Der Aufstieg der Menschheit von Charles Eisenstein
Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters
Unter der Herrschaft des Dualismus haben wir im Wesentlichen versucht, die Welt in zwei Teile zu trennen, einen unendlichen und einen endlichen, um dann vollständig im letzteren zu leben, weil er endlich ist, der Kontrolle zugänglich. Wir sind wie der Frosch, der in einen Brunnen gesprungen und unfähig ist, irgend etwas anderes zu sehen oder sich an die unermessliche Welt jenseits zu erinnern, sich jedoch zum Oberherrn des gesamten Universums erklärt. Unsere Herrschaft über die Natur ist im Herzen eine ungeheuerliche Selbsttäuschung, denn ihr erster Schritt ist der Versuch der schroffen Minderung der Natur, was gleichermaßen eine Minderung des Lebens darstellt, eine Minderung der Erfahrung, eine Minderung des Fühlens und eine Minderung des Seins: ein wahrlich Faustischer Tausch des Unendlichen gegen das Endliche.
Diese Minderung kommt in vielen Gestalten daher und läuft unter vielen Namen. Sie ist die Zähmung des Wilden; sie ist das Vermessen und Quantifizieren der Natur; sie ist die Umwandlung kulturellen, natürlichen, sozialen und spirituellen Wohlstands in Geld. Weil das Leben gemindert wird, ist Gewalt ihr unvermeidbarer Begleiter (tatsächlich kann ich mir keine bessere Definition von Gewalt denken als die Minderung des Lebens); daher das Anschwellen der Gewalt, die unsere Zivilisation für Jahrtausende hat bluten lassen und die jetzt, wo wir die gegenwärtige massenhafte Vernichtung ganzer Spezies, Ozeane, Ökosysteme, Sprachen, Kulturen und Völker abschließen, den Höhepunkt ihrer Fieberkurve erreicht.
Vom Jäten eines Erdbeerfelds über die Nötigung eines Kindes bis zur Beseitigung eines Feindes im Namen der nationalen Sicherheit bedarf die Kultivierung und Kontrolle der Welt von Natur aus Gewalt. Gewalt ist in unser Weltbild eingebaut; sie ist in unserem Selbstverständnis als getrennte Wesen in einem Universum eigenständiger, ums Überleben wettstreitender Anderer enthalten; darüber hinaus erlaubt und legitimiert die Objektivierung anderer Wesen, Menschen und der Erde selbst Gewalt gegen diese. Gewalt scheint keine Gewalt zu sein, wenn sie sich nur gegen ein Kraut, nur ein Tier, nur einen Wilden, nur einen Feind, nur ein Ding richtet. Die Entmenschlichung eines Feindes ist ein wohl bekanntes, mächtiges Vehikel für Folter und Völkermord, aber Entmenschlichung – Menschen in ein Objekt zu verwandeln – ist lediglich ein Spezialfall unserer Abtrennung vom Rest der Welt. Durch das Ausmaß dieser künstlichen, illusorischen Trennung wird die Ursache der Gewalt offenbar. Sie ist einfach das Ergebnis größtmöglicher Unkenntnis: dass wir nicht wissen, wer wir sind.
Deshalb rieten die großen Friedenspropheten der menschlichen Geschichte nicht zu mehr Selbstbeherrschung, auch nicht zu einer Verstärkung der Bemühungen nett zu sein, sondern zur Ergebung in unser natürliches Selbst, das nicht das getrennte, für sich allein stehende Selbst der heutigen Wissenschaft und Religion ist. Als ihn Leute, die wegen seiner Ausstrahlung von Ehrfurcht ergriffen waren, Buddha fragten: „Was bist du?“, da behauptete jener nichts weniger als einfach: „Ich bin wach“. Das ist es, was ein menschliches Wesen wirklich ist. Und auch Jesus meinte das Selbe, als er von Gottes Liebe sprach – nicht was wir sein sollten oder könnten, sondern was wir wirklich sind. Moses auf dem Berg fragte die göttliche Quelle: „Was soll ich sagen, wer mich sandte?“ Die Antwort: „ICH BIN ES.“ Ich bin was? Alles und nichts. Wenn man uns auseinandernimmt, ist dieser besondere Teil von uns, welchen wir Selbst nennen (Seele, Geist, Verstand, Bewusstsein), nicht da. So gesehen sind wir nichts. Wenn wir uns von allem Anderen im Universum abtrennen, sind wir weniger. Demnach sind wir alles.
