Der Aufstieg der Menschheit von Charles Eisenstein

Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters

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Inhaltsverzeichnis:


Die vollkommene Verderbtheit des Menschen

Beginnend mit den frühesten Technologien, dem Feuer, der Steinbearbeitung und der symbolischen Kultur, ist der Aufstieg der Menschheit eine Geschichte stetig steigender Kontrolle über die Natur und die menschliche Natur. Sein Höhepunkt wäre es, die Kontrolle zu vervollständigen. Obwohl die meisten Menschen es nicht mehr für möglich halten, einen vollständigen Sieg über Krankheit, Leid und Tod – also einen kompletten Sieg über die Natur – zu erringen, lebt das Technologische Programm in unausgesprochenen Annahmen und Einstellungen fort, dem Traum von einem technologischen Utopia. Das Leben wird immer besser werden, immer sicherer, immer bequemer, effizienter, moderner, sauberer, automatisierter, verlässlicher.

Diesem Glauben liegt die Annahme zugrunde, dass wir auf dem richtigen Weg sind und dass wir in der Tat schon ein gutes Stück zurückgelegt haben. Er unterstellt, dass das nackte Leben, wie Thomas Hobbes es so treffend ausdrückte, „einsam, armselig, böse, viehisch und kurz“ sei. Die Hartnäckigkeit, mit der wir an diesem Vorurteil festhalten, enthüllt lediglich, wie viel davon abhängt – nichts weniger als die gesamte Ideologie des Fortschritts. Fortschritt (so wie wir ihn verstehen) ist nur von Bedeutung, wenn wir aus einem niedrigeren in einen höheren Zustand aufsteigen – aus dem Reich der Natur in ein getrenntes, menschliches Reich. Rechnen wir zurück, so müssen wir glauben, dass die ursprüngliche Natur und die ursprüngliche menschliche Natur schlecht sind. Daher das Ziel der Kontrolle: Technologie zur Kontrolle der Natur, Kultur zur Kontrolle der menschlichen Natur.

Dieses Kapitel wird die allumfassenden Konsequenzen des Programms, das Leben und die Welt unter Kontrolle zu bringen, umreißen. Während wir kollektiv die Natur durch Wissenschaft und Technologie zu beherrschen und zu unterdrücken versuchen, wirft das Ziel der Kontrolle auch einen Schatten über unser persönliches Leben. Wir glauben uns selbst kontrollieren zu müssen, unsere Körper, unsere Gefühle, unsere Impulse, unseren Appetit. Warum? Weil unser natürliches Selbst in einer personalisierten Version des Hobbes’schen Naturbildes ebenfalls schlecht ist. Die psychologischen „Technologien“, die wir benutzen, um Selbstkontrolle zu erreichen, sind Legion, verinnerlicht von frühester Kindheit an: Schuld, Willenskraft, Disziplin, Schamgefühl, Anreize, Drohungen, Belohnungen. Wir müssen uns selbst regulieren und kontrollieren, genau so wie wir die Natur durch Technologie regulieren und kontrollieren müssen, um sie gut zu machen – ein ordentlicher Garten im Gegensatz zu einer ungastlichen Wildnis. Da der unzivilisierte Mensch sich tatsächlich in einem natürlichen Zustand befindet, sind die beiden Aussagen innewohnender Schlechtigkeit (der wilden Natur und des unkontrollierten Menschen) in der Tat identisch.

In der Religion wird dieser Annahme im Konzept der Erbsünde Ausdruck verliehen, und, allgemeiner, in der Vorstellung, die man in allen institutionalisierten Religionen findet, dass Spiritualität im Kampf um Selbstvervollkommnung bestehe. Wir bemühen uns, uns über die Versuchungen des Fleisches in das Reich des Geistes zu erheben, um unsere animalischen Neigungen zu überwinden, um Zurückhaltung und Selbstbeherrschung zu üben. In anderen Worten „halten wir uns selbst“ an einen Moralkodex1. Egal ob im Hinduismus, Christentum oder einer anderen Weltreligion, es ist eine Glaubenslehre, dass wir uns sehr anstrengen sollten, nett zu sein. Das Selbe gilt, vielleicht sogar noch stärker, für ethische und moralische Systeme, die nicht ausdrücklich religiös sind – ein weiterer Hinweis, dass die scheinbare kulturelle Kluft zwischen Säkularem und Religösem in unserer Gesellschaft überwiegend äußerlich ist.

