Der Aufstieg der Menschheit von Charles Eisenstein

Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters

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Inhaltsverzeichnis:


Zins und Eigeninteresse38

Im Reich des Wuchers ruft die Sentimentalität des weichherzigen Mannes uns an, denn es spricht davon, was verloren gegangen ist.
– Lewis Hyde

Unser System von Geld und Eigentum trägt in vielerlei Hinsicht zum Prozess der Trennung der Menschen von der Natur, vom Geist und von der Gemeinschaft bei. Zum einen hängt das monetarisierte Leben ab von entfernten, unpersönlichen Institutionen und anonymen Spezialisten, die sie erschaffen, was uns weniger an unsere Nachbarn bindet. Zum zweiten ist die Natur von Geldtransaktionen geschlossen, im Unterschied zum Schenken, welches ein offenes Ende lässt und Verpflichtungen schafft – buchstäbliche Verbindungen in einer Gemeinschaft. Drittens erzeugt Geld durch seine ureigenste Natur als abstrakter Wertspeicher die Illusion, dass Nutzen und Güte etwas sei, dass gezählt und gemessen werden kann. Viertens macht das Konzept des Eigentums die Welt zu einer Sammlung unterschiedener Dinge, die abgetrennt, verkauft und besessen werden können. Etwas zu besitzen, heißt, es aus dem Gemeingut herauszutrennen und es sich selbst unterzuordnen. Die Anhäufung von Besitz, im besonderen Geld, repräsentiert eine Einverleibung der Wildnis in die Domäne des Selbst. Das schafft eine Wahrnehmung von Sicherheit, die in Wahrheit nicht existiert, trennt das Selbst noch mehr vom Rest der Welt und verstärkt wiederum die Illusion, dass Stücke der Welt herausgetrennt und zu Meinem gemacht werden können.

Der ursprüngliche Zweck des Geldes war doch bloß die Erleichterung von Austausch. Auf den ersten Blick sollte der Austausch die Menschen einander näher bringen und nicht trennen. In Kapitel VII werde ich ein Geldsystem beschreiben, welches genau das erreicht: Trennung aufzuheben, Gemeinschaft aufzubauen statt zu zerstören, uns näher zur Natur zu bringen statt uns davon zu entfernen. Solche Geldsysteme existier enbereits in embryonaler Form, und um zu verstehen, welche Charakteristiken sie brauchen, hilft es zu verstehen, welche Charakteristiken sie keinesfalls haben dürfen.

Es sind zwei zentrale Eigenschaften gegenwärtigen Geldes, welche die Umwandlung sozialen, kulturellen, spirituellen und natürlichen Kapitals zu finanziellem Kapital antreiben und welche auch verwoben sind mit unserer Selbstwahrnehmung als getrennte Wesen in einem Universum unterschiedener Objekte. Diese beiden, tief miteinander verbundenen Eigenschaften sind Knappheit und Zins.

Knappheit und Zins sind Produkte der Art und Weise, wie modernes Geld erschaffen wird: es gelangt in seine Existenz als Kredit von Banken39. Zwar trifft diese Aussage zum Teil auch auf die zurückliegenden Jahrhunderte zu, so gab es für den U.S. Dollar aber bis 1971 (zumindest in der Theorie) eine Golddeckung, und damit auch für andere Währungen, die an ihn gekoppelt waren. Aber seit der Abschaffung des Bretton-Woods-Abkommens im Jahre 1971 ist die Währung nicht mehr durch Gold oder andere Güter gedeckt. Die Menge neuen Geldes, welche Banken durch Kreditvergabe erschaffen können, ist nur begrenzt durch deren eigene Reserven (und die Anforderungen an das notwendige Reserveverhältnis und den Diskontsatz). Das Gesamtniveau dieser Reserven wird in der gesamten Wirtschaft von den Zentralbanken durch den Kauf und Verkauf von Schuldverschreibungen bestimmt.

