genug hast. Arbeit kommt vor dem Spiel. Ohne Fleiß, kein Preis. Reiße dich zusammen. Sei es bei der Ernährung, der Ausbildung oder der persönlichen Entwicklung, wir finden immer die gleiche traurige Verordnung. Wie kommt es, dass für so viele Menschen die Verheißung körperlicher Fitness oder finanzieller Unabhängigkeit oder Aufgabe von Süchten für immer in eben solcher Ferne liegt, wie das technologische Utopia? Wie lange halten deine Neujahrsvorhaben? Nun, strenge dich einfach mehr an. Es ist wie mit dem Mann, der versuchte zum Horizont zu gehen, und als er sah, dass er es nicht schaffen würde, entschied, zu rennen. Dieses Buch wird den Ursprung und die Entwicklung des Regimes des fortwährenden Opfers aufdecken, welches wir ertragen haben für unseren Versuch, einen Turm zum Himmelreich zu errichten.
Da der beschwingte „Heißa“-Aspekt der Technologie uns das noch in den 60ern erwartete futuristische Wunderama nicht liefern konnte, wird es immer schwieriger, die dunkle Seite der Technologie zu ignorieren. Sicherlich, es gibt seit Jahrhunderten reichlich Beweise dafür, dass Technologie nicht unbedingt immer gut ist, aber seit dem 20. Jahrhundert dominierte die Ideologie des Fortschritts alle bis auf sehr wenige unabhängige Denker. Die entsetzlichen Bedingungen der Industriellen Revolution könnten noch als ein zwischenzeitliches Opfer auf dem Weg nach Utopia erklärt werden. Nur einige wenige Romantiker hatten die Vision, dieser Ideologie zu widerstehen, Menschen wie William Blake, Wordsworth, Lord Byron, Henry David Thoreau und Mary Shelley, die die Zerstörung innerhalb der industriellen Massengesellschaft nicht als zwischenzeitlich Phase oder eine technische Herausforderung ansahen, sondern als ihren fundamentalen Charakter.
All dies begann sich 1914 zu ändern, als die Welt schließlich Zeuge der auf die Kriegsführung angewandten Industrialisierung wurde: Gemetzel auf den Schlachtfeldern in industriellem Maßstab, eine ganze Generation junger Männer dezimiert. Dreißig Jahre später umfasste dies ganze zivilie Gesellschaften in der Feuersbrunst des totalen Krieges und endete in der ersten Anwendung der größten wissenschaftlichen Errungenschaft des Jahrhunderts, der Atombombe. Zu dieser Zeit wurden auch die organisatorischen Prinzipien der Industriellen Revolution basierend auf den wissenschaftlichen Werkzeugen der Analyse, Kontrolle, Vernunft, Logik und Effizienz angewendet bei der zielgerichteten Massenvernichtung unschuldiger Menschen unter Hitler, Stalin und ihren Nachahmern.
Die Ironie liegt darin, dass eben genau diese Prinzipien der Logik, der Vernunft und der Effizienz die Menschheit auf eine edlere Stufe heben sollten, so wie die Techniken der Physik und der Chemie, die in den Weltkriegen verwendet wurden und die Menschheit auf ein neues Niveau materiellen Komforts, Wohlbefindens und der Sicherheit führen sollten. Diese Ironie blieb den Künstlern, Autoren und anderen Kulturschaffenden nicht verborgen, die sich von jeher mit den resultierenden Gefühlen des Verrats und der Verzweiflung auseinandersetzen.
Seit Plato haben utopistische Autoren gedacht, dass Vernunft, Planung und Methode die gleichen Fortschritte im sozialen Bereich hervorbringen würde, wie die materielle Technologie im physikalischen Bereich. Soziale Planung würde die Wildnis der menschlichen Natur erobern, so wie die Technologie die Wildnis der Umwelt unterwarf. Das Scheitern von beidem wird als bloßer Beweis dafür angesehen, dass wir mehr vom Gleichen brauchen. Der Ehrgeiz der Nanotechnologie, die physikalische Kontrolle auf ein neues Niveau mikroskopischer Präzision zu treiben, gleicht den sozialen Technologien der Erziehung und des Rechts, die nach immer feinerer Regulation menschlichen Verhaltens streben.