Die Vorstellung von der Erbsünde ist heute ein zentraler Punkt in den meisten christlichen Kirchen, obwohl sie einmal von solchen Kirchenvätern wie Pelagius scharf angefochten und von späteren Gestalten wie Thomas von Aquin verfälscht worden ist. Die Begründer des Protestantismus, Martin Luther und Johannes Calvin, traten für die „völlige Verderbtheit des Menschen“ ein, die angeborene Sündhaftigkeit von Menschen2. Für sie war „sich anstrengen nett zu sein“ nicht gut genug! Diese Lehre ist äußerst wichtig, denn sie ist die Grundlage für das gesamte Dogma von Christus als dem übernatürlichen Erlöser, einem Sendboten der Göttlichkeit außerhalb unser selbst, unsere einzige Rettung3. Und, wie Abraham Maslow beobachtet,

„jeder Lehrsatz der angeborenen Verderbtheit des Menschen oder jede Verleumdung seiner tierischen Natur führt recht schnell zu einer außermenschlichen Deutung von Güte, Heiligkeit, Tugend, Aufopferung, Altruismus usw. Wenn diese nicht innerhalb der menschlichen Natur erklärt werden können – und erklärt müssen sie werden – dann muss ihre Erklärung außerhalb der menschlichen Natur liegen. Je schlimmer der Mensch ist, je mangelhafter man ihn sich vorstellt, desto notwendiger wird ein Gott.“4

Nicht nur die Religion ist von der angeborenen Verderbtheit der menschlichen Gattung abhängig. Der Glaubenssatz erstreckt sich jenseits der Theologie in die atheistische Psychologie, am bekanntesten in den Schriften Sigmund Freuds, außerdem in jüngerer Zeit in den Arbeiten verschiedener darwinistischer Soziobiologen und kognitiver Psychologen wie Richard Dawkins und Stephen Pinker5.

Hier ergibt sich eine aufschlussreiche Ironie: Obwohl protestantische Fundamentalisten den Darwinismus verteufeln und aus den öffentlichen Schulen herauszuhalten versuchen, stimmt ihre Sicht der angeborenen Sündhaftigkeit des Menschen völlig mit der neo-darwinistischen Erklärung des Ursprungs des Lebens und der Evolution überein. Das eine verzahnt sich wunderschön mit dem anderen. Dies sollte uns nicht überraschen, da sowohl der Darwinismus als auch die Erbsünde aus den selben tiefen kulturellen Auffassungen vom Selbst und dem Universum herrühren6.

Die dem Darwinismus zugrunde gelegte Natur, einschließlich der menschlichen Natur, ist nicht sonderlich schön. Es ist eine Natur, in der Wettbewerb regiert, in welcher der tiefste Lebenszweck, der tiefste Verhaltensanreiz, zu überleben und sich fortzupflanzen ist und in dem Kooperation ein mitunter vorkommendes, zufälliges Produkt einer Übereinstimmung von Interessen darstellt. Kooperation ist in Ordnung, aber es ist sogar noch besser, andere Organismen so zu täuschen, dass sie dir helfen, während du keine Energie dafür aufbringst, ihnen zu helfen. Wie Richard Dawkins schreibt: „Die natürliche Auslese bevorzugt Gene, die ihre Überlebensmaschinen in einer Weise kontrollieren, dass sie den besten Gebrauch von ihrer Umwelt machen. Das schließt die beste Verwendung anderer Überlebensmaschinen ein, sowohl der selben als auch anderer Gattungen.“

Die Definition des Selbst, wie sie in den herrschenden Theorien von Biogenese und Evolution enthalten ist, behauptet, dass jeder von uns ein diskretes, getrenntes Wesen ist, das gegen andere solche Wesen um Überleben und Fortpflanzung kämpft. Aus dieser Sicht sind vom einzelligen bis zum gegenwärtigen Stadium diejenigen Organismen die erfolgreichen, die sich auf Kosten ihrer Rivalen besser um ihre eigenen Interessen zu kümmern in der Lage sind, wobei alles als Rivale definiert wird, was um die selben Ressourcen konkurriert. Jeder Organismus, der durch seine Gene programmiert wird, Verhaltensweisen auszuführen, die seine Chancen auf Überleben und Fortpflanzung mindern – z.B. Ressourcen zu teilen, wenn nicht genug für ihn selbst da sind – wird sich wahrscheinlich nicht reproduzieren, so dass seine Erbinformationen aus dem Genpool herausfallen. Anders ausgedrückt sind wir programmiert – ist das Leben programmiert – auf Kosten anderer Wesen zu profitieren. Kann man sich eine bessere Definition von „nicht nett“ vorstellen als das? Wenn Eigensucht unsere Natur ist, dann brauchen wir natürlich Gesetze, Moral und Selbstbeherrschung, um diese Selbstsucht im Zaum zu halten und zivile Wesen zu werden.

