Der Aufstieg der Menschheit von Charles Eisenstein
Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters
Nicht nur die physische und kulturelle „Wildnis“ wurde umgewandelt und als Besitz verkauft. Wir haben dasselbe mit der Wildnis in uns selbst getan: unserer Vorstellungskraft, Kreativität, Aufmerksamkeitsspanne, Verspieltheit und Spontaneität. Ich nenne diese Dinge spirituelles „Kapital“, weil sie in der Tat produktive Rücklagen sind, Erzeuger von Wohlstand. Indem ich ihre Vereinnahmung und Umwandlung zu Finanzkapital beschreibe, beschreibe ich wie der Aufstieg der Menschheit unsere Menschlichkeit abträgt und uns zu geringeren Wesen macht.
Es ist ein Prozess, der nun schon für einige Zeit auf dem Weg ist, mindestens seit dem Anbeginn der Agrikultur. Interessanterweise finden sich Andeutungen für diese Degeneration der menschlichen Kapazität in einigen altertümlichen spirituellen Traditionen, vor allem im Taoismus. Jene Andeutungen werden vielleicht verstanden als Metaphern für die verschütteten Kapazitäten der Kindheit, doch gibt es eine Fülle von Bezügen auf altertümliche Menschen, deren damalige Weisheit und Fähigkeiten denen heutiger Menschen immer noch bei weitem überlegen waren.
Als ich über soziales Kapital diskutierte, sprach ich von der Technologie als Mittel zur Überantwortung von Aktivitäten, welche die Menschen einst für sich selbst taten, in die Hände von bezahlten Spezialisten. Wir bezahlen andere, um das für uns zu tun, was wir einst für uns taten. Vielleicht liegt der grundlegende Aspekt dieser Verschiebung in einem Bereich, den wenige von uns je als eine Form von Kapital betrachtet haben: die Kapazität zur Vorstellungskraft und zum Spiel.
Ich hatte das Glück, meine Kindheit vor dem Zeitalter der Videospiele zu erleben, Nintendo, Gameboy, und so weiter, und ich blieb wegen meiner idealistischen Eltern zumindest vor dem größten Schaden durch das Fernsehen verschont. Ich erinnere mich, Stunden in meinem Zimmer mit meinen Stofftieren, einer Steinsammlung und anderen Spielzeugen zugebracht zu haben, in denen ich sie in ausgefeilte Geschichten eingewebt habe. Jedem habe ich eine Persönlichkeit zugeordnet, jeder wurde zu einem Charakter in einer vorgestellten Welt, die nur in meinem Kopf oder in denen meiner Geschwister oder Spielkameraden existierte. Heute haben entfernte Erwachsene in Fernsehstudios und Softwareschmieden diese kreative Funktion der Vorstellung von Welten und darin enthaltener Charaktere übernommen und versorgen die Kinder mit fertigen Welten und Persönlichkeiten in Fernsehsendungen und Videospielen. Eine Kapazität des menschlichen Geistes wurde dem Individuum zum Zwecke des Profits entrissen.
Und was für ein minderwertiger Ersatz sind diese kommerziell motivierten Welten für die spontanen Schöpfungen eines kindlichen Geistes! Die meisten von ihnen sind zweigeteilte Welten von Gut und Böse, in denen Probleme durch Gewalt gelöst werden, Welten, denen Feinheit und Detail fehlt und die unverbunden sind mit dem Rest der Welt. Schlimmer noch sind sie anders als der Geist eines Kindes endlich, begrenzt durch das Medium der Geschichte. Sie beschränken deshalb die Freiheit des kindlichen Geistes, verschiedene Elemente des Unbewussten zu entwickeln und durchzuspielen.
Wenn das Kinderspiel eine Übung für das Leben ist, dann erzieht das Fernsehen unsere Kinder dazu, das Leben passiv zu konsumieren. Und die Videospiele konditionieren uns auf die geistlose Ansammlung von bedeutunsfreien Belohnungen (Punkten), auf die Zerstörung einförmiger Feinde und auf die Akzeptanz von Entscheidungen entfernter anderer, die Programmierer unseres Lebens.