Weil unsere Abgrenzung von Selbst und Anderem eine falsche ist, wird die Gewalt, die wir über das Andere bringen, eigentlich an uns selbst verübt. Hier finden wir erneut eine Warnung aus einigen unserer ehrwürdigsten spirituellen Lehren. Die Lehre vom Karma legt dar, dass wir den Auswirkungen unserer Handlungen nicht entrinnen können; dass das, was wir anderen antun, uns selbst antun. Sogar dies verdrehen unsere religiösen Institutionen bezeichnenderweise noch zu „Sei gut oder du wirst bestraft werden.“ Mit der Goldenen Regel ist es dasselbe. Da ihre ursprüngliche Bedeutung – „Wie du anderen tust, so tust du dir selbst“ – innerhalb der dualistischen Auffassung sinnlos erscheint, haben wir sie zu einer Vorschrift pervertiert, einem anzustrebenden Standardverhalten. Ursprünglich waren sowohl die Karmalehre als auch die Goldene Regel reine Faktenaussagen, die auf einem andersartigen Selbstverständnis basierten.
Die Aussage „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ (Leviticus 19:18, Matthäus 22:39 und anderswo) fällt der selben dualistischen Misinterpretation zum Opfer. Statt als Vorschrift könnten wir sie als simple Faktenaussage deuten: So, wie du deinen Nachbarn liebst, liebst du tatsächlich dich selbst. Das Selbst und der Nächste sind in Wahrheit nicht getrennt. Jesus verbreitete keine einfachen moralischen Binsenwahrheiten. Doch da er zu Menschen sprach, die in den Mythos des getrennten Selbst eingetaucht waren, ist es kein Wunder, dass seine Lehren sofort fehlinterpretiert und in ihrer aktuellen Form niedergeschrieben wurden. Die verordnenden und normativen Formen spiritueller Lehren – d.h. was man tun sollte und was nicht – passen zu den einheitlichen Interessen politischer Mächte, die sich alle religiösen Bewegungen ab dem Todestag ihres Gründers und manchmal auch schon vorher zueigen machen.
Die einzige Weise, in welcher der dualistische Verstand mit dem Karmagedanken oder der Goldenen Regel umgehen kann, ist die Annahme der Existenz eines übergeordneten Richters, eines kosmischen Gutachters, der deine Handlungen wägt und die entsprechenden Belohnungen und Strafen bemisst. Wenn du und dein Nächster grundsätzlich verschieden seid, dann lässt sich daraus nicht begründen, warum etwas, das du deinem Nachbarn antust, notwendigerweise zurückkommt und dich selbst trifft – besonders wenn du genügend Vorsicht walten lässt. Ein allwissender Gott ist nötig, der dir die Konsequenzen zurückzubringen. Die Vorstellung von Gott als einer eigenständigen Macht außerhalb der Natur, die Moralität erzwingt, ist daher eine Krücke für den im Getrenntheits-Mythos verirrten Verstand, ein Mittel zum Verständnis der Folgen unseres Umgangs mit anderen. Als solches mag diese Idee eines überirdischen Gottes kurzfristig Wirkung zeigen, allerdings mit dem Risiko, dass die Illusion vom Getrenntsein verfestigt wird. So geschehen in den meisten zeitgenössischen Christenkirchen, die die Verwüstung der Erde durch die Menschheit als weltliche Angelegenheit behandeln, und nicht als eine von höchster spiritueller Dringlichkeit.