Daher stimmen Mainstream-Wissenschaft und Mainstream-Religion darin überein, dass wir von Natur aus schlecht sind; dass wir darum, genau wie wir die Natur kontrollieren müssen, uns selbst kontrollieren, regulieren, verbessern, und ja: beherrschen müssen, damit wir gut sein können. Zu dieser Übereinkunft gelangt auch die Ökonomie, die ebenfalls am zentralen Grundsatz festhält, dass Leute von der Maximierung ihres Selbstinteresses getrieben seien. Wenn Wissenschaft, Religion und Wirtschaft sich einig sind, musste der Glaubenssatz der angeborenen Schlechtigeit in der Tat tiefe Wurzeln treiben. Es ist kein Zufall, dass dies zur Orthodoxie sowohl in wissenschaftlichen wie religiösen Belangen gehört. Die Ideologie unserer Zivilisation – Fortschritt, Aufstieg – ist davon abhängig. Deshalb ist es in viele unserer reflexiven Annahmen darüber, was wahr ist, eingebaut. Es ist ebenso in unser Geldsystem eingebaut und erzeugt damit genau dasselbe, als elementar angesehene Verhalten.

Weil unsere Mythologie, Ideologie, Kultur und Ökonomie so sehr damit durchtränkt sind, ist die Lehre von der Erbsünde tatsächlich korrekt – korrekt insoweit, als wir (regelrecht) mit unsere Kultur durchtränkt sind. Sie ist korrekt angesichts unserer ideologischen Infrastruktur und den Antrieben, die in unseren kulturellen Einrichtungen eingebaut sind.

Hobbes hat Leviathan geschrieben, lange bevor Darwin überhaupt an Evolution durch natürliche Auslese gedacht hat und lange bevor die Theorie selbstsüchtiger Gene überhaupt erfunden worden ist. Die „(menschliche) Natur ist schlecht“-Idee reicht weiter zurück als Darwin, als Hobbes, als Luther und Calvin. Sie ist im Dualismus selbst enthalten, der seine Ursprünge in der sogenannten Neolithischen Revolution, wenn nicht noch früher, hat, auch wenn er erst mit der Wissenschaftlichen Revolution vollständig zum Ausdruck kam.

Dualismus ist die Idee, dass das Universum in zwei Teile getrennt ist, die man Materie und Geist nennt, Gott und Schöpfung, Mensch und Natur, oder, am grundlegendsten, Selbst und Anderes. Diese zwei Teile sind auf keinste Weise symmetrisch: Das Selbst is wichtiger, das Andere weniger. In der Religion entspricht die Seele dem Selbst, der Körper dem Anderen. Die Seele ist wichtig, während das Fleisch im besten Fall irrelevant, im schlimmsten ein Hindernis für das Leben im Geiste ist. Außerhalb der Religion manifestiert sich derselbe Dualismus, Descartes folgend, als Geist = das Selbst, Körper = das Andere. Egal wem wir folgen, wir identifizieren uns mit dem Geist und nicht mit unseren Körpern, nicht mit anderen Lebensformen, nicht mit der Welt allgemein. Selbst wenn wir uns anstrengen, Mitgefühl zu entwickeln, ist die beschränkte Identität mit einem scheinbar getrennten Selbst in unsere Weltsicht eingebaut. (Tatsächlich ist es für diese Weltsicht symptomatisch, dass wir „versuchen“ müssen, mitfühlend zu sein.) Kein Wunder, dass wir unsere Körper und unseren materiellen Planeten so ungeniert misshandeln. Kein Wunder, dass wir diese (unwichtigen) Anderen – andere Religionen, andere Nationen, andere Rassen, andere Spezies – mit solcher Gewalt überziehen.

Auf der kollektiven Ebene manifestiert sich der Dualismus als Unterscheidung zwischen Mensch und Natur, das Universum in zwei Teile spaltend, von denen eines, das Selbst, wichtig und Das Andere daher nur insofern wichtig ist, als es das Selbst betrifft. Dualismus spornt zu wohlmeinenden Argumenten für die „Erhaltung“ natürlicher „Ressourcen“ an, Ausdrücke, welche die Unterordnung der Natur gegenüber dem Menschen schon enthalten und die Dinge in der Welt in Kategorien der Nützlichkeit für unsere Zwecke einordnen. Die Regenwälder müssen erhalten werden, weil wir von dort – wer weiß? – eines Tages wichtige Medikamente beziehen könnten. Und stell dir nur mal den wirtschaftlichen Verlust durch Bodenerosion vor! Solche Argumente sind kontraproduktiv, denn sie verstärken letztlich genau die Denkweise, die die Wurzel des ursprünglichen Problems darstellt: dass die Welt das Andere ist, welches zu unserem Nutzen hier ist.