Die Art von Erwachsenem, der aus einer Kindheit bar jeder Gelegenheit für spontanes und selbst geleitetes Weltenerschaffen resultiert, ist fortgesetzt empfänglich für Geschichten, die von anderen erschaffen wurden. Er wird nicht nur immer vom Unterhaltungsmarkt abhängig sein, sondern er wird leicht manipulierbar sein durch Politiker und Werbeleute, die von der Akzeptanz einer bestimmten Geschichte profitieren. Solche Erwachsenen werden eher folgsame Subjekte sein als aktive Bürger, denn sie werden keine Übung darin haben, eine Welt für sich selbst zu erschaffen. Sie werden zufrieden sein mit bedeutungsfreien Wahlmöglichkeiten, die in einer Kiste verpackt sind. Sie werden passiv sein, bestimmt von Kräften um sie herum, so wie die Newtonschen massiven Körper gemäß der deterministischen Kräfte der Physik bewegt werden. Das in unserer Newtonschen Weltsicht nahegelegte Wirtschaftssystem hat sich verschworen, Menschen zu erschaffen, deren Mangel an Autonomie und freiem Willen die mechanistische Auffassung durch unpersönliche Kräfte bewegter, toter Materie bestätigt. Unsere Kosmologie wurde auf uns selbst projiziert.
Bedeutungslose Wahlmöglichkeiten verpackt in einer Kiste. Kannst du dir eine zutreffendere Beschreibung eines Videospiels oder des Fernsehens denken?
Obgleich wir davon sprechen, dass Kinder mit ihrem Computer „spielen“, sind sie nicht so sehr Objekte des Spiels, sondern vielmehr ein Ersatz für das Spiel, und sie sind bloß ein kleiner Aspekt des großen Verschwindens des Spiels aus unserer Kultur. Das eigentliche Spiel ist eine kreative Aktivität: Gib einem Kind einige Bauklötze und sie werden zu Lastwagen, einer Stadt, einem Wald, einem Zoo. Setze ein paar Kinder zusammen und sie erschaffen Welten in der Vorstellung, die alles Material einbinden, was verfügbar ist, sei es physisch oder kulturell. Sie spielen Welten, die Kinder erschaffen, die zusammen das Königreich der Kindheit konstituieren, eine Übung für die kreative Arbeit eines ermächtigten Erwachsenen, der sich ein gutes Leben bereitet und zu einer schönen Welt beiträgt. Wir sind als kreative Wesen gedacht, nicht um ein Leben zu leben, dass man für uns vorbereitet hat. Joseph Chilton Pearce hat geschrieben: „Als Kind ist Wirklichkeit, was immer einer daraus macht27.“ Dies ist möglicherweise auch für Erwachsene wahr, aber sehr unwahrscheinlich, wenn wir es als Kinder niemals erlebt haben.
Die Arten Spielzeuge und Aktivitäten, die wir unseren Kindern zur Verfügung stellen, geben ihnen leider wenig Freiheit, ihre eigenen Königreiche zu erschaffen. Die Kindheit ist zu einem Prozess geworden, der den menschlichen Geist bricht, so dass wir tatsächlich zufrieden sind, von der modernen Wirtschaft angebotene Lebensvorgaben zu leben. Oder wenn jemand damit nicht zufrieden ist, so ist er doch unfähig, sich etwas anderes vorzustellen. Oder wenn jemand schon fähig dazu ist, so ist er doch im Unglauben an seine Fähigkeit, ein anderes Leben zu erschaffen. Das moderne Leben lässt uns deshalb betäubt, überwunden oder hoffnungslos zurück. Wie konnte das passieren?
Zunächst einmal haben sich in den letzten fünfzig Jahren Zahl und Varianten verfügbarer Kinderspielzeuge vervielfacht zu Haufen über Haufen von Plastikmüll, die es für die Kinder weniger notwendig macht, ihre Vorstellungskraft und Kreativität darauf zu verwenden, Alltagsgegenstände zu Spielzeugen umzufunktionieren. Joseph Chilton Pearce beobachtet: „Wenn ein Kind heute Keksebacken spielen möchte, muss es nicht auf Topfdeckel, Stock und Sand zurückgreifen, wie ein Primitiver. Es hat vielleicht eine komplette Miniaturküche, perfekt nachempfunden mit batteriebetriebenen Geräten28.“ Vorstellung ist kaum nötig.