Aus dualistischer Sicht ist das, was ich einige Christen sagen hörte, dass es ohne den Glauben an Gott keine Moralität geben kann, in der Tat wahr. „Wenn Gott nicht existiert ist alles erlaubt.“7 Was soll mich sonst davon abhalten, meinem Nachbarn Schaden zuzufügen, solange ich mich genügend in Acht nehme? Theoretisch komme ich damit durch. Wir können weiterhin Wälder roden. Vielleicht bleiben wir von Heimsuchungen verschont; und falls nicht, dann können wir es regeln. Dies führt zu einer Welt unter Kontrolle. Wir können es uns erlauben, die Welt wie eine Ressource zu behandeln, ein Ding, ein Anderes, solange wir mit den praktischen Konsequenzen umgehen können – und es gibt keinen Grund zu glauben, dass wir es nicht könnten. Wir können der Welt straflos antun was wir wollen, solange wir clever genug sind. Das ändert sich völlig mit dem Verständnis, dass Selbst und Welt, Mensch und Natur, in Wahrheit nicht getrennt sind. Denn dann gibt es kein Entkommen; dann kann jedes Kontrollbestreben lediglich das Unvermeidliche aufschieben. Die Vorstellung eines getrennten, allwissenden, richtenden, belohnenden und strafenden Gottes vermittelt dem dualistischen Verstand diese Einsicht. Unglücklicherweise lässt uns die dualistische Auffassung von Gott unausweichlich in Kategorien von Gottgefälligkeit und Gotteshörigkeit denken, um göttlichen Lohn zu gewinnen und göttlliche Bestrafung zu vermeiden. Sie führt uns, anders ausgedrückt, umgehend zurück zum System der Kontrolle.
Indem man eine künstliche Kluft zwischen Selbst und Anderem schafft, spaltet uns der Dualismus, der die Welt in zwei Teile trennt, von einem Teil unser selbst ab. Wir bleiben als unvollständige Wesen zurück. Um die Lücke zu füllen, fügen wir unserem Selbst immer mehr hinzu; mehr Eigentum, mehr materiellen und spirituellen Ballast, mehr Ego, mehr Überheblichkeit: ein expandierendes Territorium des Selbst, das sich die gesamte Welt untertan machen möchte, indem es sie unter Kontrolle bringt. Jedoch verschärft der Versuch, so viel wie möglich von der Welt zu besitzen, nur die Entfremdung vom Rest des Universums, das uns durch seine Unendlichkeit zu Bedeutungslosigkeit schrumpfen lässt, egal wieviel wir anhäufen. Die innerliche Wunde – der Verlust unserer inneren Verbindung zur Natur – kann nie durch die Ansammlung von immer mehr äußerlichem Selbst geheilt werden.
Die Wurzel der Weltkrise ist nicht inhärente Eigensucht oder Gier, die überwunden werden müssten. Die Lösung ist nicht, mit weniger auszukommen, unser bestes Interesse zu opfern oder uns Grenzen aufzuerlegen. Diese Lösungen entspringen einem Mangelbewusstsein, und es ist genau dieses Mangelbewusstsein (das der Quantifizierung und Aneignung der Welt innewohnt, welche das Unendliche endlich macht), welches uns zum Horten und Ansammeln, Besitzen und Haben reizt. Erwäge die gegenteilige Haltung: „Das Gute in der Welt gibt es im Überfluss. Es ist genug für alle da. Meine Bedürfnisse sind übermäßig gedeckt. Ich kann haben was mein Herz begehrt.“ Jemand mit dieser Einstellung braucht nicht besitzen, horten oder lenken, denn es gibt immer genug. Eingeborene Jäger-und-Sammler-Gesellschaften überraschten ihre ersten Besucher mit ihrer arglosen, freigiebigen Großzügigkeit. Wie Kolumbus von den Arawak (bevor er sie ermordete und versklavte) schrieb: „Sie sind so unverdorben und frei in allem, dass es niemand glaubt, der es nicht gesehen hat... Egal was man von ihren Besitztümern verlangt, sie sagen niemals nein; im Gegenteil laden sie dich zur Teilhabe daran ein und zeigen so viel Liebe, als ob es von tiefstem Herzen käme.“8 Haben die Arawak-Kinder einen intensiven Prozess kultureller Anpassung durchlaufen, der ihre angeborene gierige, eigensüchtige Natur mit dem Wunsch zu teilen überschrieben hat? Ich bezweifle es. Intuitiv beschreiben wir ihr Verhalten als kindisch, unschuldig oder arglos – Adjektive, die darauf hindeuten, dass ihrer der Ursprungszustand des unverdorbenen Menschen ist. Völlig eingetaucht in die Wirklichkeit und die Mentalität des Überflusses war das Teilen nur natürlich. Wenn „mein“ kein Begriff ist, ist teilen leicht.