Die logische Folgerung aus dem Dualismus – dass das Andere nur in dem Maße wichtig sei, als es das Selbst betreffe – ist ein verstecktes Geschwür, aus welchem stetig Gift in den Körper unserer Zivilisation sickert. Eine universelle Säure, die den Kern jeden Systems aus Moral, Ethik und Verantwortlichkeit erodiert, welche sich in eine Reihe pragmatischer Fragen nach dem „Warum sollte ich?“ auflösen.

Abgesehen von pragmatischen Gründen – warum sollte ich mich um irgend etwas außerhalb meiner selbst kümmern? Die übliche religiöse Antwort „Weil Gott es sagt“, oder „Weil Gott mich sonst bestrafen wird“ bringt uns nicht weiter, weil jene Moralität ebenfalls auf Pragmatismus hinausläuft: die Vermeidung göttlicher Vergeltung für unsere Sünden. Da ist wirklich kein Unterschied. Müssen wir zum Gutsein geprügelt werden? Müssen wir Selbstkontrolle ausüben, wissend, dass wir auf unser natürliches Selbstinteresse verzichten, welches wir durch Rücksichtslosigkeit gegenüber der Welt maximieren könnten? Ist ewiger Kampf die einzige Alternative zu Lasterhaftigkeit?

Warum sollte ich als Individuum irgendetwas für jemand anderen tun? Warum sollte ich nicht nach Herzenslust die Umwelt verschmutzen? Warum sollte ich nicht deine Geldbörse stehlen, wenn ich weiß, dass ich davonkomme? Hier folgt ein Dialog, den ich neulich mit meiner Klasse führte:

Ich: Warum sollte ich nicht die Umwelt verschmutzen, wie ich möchte? Klasse: Du würdest dein eigenes Umfeld vergiften. Ich: Ja, richtig – ich gehe besser auf Nummer Sicher und verschmutze den Garten meines Nachbarn, nicht meinen eigenen. Klasse: Wenn man dich erwischt, wirst du unter Konsequenzen zu leiden haben, die den Nutzen des Verschmutzens überwiegen. Ich: Ok, ich werde nur so viel verunreinigen, dass die Vorteile die Risiken überwiegen. Ich werde es im Geheimen tun, während ich gleichzeitig den Anschein eines netten Kerls gebe. Ich werde mich von einem skrupellosen Unternehmen für das nächtliche Verklappen von Giftmüll in einer Senkgrube bezahlen lassen. Niemand wird es je herausfinden. Oder sagen wir, ich bin eine Firma und ich möchte die Umwelt verpesten, um höhere Profite zu erhalten. Ich finanziere falsche Studien und starte PR die behauptet, dass die Verschmutzung eigentlich gar nicht so übel ist. Warum sollte ich nicht? Klasse: Wenn das jeder täte, wärest du dem Untergang geweiht. Ich: Stimmt. Darum unterstütze ich Gesetze und Moralregeln, die andere daran hindern, es auch zu tun. Aber warum sollte ich es nicht selbst tun, wenn ich damit durchkomme? (Warum sollte ich nicht „andere Überlebensmaschinen sowohl derselben als auch anderer Spezies“ manipulieren?)

Anders ausgedrückt, was geht mich der Rest der Welt an? Das diskrete und isolierte Selbst eines Descartes impliziert ein diskretes und getrenntes Universum außerhalb jenes Selbstes. Solange ich mich von der Welt da draußen abschotten kann – im Prinzip möglich, genau weil sie getrennt ist – kann ich alles tun was ich will. Die einzigen Grenzen sind pragmatischer Natur. Von Fall zu Fall kann ich abschätzen, ob eine Handlung meinen Nutzen maximiert. Soll ich den Geldbeutel stehlen, den der Mann auf dem Tisch hat liegen lassen, als er auf die Toilette ging? Lass mich Kosten und Nutzen aufrechnen. Der potentielle Erfolg liegt bei 200 Euro, das Risiko erwischt zu werden liegt in diesem Fall bei 2%, die Strafe und der Gesichtsverlust sind vielleicht 7000 Euro wert... rechnerisch bleibt ein Überschuss von 56 Euro (200x98%-7000x2%). Also stehle ich ihn. Erhöhe die Strafe auf 11.000 Euro und ich lasse es. Richtig?