Schlimmer noch, die heutigen Spielzeuge sind nicht passive Spielobjekte, die nur im Geist des Kindes zum Leben erweckt werden; sie sind durch Elektronik animiert. Das „Spielzeug“ übernimmt, und das Kind trägt eine passive Rolle. In den meisten Videospielen erschafft das Kind nicht die Geschichte, sondern bewegt sich durch eine Geschichte, die kreiert wurde. (Ah, wie erinnert das ans Erwachsenenleben!) Wenn es einmal Raum gibt für Entdeckungen, so wie im Pokémon Gameboy, ist es immer noch anders als die echte Welt: endlich und vorprogrammiert. Die Welt ist endlich und ihre Grenzen wurden von jemand anders festgelegt. Die einzigen Mysterien sind die, die hergestellt und an uns ausgegeben wurden.
Ich erinnere mich, dass ich als Junge Stunde um Stunde mit meinem Globus verbracht habe, ich verfolgte die Gebirgszüge mit meinem Finger, verband die Ozeane, dachte mir Geschichten zu den verschiedenen Ländern aus und verglich deren Ausdehnungen und Breitengrade. Heute haben Spielzeuggloben Computerchips und Stimmaufnahmen, die das Kind zu einem passiven Konsumenten von „Information“ machen. Werbung und Verpackung einer Vielzahl von computergestützten Gerätschaften auf dem Markt geben heute vor „erzieherisch“ zu sein, als wäre Erziehung die reine Aneignung von Fakten. Es scheint fast, dass für ein Kind heute ein Spielzeug kein Spaß sein kann, das nicht irgend etwas „tut“. Ein Spielzeug, das einfach daliegt und vom Kind fordert, dass es etwas damit macht, ist langweilig.
Aber das eigentliche Problem ist, dass die Vorstellungskraft des Kindes verkümmert. Kinder, die niemals Spielzeuge hatten, die für sie spielten, sind selten gelangweilt. Langeweile ist eine Art Entzugserscheinung von der Sucht nach immer stärkerer sensorischer Stimulation, welche die heutigen elektronischen Spielzeuge, Spiele und Medien liefern29. Die Fernsehsendung ist vorbei, ich bin gelangweilt. Spiel etwas Gameboy. Ich habe keine Lust mehr, es ist öde. Iss ein paar Kekse. Ich bin satt, ich bin gelangweilt. Sich von einem Reiz zum nächsten bewegend, entwickelt der Geist eine immer größere Toleranz gegenüber der Stimulation. Und so muss auch die Dosis erhöht werden: Videospiele, die noch aufregender sind, Fernsehsendungen mit noch schnelleren Bildschnitten und mehr Dramatik. Deshalb sind Kinofilme und Fernsehsendungen in den letzten Dekaden zunehmend schneller und reicher an Schnitten geworden, die Szenen sind kürzer und die Spezialeffekte noch dramatischer. Alte Filme sind irgendwie langweilig, nicht wahr?
Langeweile ist der Beginn eines geistigen Heilungsprozesses. Wie jedes Entzugssymptom ist es schmerzhaft, sehr bald aber beginnen sich latente, unentwickelte Fähigkeiten des menschlichen Geistes zu entwickeln. Ohne in eine lange Diskussion über die Vorteile von Meditation, Stille und Einsamkeit in der Natur zu gehen, möge es an dieser Stelle genügen zu sagen, dass Kinder und auch Erwachsene von Situationen profitieren, welche die Rohmaterialien der Kreativität und Modelle der Kreativität liefern, den Prozess der Kreativität selbst aber dem Individuum überlassen.
Das ist auch, wie Menschen lernen. Die Fähigkeit zu lernen stellt noch eine weitere Form spirituellen Kapitals dar, welches ebenfalls von der Geldmaschine klein gemahlen wird.