Bezeichnenderweise versuchen einige moderne Anthropologen primitive Freigiebigkeit und Geschenkbeziehungen mit ökonomischen Ausdrücken wegzuerklären: Kosten und Nutzen für das getrennte Selbst. Marcel Mauss gab den Ton im frühen 20. Jahrhundert vor, als er Geschenke als Mittel des Wettbewerbs zu erklären versuchte, mit denen man andere in die Pflicht nehmen kann9, ein Gedanke, der sich auch bei anderen modernen Theoretikern wie Richard Posner wiederfindet10. Beide sehen das Schenken als ein Mittel primitver Gesellschaften zur Generierung von Prestige und als eine Art Versicherungspolice ohne akkumulative Mechanismen – wenn ich dir etwas schenke, dann „schuldest du mir was“. Obwohl es solche Motive unzweifelhaft gibt, projizieren wir unsere kulturellen Vorurteile, wenn wir sie als vorherrschend ansehen. Solche ideologischen Verrenkungen sind notwendig, um die Annahmen, auf welchen sie beruhen, zu schützen – das Selbstverständnis und die Weltsicht unserer Zivilisation. Aus dem Blickwinkel des gesonderten, getrennten Selbstes ergibt Altruismus einfach keinen Sinn, bevor irgendein Transaktionsmodell ihn auf verdeckte Eigensucht reduzieren kann.
Derrick Jensen beschreibt Ruth Benedicts Ansatz der Kategorisierung von Kulturen in gute (lebensbejahend, gewaltfrei, egalitär, sanft, freundlich und frei von Grausamkeit, harter Bestrafung, Ausbeutung, Eifersucht, Erniedrigung und Depression) und schlechte (gewalttätig, aggressiv, grausam, kriegslüstern, wettstreitend und hierarchisch), um die Regel oder den Faktor zu entdecken, der sie unterschied11. Ihr Ergebnis: „Die sozialen Strukturen und Einrichtungen nichtaggressiver Kulturen unterstützen Handlungen, die der Gruppe als Ganzes nützen, während sie Handlungen entgegenstehen (und Zielsetzungen ausschalten), die einzelne Gruppenmitglieder schädigen. Die sozialen Strukturen aggressiver Kulturen andererseits belohnen Handlungen, die individuellem Profit zur Geltung verhelfen, auch oder gerade dann, wenn dieser Profit andere in der Gemeinschaft schädigt.“ Es ist deshalb nicht notwendig, dass es das Konzept „Mein“ nicht gibt, sondern nur, dass soziale Strukturen und Institutionen nicht zur Anhäufung von Mein ermutigen. Universelle Mechanismen des Teilens beispielsweise machen das Horten von Besitztümern vernunftwidrig.