Die Logik scheint absurd, aber das ist exakt die Logik hinter einem Rechtssystem, das auf Abschreckung basiert. Dieses System sucht durch Auferlegung von Strafen ein für ein Individuum im rationalen Selbstinteresse liegendes Verhalten in irrationales Verhalten zu verkehren. Ohne Strafen irgendwelcher Art wäre Stehlen in unserem rationalen Selbstinteresse.

Lass uns dieser Fragestellung noch ein wenig weiter folgen. Jeder weiß, dass wir im Alltag nicht jedesmal eine genaue Rechnung aufmachen, wenn die Gelegenheit zum Profit auf jemand anderes Kosten kommt. Die Entscheidung wurde mit dem moralischen Training unserer Kindheit automatisiert. Unsere Eltern, Lehrer und andere Autoritäten trainieren uns, nicht eigensüchtig zu sein, indem sie „nettes“ Verhalten belohnen und „eigensüchtiges“ bestrafen. Sie geben einen Anreiz für Nettigkeit, der sie nicht länger irrational macht, sondern tatsächlich in Übereinstimmung mit dem Eigennutz bringt. Schließlich verinnerlichen wir diese Anreize in Form von Schuld, Bewusstsein und Gewohnheit. Unser natürliches Selbst ist eigensüchtig, rücksichtslos und lasterhaft und bedarf einer langen Trainingsphase zur Unterdrückung der Natur und zur Unterstützung von Moral, Ethik und anständigem Verhalten.

Hier sehen wir eine unauflösbare Verbindung zwischen Dualismus und Kontrolle. Eines organischen, innewohnenden Geistes beraubt, schreit die materielle Welt, die die Wissenschaft uns präsentiert – gleichgültig, zwecklos und rücksichtslos wetteifernd – geradezu nach der Kontrolle, die wir Technologie nennen. Da er von tierischen oder sündhaften Trieben regiert wird, verlangt der in jener Welt lebende physische Körper gleichermaßen nach der Kontrolle, welche wir ihm durch moralisches Training, Erziehung und Kultur auferlegen.

Das Programm der Kontrolle wiederum fordert die Reduzierung der Welt, wie sie im Kapitel „Die Ursprünge der Trennung“ beschrieben wird; d.h. die Verendlichung des Unendlichen. In der Wissenschaft streben wir nach Kontrolle der Variablen, im Ingenieurwesen nach der Aufrechnung jeder denkbaren Kraft mit unseren Gleichungen. Unsere Kontrollbemühungen scheitern, wenn das Unendliche wieder durchsickert – eine von der Wissenschaft unkontrollierte Variable, ein unvorhergesehener Umstand im Leben, „menschliches Versagen“ in einer Fabrik. Die Antwort auf solche Unfälle ist stets die Ausweitung der Kontrolle auch auf diese, um das System gegen Pannen zu sichern. Egal wie sehr wir es versuchen, es lauert die Unendlichkeit auch nach tausenden von Jahren.

1 Eigentlich sagen die ursprünglichen esoterischen Lehren aller Religionen exakt das Gegenteil; ich rede hier von institutionellen Religionen.

2 Der Glaubenssatz von der völligen Verderbtheit wurde von Generationen protestantischer Theologen erläutert. Ich verweise den Leser zwecks einer verständlichen Darstellung auf Arthur Pinks „The Total Depravity of Man”. Angesichts der von Luther begangenen Grausamkeiten frage ich mich, ob er lediglich sein Verständnis seines eigenen Selbstes auf die Wirklichkeit projiziert hat.

3 Es gibt dennoch esoterische Interpretationen dieser Konzepte, die nicht auf Erbsünde beruhen.

4 Maslow, Abraham, Religions, Values, and Peak Experiences”. Penguin Books, 1970. S. 38

5 Siehe Pinker,Stephen, „Das unbeschriebene Blatt. Die moderne Leugnung der menschlichen Natur”, 2003, ISBN 3-8270-0509-4)

6 Fundamentales Christentum verzahnt sich auch noch auf andere Weise mit dem Wissenschaftlichen Programm, nämlich der nüchternen Auslegung der Bibel, die den Wörtern eine absolute Bedeutung und verdinglichte Stellung verleiht, mit dem Ziel, einen unfehlbaren Standard zu finden, mit dem man Wahrheit bestimmen kann – eine absolute Wirklichkeit „da draußen“, jenseits der Subjektivität kultureller Auslegung. Dieses Ziel ist dem der Wissenschaftlichen Methode tatsächlich recht ähnlich. Oberflächlich sehr verschieden, teilen Fundamentalismus und Wissenschaft die selben ontologischen Annahmen und Ziele.

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1998-2011 Charles Eisenstein