Langeweile ist aus einem weiteren Grund ein charakteristisches Merkmal der modernen Gesellschaft: sie steht für einen Hunger nach wahrhaftiger Erfahrung. Die Konsumwirtschaft nutzt diesen Hunger aus, indem sie uns künstliche Erfahrungen verkauft, die immer vielgestaltiger und intensiver werden. Fernsehen und Videospiele sind attraktiv, weil sie (vorübergehend) unseren Hunger nach Erfahrung stillen; und doch sind sie gleichzeitig ein hauptsächlicher Beitrag zur Trennung von der Wirklichkeit. Weil sie knalliger, dramatischer und lauter sind, als das wahre Leben, wird das wahre Leben im Vergleich langweilig. Das Kind gewöhnt sich so sehr an die extremen Reize elektronischer Unterhaltung, dass es die Empfindlichkeit für subtilere Wahrnehmungen verliert. Auch schrumpft, weil das Sperrfeuer der Reize elektronischer Unterhaltung so schnell ist, die Aufmerksamkeitsspanne des Kindes bis zu dem Punkt, da es unfähig wird für geduldige und anhaltende Beobachtung. Um die Aufmerksamkeit des Zuschauers zu lenken, setzen die Macher alle paar Sekunden ein „technisches Ereignis“ – einen Zoom, einen Schwenk, ein neues Objekt, einen Schnitt – in den Fernsehinhalt und provozieren damit eine neurologische Orientierungsreaktion. Dies wird auch „Schreckreaktion“ genannt und ist auch der Gewöhnung (Habituation) unterworfen. Um weiter ausgelöst zu werden, erfordert sie damit über die Zeit eine steigende Intensität – gewalttätigere, lautere, dramatischere, schockierendere Effekte. Kein Wunder, die Wirklichkeit ist so langweilig. Vergleiche den gelangweilten und müden Teenager von heute mit den im Kapitel II beschriebenen Pirahã, die gefangen genommen werden von der Beobachtung eines Bootes, das sich langsam aus der Ferne nähert, um dann wieder über den Horizont zu verschwinden. Die kommerzielle Unterhaltung von heute verkörpert den Ausverkauf unseres Erstaunens über die langsamen, subtilen Prozesse der Natur. Was ist schon das Schlüpfen eines Kückens aus der Eierschale gegen die Zeichentrickdramen, in denen das Schicksal des Universums alle halbe Stunde auf dem Spiel steht?
Ich werde niemals vergessen, als ich mit Frau und Kindern das Aquarium in Baltimore, Maryland besuchte. Es wimmelte von Eltern, die ihre hyperaktiven Kinder von einem Becken zum nächsten schleiften, aber die meisten Kinder waren einfach nicht daran interessiert, sich die Fische anzusehen. Sie schauten vielleicht ein paar Sekunden und wollten dann gehen und zogen ihren Eltern am Ärmel. Selbst die Haie haben es nicht geschafft, ihre Aufmerksamkeit für längere Zeit zu fesseln. Und dann an einem Becken hörte ich einen Chor von Stimmen, Kinder und Erwachsene, die etwas über „Findet Nemo“ sagten. Hier gab es schließlich einen Funken Interesse von den Kindern – aber es kam von einem Kinofilm. Offensichtlich war einer der Fische identisch mit einem Charakter in einem beliebten Kinderfilm, der in einem Korallenriff spielt. Der Fisch in dieser Geschichte war als lebensechte 3-D Animation gezeichnet, und du kannst wetten, dass die Ereignisse in jenem Film viel aufregender waren, viel stimulierender, als alles, was du in diesem Fischbecken sehen konntest. Kein Wunder, dass die Kinder gelangweilt waren. Die Wirklichkeit ist langweilig.
Meine Erfahrung im Aquarium illustriert ein grundlegendes Phänomen: die Umwandlung von Erfahrung – das heißt, vom Leben selbst – in ein Konsumprodukt. Dies ist die endgültige Umwandlung von spirituellem Kapital zu Finanzkapital, weil es bedeutet, dass das Sein selbst, die Erfahrung des Lebens, Geld kostet. Bezahlte Spezialisten, üblicherweise Fremde, die für riesige Unternehmen arbeiten, erschaffen das Leben, das wir erfahren. Natürlich ist es noch nicht ganz zu diesem Extrem gekommen, aber bedenke: während die Kinder früher in den Wald, an den See oder ins Feld gingen, um die Natur zu erfahren, wird die Erfahrung heute verpackt und an sie verkauft in Form eines Aquariums oder einer Naturdokumentation im Fernsehen. Durch diesen Prozess wird die Natur von einem Teil des Lebens zu einem Spektakel, und wir verlassen uns dabei auf andere, uns mit diesen Erfahrungen zu versorgen. Und damit sind wir in einem weiteren Bereich des Lebens zu Konsumenten geworden.