Bernard Lietaer kommentiert: „Damit ein Währungssystem, das auf Bankkredit basiert, überhaupt funktioniert, muss Knappheit künstlich und systematisch eingeführt und aufrecht erhalten werden.40“ Wenn eine Bank einen Kredit gewährt, muss der Schuldner diesen mit Zinsen zurückzahlen, um die er mit allen anderen innerhalb der begrenzten Geldmenge konkurriert. Regierungen und ihre Zentralbanken müssen wohlüberlegte Kontrolle ausüben über die Geschwindigkeit, mit der dieses neue Geld erschaffen wird, und zwar durch die Zinssätze, erforderlichen Mindestreserven und, heutzutage das wichtigste Instrument, durch den Kauf und Verkauf von Regierungssicherheiten auf dem offenen Markt. Das ist ein Drahtseilakt zwischen Beschränkung, welche mehr Knappheit erzeugt, den Wettbewerb verstärkt und zu Bankrotten, Entlassungen, Konzentration von Wohlstand und Wirtschaftsabschwung führt; und der Lockerung, welche zu weniger Knappheit, mehr Inflation und erhöhter wirtschaftlicher Aktivität mit dem Risiko einer galoppierenden Inflation und eines Währungszusammenbruchs führt. Um letzteres zu vermeiden, muss Geld knapp gehalten werden, was dessen Benutzer zu fortwährendem Wettbewerb nötigt und fortwährender Unsicherheit belässt.

Das auf Bankschuld basierende Fiat-Währungssystem41 ist allerdings nicht die grundlegende Quelle der Knappheit und Unsicherheit, denn beide stehen unvermeidlich im Zusammenhang mit dem Phänomen des Zinses, welcher seinerseits tief in unserer Selbst-Auffassung wurzelt. Das auf Bankschuld basierende Währungssystem, das wir heute haben, ist auf dem Zins gegründet. Das ist die Motivation für Banken, überhaupt erst Geld zu erschaffen. Die Erschaffung von Geld ist nur ein Nebeneffekt, irrelevant für die Bank bei der Verfolgung ihres Hauptinteresses, Profite zu erwirtschaften. Ein weiterer Nebeneffekt ist die Notwendigkeit fortgesetzten Wirtschaftswachstums und damit auch die Umwandlung des gesamten Gemeinguts zu privatem, geldwertem Besitz, wie er in den vorangegangenen Abschnitten behandelt wurde.

Verfolgen wir einmal, wie Zinsen zu Knappheit, Wettbewerb und zur Notwendigkeit fortwährenden Wachstums führen. Da nahezu alles Geld in der Wirtschaft mit Zinsen durch den einen oder anderen Mechanismus verliehen wird (Sicherheiten, Kredite, usw.), folgt, dass entweder einige dieser Kredite faul werden, oder dass die Geldmenge wachsen muss. Wenn ich einen Kredit mit Zinsen zurückzahlen will, muss ich das über die reine Kreditsumme hinausgehende Geld von irgendwo anders beschaffen. Wenn die Geldmenge nicht wächst, dann muss ein der gesamten Zinslast entsprechender Anteil aller Wirtschaftsteilnehmer bankrott gehen. Mit anderen Worten, wenn es 1000 Euro in der ganzen Welt gäbe, und sie wären mit jeweils 10% Zinsen an 10 Leute als Kredite zu je 100 Euro vergeben worden, dann muss einer Bankrott machen, um die anderen neun mit dem Geld zur Rückzahlung ihrer Kredite nach einem Jahr zu versorgen. So zwingt uns der Zins zum Wettbewerb.