Sowohl bei materieller Technologie als auch bei soziopolitischen Methoden der Kontrolle finden wir die gleiche konzeptuelle Grundlage. Ist es ein bloßer Zufall, dass sowohl Mensch als auch Natur von der gleichen Zerstörung heimgesucht wird? Offensichtlich ist die übliche Annahme fehlerhaft, die Technologie selbst sei neutral, es sei an uns, sie im Guten oder im Schlechten anzuwenden. Die Pogrome und Genozide, die ethnischen Säuberungen und Vernichtungskriege, die Plünderung der Erde und die Zerstörung eingeborener Kulturen, all dieses wird dem Missbrauch von Technologie zugeschrieben und nicht der Technologie selbst. Aber vielleicht irrt man mit dieser Auffassung. Vielleicht hat etwas Grundlegendes an der Mentalität der Technologie diese Zwillingskrise im Sozialen und in der Umwelt hervor gebracht.
In einigen Gruppen setzt sich das Vertrauen in die Technologie ungebrochen fort. Zerstörung der Ozonschicht? Dann machen wir eben neues Ozon. Bodenerosion? Dann finden wir einen Weg, Nahrung ohne Boden anzubauen; vielleicht synthetisieren wir ihn einfach. Totaler Umweltkollaps? Macht nichts, wir kolonisieren die Sterne. Wer braucht denn die Natur überhaupt? Der Geist des „Wir machen das“, mit dem wir es so weit gebracht haben, wird sicherlich auch jedes zukünftige Hindernis überwinden. Menschliche Erfindungsgabe ist schließlich unerschöpflich. Wenn die Lage sich verschlechtert, nicht verbessert, wenn Menschen kränker, beschäftigter und ängstlicher, wenn das Leben stressvoller und die Umwelt als weniger gesund erscheinen, dann sei versichert: Dies ist nur ein vorübergehendes Opfer, ein nötiger Schritt zurück für den riesigen Sprung nach vorn.
Allerdings, die Rhetorik des Fortschritts wirkt heute immer verbrauchter. Es sieht aus, als käme die Zukunft, die immer gerade um die Ecke ist, nie. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts hat sich dieses Gefühl von Verrat und Verzweiflung auch über die Kreise der Künstler und Intellektuellen hinaus ausgebreitet und erfasst die gesamte Bevölkerung. An der Oberfläche bekräftigen viele Menschen noch immer ihren Glauben, das Voranschreiten der Technologie werde eines Tages all unsere gegenwärtigen Probleme lösen, aber auf einer tieferen Ebene haben sie das Vertrauen in Wissenschaft und Technologie verloren. Die lange versprochenen Wunder – der nächste Schritt bei unserer Loslösung von der Natur – haben sich nicht materialisiert, während neue, unvorhergesehene Probleme sich schneller ausbreiten, als wir sie lösen können. Verschwunden der Optimismus der 60er Jahre, der den Kampf gegen die Armut, den Kampf gegen Krebs und die Eroberung des Weltraums entfacht hat. Nun hoffen wir bloß noch, die Probleme abwehren zu können, die uns zu überwältigen drohen: Das Zusammentreffen der Krisen in Umwelt, Gesundheit, Bildung, Wirtschaft und Politik.
8 Farley, Patrick. The Guy I Almost Was. www.e-sheep.com/almostguy
9 Centers for Disease Control and Prevention, National Center for Health Statistics, National Vital Statistics System. http://www.cdc.gov/nchs/fastats/lifexpec.htm
10 Dies ist zwar meine persönliche Schätzung, doch beginnen schon erste anerkannte Wissenschaftler zu behaupten, dass die neue Generation die erste in 200 Jahren sein wird, die eine geringere Lebenserwartung hat als ihre Eltern. In einem im New England Journal of Medicine (März, 2005) veröffentlichten Artikel behauptet eine Gruppe von Wissenschaftlern, dass die Adipositasepidemie die durchschnittliche Lebenspanne in den kommenden Jahrzehnten um bis zu 5 Jahre verkürzen könnte. Andere Forscher sind hingegen der Ansicht, dass „Fortschritte der modernen Medizin“ diese Einbußen ausgleichen werden.
11 Juliet Schor. Overworked American: The Unexpected Decline of Leisure. Basic Books, 1993.
12 „Getreidereserven schrumpfen weiterhin, trotz Rekordproduktion“, Landwirtschaftministerium der Vereinigten Staaten (USDA): Jährlicher Bericht zur Internationalen Landwirtschaft, Mai 2004.
13 Aus „From The Excursion“, Achtes Buch, Zeile 150ff. Kirkpatrick Sale zitiert eben jene Passage in „Rebels Against the Future“, auf welche Weise es auch zu meiner Aufmerksamkeit gelangte.
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