Die Umwandlung des Lebens in etwas, das konsumiert wird, bedeutet, dass wir das Leben absolvieren statt es für uns selbst zu erschaffen. Ein frühes Training für ein solches Leben wird geliefert durch die Aktivitäten, die wir Kindern anbieten und welche zunehmend wenig mehr bedeuten, als irgendwo hinzugehen und sich das anzusehen oder das anzuhören, was geboten wird. Oder wir setzen sie in die Bewegung einer vorgeschrieben Sequenz von Aktionen, die einen kreativen Prozess imitieren und wandeln damit das Lernen in das Befolgen von Instruktionen um. Vor ein paar Jahren war ich der Fahrer für einen Schulausflug zu einer Lamafarm. Den Kindern war nicht erlaubt, die Tiere, ihr Futter oder irgendetwas anderes zu berühren: alles was sie taten, war, sich die Lamas anzuschauen und die Informationen anzuhören, die ein Mitarbeiter ihnen erzählte. Niemand von ihnen stellte eine Frage, denn sie waren nicht interessiert. Tatsächlich bedurfte es einer ziemlichen Anstrengung seitens der Lehrer, Ruhe und Ordnung herzustellen und die natürliche Neugier und das Bedürfnis zur Entdeckung im Zaum zu halten. Die Kinder hätten genauso gut eine Sendung über Lamas im Fernsehen anschauen können, obwohl, ich nehme an, dass sie die Tiere immerhin riechen konnten.
Unsere Stadt richtet jedes Jahr eine Kinderparade aus, doch die Kinder können nicht bestimmen, was dabei geschieht. Sie schreiten nur hindurch, tragen Tierplakate an Stöcken oder haben Kostüme an, die von jemand anders hergestellt wurden.
Ich habe in der Sonntagsschule und in Kindergärten „Bastelstunden“ gesehen, bei denen die Kinder Schritt für Schritt dazu angehalten wurden, das zu tun, was ihnen gesagt wurde, manchmal ohne zu verstehen, was sie da gerade taten, und sie zeigten folglich nur wenig Stolz auf ihre beendeten Arbeiten. Es wäre in der Tat zu chaotisch, die Kinder frei mit den Rohmaterialien der Kreativität hantieren zu lassen. Natürlich ist Kreativität, die auf einen kontrollierten Bereich beschränkt werden muss und in einem vorbestimmten Produkt endet, überhaupt keine Kreativität mehr; es ist Arbeit. Kein Wunder, dass die Kinder so lustlos und unmotiviert sind. Sie bereiten sich vor auf ein Erwachsenenalter, in welchem sie Anweisungen befolgen. Sie bereiten sich vor auf ein Erwachsenenalter der Werktätigkeit, der Arbeit, des Funktionierens innerhalb der Maschine. Deine Kreativität wird auf einen kontrollierten Bereich beschränkt, und das Resultat wird ein vorbestimmtes Produkt. Ist das auch deine Stellenbeschreibung?
Eine der hinterhältigsten Verkörperungen der Kontrolle, und damit der Zerstörung des Spiels kam durch den organisierten Sport. Es begann mit der Zwergenliga und erstreckt sich heute in alle Sportarten und alle Altersgruppen. Der Sandkasten, der Spielplatz, die Nachbarschaft und das verwilderte Grundstück, wo Kinder einst frei waren, ihre eigenen Regeln zu bestimmen, ihre eigene Mannschaft auszusuchen und ihre eigenen Konflikte auszutragen, wurden ersetzt durch einen weiteren beaufsichtigten Bereich, wo Spiel bedeutet, durch ein vorgeschriebenes Bewegungsprogramm zu gehen und wo soziale Interaktion durch Autoritäten vermittelt und geleitet wird. Auf gewisse Weise spielen die Kinder das Spiel überhaupt nicht: das Spiel spielt die Kinder, die nur Ausstattung oder Platzhalter sind, die Funktionen erfüllen, die ihnen durch Regel zugedacht sind, welche von Erwachsenen geschaffen und durchgesetzt werden. Hier hat das Spiel seine essentiell kreative Natur verloren. Ich weiß nicht, wie ich es nennen soll, aber es ist wirklich überhaupt kein Spiel mehr. Es ist allerdings eine vortreffliche Konditionierungsmethode, um Menschen zu formen, die nach Autorität schauen für Anweisung darüber, wie „man das Spiel spielt“. Hast du dich jemals gefühlt, als seist du immer noch einer dieser „Platzhalter“, der Funktionen erfüllt, die bestimmt und durchgesetzt werden von einer nicht zu hinterfragenden Autorität?