In der realen Welt ist die Geldmenge natürlich nicht statisch, sie wächst. Aber das ändert nichts an der zugrunde liegenden Dynamik der Knappheit und des Wettbewerbs. Zu jedem Zeitpunkt schulden wir gemeinsam mehr Geld als gerade existiert. Wo kommt das neue Geld her? Im heutigen Bankensystem der Mindestreserve entsteht neues Geld nicht durch das Schürfen von mehr Gold oder durch das Prägen neuer Münzen. Es erscheint jedes Mal, wenn eine Bank oder andere Institution einen Kredit vergibt. Wem verleiht die Bank Geld? Vorzugsweise an jemandem, der „kreditwürdig“ ist, was ein Urteil darüber beziffert, ob jemand die Fähigkeit hat, mit anderen um Geld zu wetteifern und damit den Kredit mit Zinsen zurückzahlen zu können. Im heutigen System existiert Geld nicht ohne Schuld, und Schuld existiert nicht ohne Zins, und der Zins treibt uns an, mehr und mehr Geld zu verdienen. Einige von uns können das Geld von anderen nehmen, aber kollektiv müssen wir neue Güter und Dienstleistungen erzeugen. Das ist schließlich, wofür uns unsere Arbeitgeber bezahlen. Ob als Unternehmer oder als Angestellter, als Schuldner oder als Gläubiger, wir haben Anteil an der Umwandlung sozialen und natürlichen Kapitals zu Finanzkapital.

Wenn nun systemweit die Neuerschaffung von Geld durch Kredite die Fähigkeit der Wirtschaft übersteigt, neue Güter und Dienstleistungen herzustellen, so ist die Folge Inflation. Mehr Geld jagt weniger Güter. Die Währung verliert an Wert, eine Möglichkeit, die all jenen nicht schmeckt, die viel davon haben (Gläubiger, Reiche und Mächtige). Es erscheint als etwas Gutes für den Rest von uns, wir, die wir einst bekannt waren als die „Schuldnerklasse“. Aber unglücklicherweise ist Inflation mächtigen Rückkopplungsschleifen unterworfen, die dazu führen kann, dass sie „galoppiert“ und dass damit die ganze Währung zusammen bricht. Um dies zu vermeiden, ist nicht inflationäres Wirtschaftswachstum – eine Erhöhung der Produktion von Gütern und Dienstleistungen – strukturell notwendig, damit das heutige Geldsystem bestehen kann. Dies treibt die unbarmherzige Umwandlung des Lebens zu Geld an, die ich in diesem Kapitel beschrieben habe.

Die Notwendigkeit des Wachstums, die eingebaute Knappheit des modernen Geldes, das Phänomen des Zinses und der allgegenwärtige, fortwährende Wettbewerb in der modernen Wirtschaft sind alle miteinander verbunden. Wo immer das Geld angekommen ist, sind traditionelle, geschenkbasierte Wirtschaftsweisen zusammengebrochen, da der Wettbewerb das Teilen als Basis wirtschaftlichen Austauschs verdrängt hat.

Und welchem Zweck dient dieser künstlich auferlegte Wettbewerb, diese allgegenwärtige Knappheit, Angst und Unsicherheit des modernen Lebens? Wir leben doch schließlich in einer Welt materieller Fülle. Wie niemals zuvor in der Menschheitsgeschichte haben wir die Möglichkeiten, die physischen Bedürfnisse aller Menschen auf diesem Planeten leicht zu befriedigen. Ironischerweise erschafft gerade unser Geldsystem, das eigentliche Symbol des Wohlstands, Knappheit inmitten der Fülle. Zu welchem Zweck? Der Zweck des Geldes ist doch zuallererst die Erleichterung des Austauschs. Bernard Lietaer schreibt: „Das gegenwärtige Geldsystem verpflichtet uns, kollektiv Schulden zu machen und mit anderen in der Gemeinschaft zu wetteifern, nur um die Mittel beschaffen, untereinander Handel zu treiben.42“ In der klassischen Ökonomie denkt man vom Wettbewerb, der mit knappem Geld einhergeht, als etwas Gutem, denn er ermutigt zu Effizienz. Aber ist die Effizienz in einer Welt der Fülle wirklich das höchste Gut? Nein, vor allem, wenn Effizienz mit der Zügigkeit gleichzusetzen ist, mit der Gemeingut zu Privatkapital umgewandelt wird.

Die Frage lautet nun, ob eine andere Art Geldsystem dem Zweck der Erleichterung von Austausch (und bestimmten anderen Bedürfnissen) dienen kann, ohne die erbarmungslose Verbrennung sozialen, kulturellen, natürlichen und spirituellen Kapitals zu erzwingen, welche die heutige Wirtschaft befeuert. Denn es wäre falsch, der Idee des Geldes als solchem die endgültige Schuld zuzuschieben. Geld, wie wir es kennen, entwickelte sich im Kontext unserer ganzen Zivilisation; es ist nicht nur ein Grund, sondern auch eine Folge unseres allgemeinen Wirtschaftssystems und unserer Weltsicht, unserer Kosmologie und unserer Selbstdefinition. Geld, wie wir es kennen, verkörpert und vergegenständlicht unsere tief sitzende kulturelle Annahme, dass die Welt bereit ist für ein Teile-und-Herrsche: Unterteilung in einzelne Stücke und Objekte, die benannt und weiter gegeben werden können. Geldknappheit erwächst aus und verstärkt die Idee, die in der technologischen Verwaltung der Welt enthalten ist, dass wir die Natur manipulieren und verbessern müssen, um die Mittel zum Überleben zu erhalten. Es ist also verknüpft mit der Überlebensangst.

Das Phänomen des Zinses lässt sich auf den Glauben reduzieren, dass „Geld Geld kostet“. Zinsen sind der Preis, den wir zahlen oder erwirtschaften, für die Benutzung des Geldes, was in der heutigen Zeit der Spezialisierung mit dem Überleben gleich zu setzen ist. Zinsen symbolisieren also den Glauben, dass die Mittel des Überlebens wertvoll, selten, knapp und damit Objekt des Wettbewerbs sind. Geld mit Zinsen zu verleihen, heißt: „Ich werde dir beim Überleben helfen, aber nur, wenn du mir etwas dafür zahlst.“ Würdest du in einer Welt der Fülle, wenn du jemandem heute etwas zu essen gibst, morgen eine größere Menge zurück verlangen? Es wäre unlogisch und unnötig in einer Welt, wo Überleben, um nicht zu sagen Überfluss, nicht verbunden wäre mit Arbeit, Knappheit und Angst. Deshalb erschafft der Zins nicht nur ein Mangelbewußtsein, er entsteht auch natürlich aus einem Mangelbewußtsein.

Das Mangelbewußtsein, welches uns zum Behalten und Horten zwingt, ist das Gegenteil einer Geschenkmentalität, welche die Grenzen des Selbst entspannt und die Gemeinschaft aneinander bindet. „[Der moderne Mensch] lebt im Geiste des Wuchers, das ist der Geist von Grenzen und Teilung43.“ Die kardinale Eigenschaft des wahrhaften Geschenks ist, dass wir es bedingungslos geben. Wir können erwarten, im Gegenzug beschenkt zu werden, ob nun vom Beschenkten selbst oder von einem anderen Mitglied der Gemeinschaft, aber wir verbinden keine Bedingungen mit einem wahren Geschenk, oder es wäre keines. Es ist klar, dass das Verleihen von Geld mit Zins in krassem Gegensatz zum Geist des Schenkens steht.

Lewis Hyde identifiziert eine weitere Eigenschaft des Geschenks – während es in einer Gemeinschaft zirkuliert, wächst es auf natürliche Weise, und dieser Zuwachs darf nicht behalten werden, sondern zirkuliert mit dem Geschenk. Zins bedeutet, den Zuwachs am Geschenk für sich zu behalten und ihn damit der Zirkulation in der Gemeinschaft zu entreißen, was die Gemeinschaft zum Vorteil des Individuums schwächt. Es ist kein Zufall, dass viele Gesellschaften die Zinsnahme untereinander verboten haben, um sie aber bei Transaktionen mit Außenstehenden zu erlauben, bei denen man nicht darauf vertrauen kann, dass sie ein echtes Geschenk wieder zurück in die eigene Gemeinschaft zirkulieren lassen. Daher das Verbot im fünften Buch Mose, Kapitel 23, Vers 20: „Von dem Ausländer darfst du Zinsen nehmen, aber nicht von deinem Bruder...“