Dann gibt es natürlich noch die Schule, die eine entscheidende Rolle spielt beim Verlust aller Formen von Kapital: soziales, kulturelles und spirituelles. Hier schreiten die Kinder wieder voran in einer mehr oder weniger vorgeschriebenen Reihenfolge von Schritten – dem Lehrplan. Ihr natürliches Verlangen zu forschen und zu erschaffen wird auf vorbestimmte Zeiten, Orte und Themen beschränkt. Sie lesen über die Welt, ohne sie zu erfahren, was die Ansicht verfestigt, dass Wissen entsteht durch das Aufsaugen von Informationen, Fakten und Daten, die von Autoritäten kommen, und dabei wird nebenbei die bloße Idee klein geredet, dass sie kompetent wären, die Dinge durch Beobachtung aus erster Hand wirklich für sich selbst zu lernen.
Die Beschränkungen, die wir den Kindern auferlegen, entstehen aus zwei verbundenen Interessen: Sicherheit und Praktikabilität, die sich beide auf irgend eine Form von Kontrolle reduzieren lassen. Es ist nicht so sicher, deine Kinder in der Nachbarschaft oder im Wald herumstromern zu lassen, als sie zu Hause zu behalten. Vorgefertigte, geplante „Erfahrungen“ sind sicherer als echte Erfahrungen in der Welt, welche sich jenseits des Menschenbereichs von Vorhersagbarkeit und Kontrolle befindet. Auch versuchen wir mit der Erziehung, die wir unseren Kindern andrehen, damit sie sich die notwendigen Qualifikationen für eine sichere Position als bezahlter Spezialist aneignen, die dem Leben innewohnende Unsicherheit zu vermeiden. Es zwingt die Natur zum Versorger anstatt darauf zu vertrauen, dass die Natur uns schon versorgen wird. Es ist die alte Unterscheidung zwischen den Bauern, die durch ihre Arbeit versuchten, Nahrung aus dem Land zu holen, und den Jägern und Sammlern, welche die Geschenke der Natur annehmen. Im vorliegenden Fall bezieht sich das „Naturvertrauen“ auf das Vertrauen, dass die natürliche Fruchtbarkeit des Kindes als kreatives Wesen zum Überleben und sogar zum Überfluss führen wird. Aber da ist mehr, denn Kreativität ist riskant, so wie auch die ungehinderte Erforschung der Welt. Es ist sicherer Junior zu Hause zu behalten. Aber warum ist die Sicherheit anscheinend zu höchsten Priorität unserer Gesellschaft geworden? So wie die „Innere Sicherheit“ benutzt werden kann und benutzt wird, um alle möglichen Arten von repressiven Maßnahmen zu rechtfertigen, so kann auch die Sicherheit des Kindes jede Beschränkung rechtfertigen, die der Freiheit des Kindes auferlegt wird zu erschaffen, zu entdecken und sein eigenes Leben in die Hand zu nehmen. Wirklich, die Betonung der Sicherheit kann als Manifestierung der Überlebensangst und der Annahme angesehen werden, der Sinn des Lebens sei das Überleben. Aus dieser Annahme speist sich unsere gesamte Beschäftigung mit der Sicherheit als auch das gesamte Technologische Programm zur Kontrolle der Wirklichkeit.