Die Bedeutung dieser Mahnung kombiniert mit Jesu Lehre, dass alle Menschen Brüder sind, ist offensichtlich: Zinsen sind ganz und gar verboten. Dies war die Position der katholischen Kirche durch das gesamte Mittelalter, und ist noch immer die Regel im heutigen Islam. Aber beginnend mit der Verschmelzung von Kirche und Staat und sich beschleunigend mit dem Aufstieg des Merkantilismus im späten Mittelalter wuchs der Druck, die grundlegende Spannung zwischen der christlichen Lehre und den Anforderungen des Handels aufzulösen. Die Lösung, die Martin Luther und Johannes Calvin lieferten, war die Trennung von moralischem und zivilem Recht, mit der Begründung, dass die Wege Jesu nicht die Wege der Welt sind. Auf diese Weise wurde der Geist noch weiter von der Materie getrennt, und die Religion zog sich einen weiteren Schritt zurück in Richtung weltlicher Irrelevanz.

Zinsen verletzen auch noch eine dritte Eigenschaft von Geschenknetzwerken, dass nämlich das Geschenk an den Bedürftigsten geht. Hyde erklärt:

Das Geschenk bewegt sich in Richtung der Leere. Während es sich im Kreise bewegt, wendet es sich an den, der am längsten mit leeren Händen war, und wenn woanders jemand auftaucht, dessen Bedürftigkeit noch größer ist, verlässt es seinen alten Weg und bewegt sich zu ihm. Unsere Großzügigkeit mag uns leere Hände einbringen, aber unsere Leere zieht behutsam am Ganzen, bis sich das bewegende Ding zurückkehrt, um uns wieder zu füllen. Die soziale Natur verabscheut das Vakuum44.

Der Zins, auf der anderen Seite, lenkt den Fluss vom Bedürftigen ab zu dem, der schon den größten Wohlstand genießt.

Der Imperativ des ewigen Wachstums, der dem Zins zueigen ist, treibt die erbarmungslose Umwandlung des Lebens, der Welt und des Geistes zu Geld. Und doch, da Geld gleichgesetzt wird mit dem Benthamschen „Nutzen“ – das heißt, dem Gut – wird dieser gesamte Prozess in der traditionellen (neoklassischen) Wirtschaftstheorie als etwas rationales angesehen. Einfach ausgedrückt, erhöht sich das „Güteniveau“ der Welt mit jedem Gegenstand, der monetarisiert wird. Entsprechend zählen Dinge wie Giftmüll, Krebs, Scheidung, Waffen und so weiter als „Güter und Dienstleistungen“ und tragen damit zum Bruttosozialprodukt bei, das für gewöhnlich als Maß des Wohlstands einer Nation akzeptiert wird. Dieselbe Annahme taucht wieder auf in dem Euphemismus „Güter“, um Produkte der Industrie zu beschreiben. Das „Gut“ ist definiert als etwas, das für Geld getauscht werden kann.

Im Sinne der konventionellen Ökonomie kann es tatsächlich im rationalen Selbstinteresse eines Individuums sein, Aktivitäten nachzugehen, welche die Erde unbewohnbar machen. Dies gilt unter Umständen sogar auf der kollektiven Ebene: Nehmen wir die exponentielle Natur zukünftiger Geldflüsse als gegeben, dann mag es mehr in unserem „rationalen Eigeninteresse“ sein, alles Naturkapital jetzt zu liquidieren – die Erde zu versilbern – als sie für zukünftige Generationen zu bewahren. Denn der gegenwärtige Kapitalwert eines ewigen jährlichen Geldflusses von einer Billion Euro ist nur etwa 20 Billionen (bei einem Diskontsatz von 5%)45. Ökonomisch gesprochen wäre es rationaler, den Planeten innerhalb von zehn Jahren zu zerstören und dabei einen Verdienst von 100 Billionen zu machen, als sich mit einem nachhaltigen Verdienst von 3 Billionen im Jahr zu begnügen.

Wenn dies wie eine abwegige Phantasie klingt, dann bedenke, dass es genau das ist, was wir heute tun! Entsprechend der Parameter, die wir begründet haben, treffen wir die irrsinnige aber rationale Wahl, unser natürliches, soziales, kulturelles und spirituelles Kapital für einen finanziellen Profit zu verbrennen. Erstaunlicherweise wurde dieser Ausgang schon vor tausenden Jahren vorhergesehen vom Urheber der Geschichte vom König Midas, dessen Berührung alles zu Gold machte. Zuerst begeistert von der Gabe, verwandelte er all seine Nahrung, Blumen und sogar seine Lieben zu kaltem, hartem Metall. Wie König Midas verwandeln wir auch natürliche Schönheit, menschliche Beziehungen und die Basis unseres Überlebens zu Geld. Und trotz dieser uralten Warnung verhalten wir uns weiterhin, als könnten wir unser Geld essen: William Greider erzählt von einem ostasiatischen Minister, der gesagt haben soll, dass die Wälder seines Landes mehr wert wären, wenn man sie abholzen und den Geldertrag auf eine Bank mit Zinsen einzahlen würde46. Offensichtlich sind die Auswirkungen der Zerstörung des Planeten für Ökonomen von untergeordnetem Interesse. William Nordhaus von der Yale-Universität erklärt: „Landwirtschaft, der Teil der Wirtschaft, welcher durch den Klimawandel in Mitleidenschaft gezogen wird, macht nur drei Prozent der nationalen Produktion aus. Das bedeutet, es wird keinesfalls sehr große Auswirkungen auf die U.S. Wirtschaft haben.“ Der Wirtschaftswissenschaftler Wilfred Beckerman stößt ins gleiche Horn: „Selbst wenn das Nettoprodukt der Landwirtschaft um 50% zum Ende des nächsten Jahrhundert fiele, wäre das nur eine 1,5 prozentige Einbuße im Bruttosozialprodukt47.“

Müssen wir wie König Midas erst in eine kalte, ungemütliche, hässliche und unwirtliche Welt verschlagen werden, bevor wir erkennen, dass wir unser Geld nicht essen können?

Weil er exponentiell wächst, nimmt der Zins die Menschheit aus der Natur, welche selbst an Kreisläufe gebunden ist. Unterschwellig, aber unaufhaltsam befördert er die Annahme, dass die Menschheit außerhalb der Naturgesetze existiert. Und auch treibt der Zins die ständige Angst an, indem er immer mehr, mehr, mehr verlangt, und er beschleunigt die Umwandlung allen Wohlstands in Finanzkapital.

Zins ist ein notwendiges Gegenstück zur Mentalität der Externalisierung. Indem sie die Natur als unendliches Reservoir von Ressourcen und eine unendliche Müllkippe behandelt, leugnet die Externalisierung die Tatsache, dass die Natur in Kreisläufen funktioniert. Der Zins ist auch verwandt mit dem Feuer, der Grundlage der modernen Technologie. Um es am Laufen zu halten, wird immer mehr Brennstoff benötigt, bis die ganze Welt verschlungen wird und einen Haufen Dollar oder Asche hinterlässt.