Wie halten wir unsere Kinder in Sicherheit? Indem wir sie in einer kontrollierten Umgebung halten, in der jede mögliche Gefahr ausgeschaltet wurde. Aber das nimmt ihnen in letzter Konsequenz die Möglichkeit für wirkliche Erfahrungen, jene Erfahrungen, die nicht für sie vorbereitet wurden. Eine Erfahrung, die vorprogrammiert ist, deren gesamten Parameter einer anderen Person bekannt sind, ist irgendwie künstlich, wie ein öffentliches Public Relations Pseudo-Ereignis. Es scheint, als wären wir geneigt, Risiko aus dem Leben, vor allem aber aus der Kindheit, zu tilgen. Was ist Risiko? Es kommt vom Unbekannten. Die Grenzen der Welt zu testen, welche per Definition unbekannt sind, bis wir sie entdecken, ist naturgemäß eine riskante Aktivität. Weil dies die Art ist, wie wir lernen, wer wir in Beziehung zur Welt sind. Als Folge hindert das Regime von Sicherheit, Einschränkung und Aufsicht die Kinder daran zu entdecken, wer sie sind; das heißt, es hält sie ab von der Selbst-Erkenntnis.
Unsere Kontrolle der Kinder spiegelt das Technologische Programm zur Kontrolle der Natur auf zwei Weisen wider. Erstens verinnerlicht sie bei unseren Kindern das Programm der Sicherheit durch Kontrolle, welches in der Überlebensangst wurzelt, das unseren wissenschaftlichen Paradigmen und den zugrunde liegenden sozialen Strukturen zueigen ist. Der zweite und erstaunlichere Punkt ist folgender: Unsere Kinder sind Natur; sie verkörpern genau das, was wir unter Kontrolle zu bringen versuchen. Ihre Spontaneität, Kreativität und Verspieltheit, kurz, ihre regellose Natur ist das Wilde, das wir zu erobern suchen oder, um weniger aufwieglerische Sprache zu benutzen, das wir versuchen in die Form eines „verantwortlichen“, „reifen“ gezähmten Erwachsenen zu gießen, in die Form von Verhalten, welches selten das rationale Eigeninteresse nach Sicherheit, Komfort und Absicherung (zumeist verkörpert durch Geld) für die kreativen Risiken des Unbekannten opfert. Genau parallel dazu benutzen wir die Wissenschaft zur Unterordnung des unbekannten Universums unter das menschliche Verstehen, und die Technologie zur Zähmung der Welt. Die Motivationen dafür sind identisch mit denen, die wir im reifen Erwachsenen ermutigen: Sicherheit, Absicherung und Vorhersagbarkeit.
Die Unterwerfung der Kinder in ein sicheres, kontrolliertes und programmiertes Abbild des Lebens endet nicht mit dem Schulabschluss. Zu der Zeit, da wir das Erwachsenenalter erreichen, sind wir so sehr konditioniert, Konsumenten eines für uns von anonymen Anderen vorbereiteten Lebens zu sein, und so hilflos und ängstlich, unser eigenes Leben zu erschaffen, dass wir für immer abhängig bleiben von vorgefertigten Erfahrungen. Ein anderes Wort für von anderen vorgefertigte Erfahrungen ist Unterhaltung. In dessen Abwesenheit erfahren wir ein unangenehmes Gefühl, das wir Langeweile nennen.
Als ich in einem vorangegangenen Kapitel die Angsttheorie besprach, brachte ich die Langeweile mit der von Stephen Buhner benannten „innerer Wunde“ der Trennung von der Natur in Verbindung, einem Loch im Herzen, so schmerzhaft, dass uns fortwährend nach Ablenkung, Unterhaltung oder anderen Dingen dürstet, die unseren Schmerz lindert. Gleichzeitig versuchen wir, dieses Loch zu füllen, indem wir uns mehr und mehr Besitz aneignen, sei er fassbar oder nicht: ein vergeblicher Versuch, die Leere im Innern zu füllen durch die Anhäufung von Dingen im Außen. Im Zusammenhang mit dem Verlust spirituellen Kapitals, bedeutet dieses Loch im Herzen nicht weniger, als das Leben selbst, unser eigenes Leben, das Leben, das wir für uns selbst erschaffen könnten, das aber verkauft wurde an die Erfordernisse der technologischen Gesellschaft.
Der Globus aus meinen Kindertagen war schon einen Schritt entfernt vom echten Leben, vom offenen Unendlichen, das die Natur ist und die wirkliche Welt. Was ich da erforschte war schon eine gemachte Repräsentation der Welt. Aber immerhin war meine Erfahrung innerhalb der Beschränkungen dieser Repräsentation nicht vorprogrammiert. Durch meine Vorstellungen spielte ich immer noch mit diesem Globus. Er spielte nicht mich, verwandelte mich nicht in seinen Maschinenführer, den Knopfdrücker, der das Spiel vom Start zum Ziel führt.