Geld ist eine höchst eigentümliche Art des Besitzes, denn anders, als physische Warenlager „rostet es nicht und es wird nicht von Motten zerfressen“. Geld verliert nicht an Wert; im Gegenteil, in seiner modernen, abstrakten Form als Bits in einem Bankcomputer, wächst es an Wert, da es Zinsen bringt. Damit scheint es ein fundamentales Naturgesetz zu verletzen: die Vergänglichkeit. Geld benötigt keine Fürsorge, wie etwa ein Stück Ackerland, zur Aufrechterhaltung seiner Produktivität. Es braucht keinen fortwährenden Austausch im Lager, wie etwa Getreide, damit es frisch bleibt. Nicht zufällig also war die frühe und fortdauernde Verbindung des Geldes mit dem Gold, dem Metall, das bekannterweise nicht oxidiert. Geld erhält die tiefsitzende Illusion der Unabhängigkeit von der Natur; finanzieller Wohlstand besteht fort ohne eine konstante Wechselwirkung mit der Umwelt. Andere Arten des Wohlstands sind nervenaufreibend, da sie eine fortgesetzte Beziehung mit anderen Menschen und der Umwelt erfordern. Nicht so beim Geld, das heute vollkommen abstrahiert ist von physischen Gütern, und damit auch von den Naturgesetzen des Verfalls und der Veränderung. Geld, wie wir es kennen, ist deshalb ein integraler Bestandteil des unterschiedenen und getrennten Selbst.

Es ist eine merkwürdige Tatsache, dass die meisten Menschen ihr Geld extrem ungern teilen. Selbst unter Verwandten ist das Teilen von Geld an strenge Tabus gebunden: ich kenne zahllose arme Familien, deren Familien ihrer Brüder, Cousinen oder Onkels Familien wohlhabend sind. Und wieviele Freundschaften sind zerstört worden, wieviele Familienmitglieder haben einander für Jahre gemieden, wegen des Geldes? Geld, so scheint es, ist untrennbar verbunden mit der eigentlichen Essenz des Egos – ein Schlüssel zu seiner tiefen Verbindung zum Selbst. Daher auch das intensive Gefühl der Verletzung, wenn man „ausgenommen“ wird (als würde einem ein Teil des Körpers genommen), während aus anderer Sicht lediglich ein paar Stücke Papier den Besitzer wechselten oder ein paar Bits in einem Bankcomputer an und ausgeschaltet wurden.

Für gewöhnlich teilen wir unser Geld nicht, weil wir es fast als Teil unseres Selbst und als Grundlage unserer biologischen Sicherheit ansehen. Geld ist Selbst. Gleichzeitig sehen wir, indoktriniert durch die Wissenschaft und die Ursprünge der Trennung, die ihr zugrunde liegen, andere Leute als genau das, „das Andere“. Die Vermischung dieser beiden Bereiche lädt ein zu Verwirrung und Streit. Das Problem ist, je mehr vom Leben wir in Geld verwandeln, desto mehr Territorium fällt in einen dieser beiden Bereiche, Meins oder Deins, und desto weniger gemeinsame Basis gibt es, um das Leben zu teilen und vorbehaltlose Beziehungen aufzubauen. Die Umwandlung des Lebens zu Geld reduziert alles auf eine wirtschaftliche Transaktion und hinterlässt uns als das einsamste Volk, das je diesen Planeten bewohnte. Die Inbesitznahme der gesamten Welt bedeutet, dass alles entweder Mein ist, oder das jemandes Anderen. Nicht länger haben wir irgendetwas gemeinsam.

Die Verletzung, die wir spüren, wenn wir ausgenommen werden, ist wohl der Verletzung sehr verwandt, die ein eingeborener Jäger und Sammler verspüren muss, der Zeuge von Umweltzerstörung wird. Wenn das „Ich“ nicht als unterscheidbares Individuum sondern durch ein Netz von Beziehungen zu den Menschen, der Erde, den Tieren und Pflanzen definiert ist, dann verletzt jeder Schaden an ihnen auch uns selbst. Selbst wir Modernen fühlen manchmal einen Nachhall dieser Verletzung, wenn wir Bagger sehen, die Bäume wegen eines neuen Einkaufszentrums ausreißen. Das kommt daher, dass unsere Trennung von den Bäumen eine Illusion ist. Die verborgene Verbundenheit kann durch Ideologie überwunden, durch Ablenkung betäubt oder durch das Heraufbeschwören der Überlebensangst eingeschüchtert werden, aber sie kann nie sterben, denn sie macht aus, wer wir wirklich sind. Die Liebe zum Leben, die Edwin Wilson Biophilie genannt hat und unser natürliches Mitgefühl mit anderen Menschen ist in letzter Konsequenz nicht zu unterdrücken, denn wir sind Leben und Leben sind wir.