Wie ein Kind, das sich durch die Lektionen in der Schule bewegt und sich seinen Weg bahnt durch ein vorgeschriebenes Pensum von Informationen, welche wir „Bildung“ nennen, und wie eine Horde verwirrter Sechsjähriger, die versuchen, den Anweisungen ihres Fußballtrainers zu folgen, so bewegen wir uns durch das moderne Leben. Wir durchlaufen die Schritte eines Lebens, das von anderen für uns bestimmt wurde, eines Lebens, das nicht unser eigenes ist. Im letzten Schritt der Umwandlung der Welt zu Geld verkaufen wir unser eigenes Leben.
Was hier wichtig ist, ist weniger das Geld, sondern die Kontrolle. Die Zerstörung des menschlichen Geistes, die größtenteils in der Kindheit bewerkstelligt wird und die uns bis zum Grab begleitet, ist ein weiterer Aspekt der Zähmung des Wilden, der Eroberung der Natur und der Erfüllung des Technologischen und Wissenschaftlichen Programms auf der Ebene des Individuums. Das Leben ist mit anderen Worten unter Kontrolle gebracht worden, oder so versuchen wir es uns zumindest einzureden. Warum sonst diese Betonung von Sicherheit, Absicherung und Praktikabilität? Wie schon gesehen, reduzieren sich diese auf eine Betonung des Überlebens, das in unserer spezialisierten Gesellschaft eine Funktion des Geldes ist. Wieder verkaufen wir unser eigenes Leben, kaufen Erfahrungen statt sie zu erschaffen, werden angetrieben von Maschinen, unseren Terminen, unseren Uhren und Kalendern. Zeit ist Geld.
Es gibt noch weitere Aspekte der Umwandlung spirituellen Kapitals zu Geld und der Verringerung des menschlichen Geistes zum Zwecke des Profits. Ein jeder Mensch ist geboren als ein herrlicher, kreativer, spontaner Geist, fähig, die erstaunlichsten Dinge zu lernen. Diesen Geist auf etwas zu reduzieren, das willens ist, eine der schmalen und sinnentleerten Rollen der Gesellschaft einzunehmen, wie wir sie kennen, und diesen Geist zu zwingen, die Begrenzungen zu akzeptieren, die die heutige Welt bietet (und von denen unsere Wirtschaft abhängig ist), ist ein enormes Unternehmen und ein verurteilenswertes Verbrechen. Wir verstehen als Kinder und Teenager gar nicht, was passiert, wenn weite Bereiche unseres Geistes verkauft werden an die Erfordernisse der monetarisierten Welt. Wir wissen nur, dass wir beraubt wurden. Manchmal treffen wir jemanden, der durch einen Wink des Schicksals mit einem vollständigen Satz der menschlichen Gaben überlebt hat, und wir sind erstaunt; wir nennen diese Person dann ein Genie und tun sie fast als etwas nicht menschliches ab und sicherlich als ein Wesen aus einer anderen Kategorie, als wir selbst. Stattdessen ermutige ich dich, solche Menschen als Beweis unseres eigenen Potentials anzusehen und als Versprechen einer Zukunft, in der die Brillianz einer jeden Person zur gemeinsamen Schaffung einer schönen Welt beitragen wird. Denn, obwohl ein solches Potential unterdrückt werden kann, sogar unendlich lange, so kann sein Funke niemals verglühen. Er ist in dir und in mir. Wie wir ihn zurück bekommen können, wird Thema weiter Teile der letzten Hälfte dieses Buches sein.
27 Pearce, Joseph Chilton, Evolution’s End
28 Ebd.
29 Um das Verlangen des Geistes nach fortwährender Stimulation zu erfahren, versuche doch einfach mal an der Supermarktkasse zu stehen, ohne deiner Aufmerksamkeit zu gestatten, sich auf verschiedene Werbebotschaften, Zeitungen, Produkte und andere Bilder und Text zu lenken. Es ist nicht leicht.
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