Das Regime der Trennung hat uns für die Selbstverstümmelung der Erdzerstörung und die Degeneration seiner Bewohner abgestumpft. In einem Versuch, unseren verlorenen Sinn für das Sein zu kompensieren, übertragen wir ihn auf Besitztümer und besonders auf Geld und machen damit die Bühne frei für ein Disaster. Wie? Weil (Zins bringendes) Geld eine freche Lüge ist, die ein falsches Versprechen der Unvergänglichkeit und des ewigen Wachstums verkörpert. Wird es mit dem Selbst gleich gesetzt, so legt das Geld und seine damit verbundenen „Anlagen“ nahe, dass, wenn wir es kontrollieren, das Selbst für immer aufrecht erhalten werden kann, undurchdringlich für den Rest des Zyklus, der dem Wachstum folgt: Verfall, Tod und Wiedergeburt.

Es gibt ein offensichtliches Problem, wenn etwas, das nicht verfallen, sondern nur für immer exponentiell wachsen kann, mit Gütern verbunden wird, die diese Eigenschaft nicht teilen. Das einzig mögliche Ergebnis ist, dass diese anderen Güter – das soziale, kulturelle, natürliche und spirituelle Kapital – irgendwann erschöpft werden in dem hektischen, hilflosen Versuch, das betrügerische Versprechen des Geldes und des Zinses einzulösen.

Die eng verbundenen Charakteristiken von Knappheit und Zins sind keine zufälligen Eigenschaften unseres Systems, das anders sein könnte, wenn nur irgendwer eine weisere Wahl getroffen hätte. Sie sind enthalten in unserer Newtonschen-Cartesianischen Kosmologie enthalten, in der per Definition mehr für mich bedeutet, weniger für dich. Da diese Kosmologie zunehmend überflüssig wird, entsteht Hoffnung auf einen Übergang zu einem neuen Geldsystem, welches eine sehr verschiedene Auffassung vom Selbst und der Welt verkörpert. Ohne einen solchen Übergang gibt es wenig Hoffnung, dass die gegenwärtige Umwandlung sozialen, kulturellen, natürlichen und spirituellen Kapitals zu Geld jemals nachlässt.

38 Der englische Titel „Interest and Self-Interest“ stellt die beiden Konzepte in einen noch engeren sprachlichen Zusammenhang (Anm.d.Übers.).

39 Siehe bei Schenk, Robert. „From Commodity to Bank-debt Money“:
http://ingrimayne.saintjoe.edu/econ/Banking/Commodity.html, für einen einfache und dennoch gründliche Beschreibung des Prozesses, mit dem Geld erschaffen wird.

40 Lietaer, S. ***

41 Fiat Währungen werden von Zentralbanken ausgegeben und fußen auf dem Vertrauen der Verwender, dass ihnen ein realer Wert entspricht – der amerikanische Dollar und der Euro geben Beispiele (Anm. d. Übers.).

42 Lietaer, p. ***

43 Hyde, S. 139

44 Hyde, S. 23

45 Der Grund, warum eine unendliche Menge Geld einen endlichen „Kapitalwert“ haben kann, ist der, dass dieser Wert als konvergente Reihe berechnet wird.

46 William Greider, „Endstation Globalisierung. Der Kapitalismus frißt seine Kinder“, Heyne: 1998

47 Diese Zitate sind entnommen aus dem Adbusters Magazine, „Let us Eat Cake“, Ausgabe 55, September/Oktober 2004.

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1998-2011 Charles Eisenstein