Bevor wir jedoch schließen, wir müssten unsere „sozialen Strukturen und Institutionen“ ändern, stünde es uns gut an, etwas tiefer zu graben und zu fragen: „Auf welcher Grundlage bauen diese sozialen Strukturen und Institutionen auf?Öbwohl Jäger und Sammler tatsächlich umständliche Mechanismen zur Aufrechterhaltung einer egalitären Gesellschaft hatten, erwuchsen diese sozialen Strukturen auf natürliche Weise aus ihrem Selbstgefühl, das noch nicht so starr als unabhängig und getrennt definiert war. Vielleicht wurden die Ziele, äußerlichen Regeln und Tabus – Benedicts „Strukturen und Institutionen“ - erst notwenig, als sich die Abtrennung des Selbst während der Altsteinzeit vertiefte. Jedenfalls dürfen wir nicht darauf hoffen, aus dem Nichts soziale Strukturen der Belohnung und Bestrafung aufbauen zu können ohne den geeigneten Unterbau: ein weitere und offenere Auffassung vom Selbst.
Wir fühlen uns verwirrt. Rationales Eigeninteresse hat unser kulturelles Wahrnehmungsvermögen übertölpelt, so dass es weder rational noch in unserem Interesse ist. Unser eigennütziges Verhalten ist nur an der Oberfläche zum eigenen Nutzen; in Wirklichkeit kollidiert es mit unseren wahren besten Interessen. Die oberste Maxime solchen Verhaltens ist die rücksichtslose Maximierung jenes Vorteils, den das von Haut umhüllte Ego wahrnimmt. Unsere Zerstörungswut einzudämmen, ist keine Sache der Zügelung unserer natürlichen eigennützigen Impulse; es ist eine Sache des Verständnisses, wer wir wirklich sind. Wenn wir nicht wissen, wer wir sind, dann kann unsere Eigennützigkeit gewiss auch nicht unserem wahren Selbst nützen. Darin wurzelt das endemische Trübsal in unserer Gesellschaft, und es ist unter Gewinnern wie Verlierern gleichermaßen verbreitet.
Es wäre eine Sache, wenn es sich, im Wesentlichen, bei der Welt tatsächlich um eine Wettkampfarena handelte, in der es Gewinner und Verlierer gäbe. Es wäre dann gerechtfertigt, alle Kraft daran zu setzen, unter den Gewinnern zu sein. Die traurige Wahrheit ist allerdings, dass die Gewinner in unserer Gesellschaft zu den größten Verlierern überhaupt gehören. Das ist nun wahrlich eine freche Aussage. Beim Lesen wirst du argwöhnen, es mangele mir entweder an Wissen oder Mitgefühl. Was sind die belanglosen Probleme der Reichen gegenüber dem entsetzlichen Leid der Opfer unserer Kultur? Was ist ein bisschen Angst oder Depression gegenüber Hunger, Armut, Mord, Genozid, Tyrannei, Folter, der Zerstörung von Kulturen, der Plünderung der Ökosysteme? Sicherlich bin ich mir des wahren Ausmaßes des Schreckens nicht bewusst geworden.
Die Litanei der Opfer unserer Kultur ist beinahe endlos – eingeborene Völker, die Armen, die im Namen von Wohlstand und Macht geopferten Ökosysteme – aber wir würden die Ausbeuter wohl kaum verurteilen, wenn die Alternative wäre, dass sie sich selbst unter den Opfern befänden. Wer kann jemand verurteilen, weil er gut zu sich selbst ist? Wenn die Welt im Grunde „fressen oder gefressen werden“ ist (wie ich einmal Ökologie definiert sah), dann können wir nicht jemand seines Strebens nach der ersteren Kategorie wegen verurteilen. In einer solchen Welt sähe das passende ethische System so aus, dass die Gewinner den Verlierern gegenüber so nett wie möglich wären, Sicherheitsnetze für die Armen anböten, Heilung für die Umwelt und Obergrenzen dafür, wieviel man gewinnen kann. Im Kern ist das politischer Liberalismus, der keine Grundannahmen in Frage stellt. Desgleichen könnten sich besonders vorbildliche Individuen und deren Nachahmer absichtlich dazu entschließen, zu den Verlierern zu gehören (auch wenn sie „Gewinner“ sein könnten, wenn sie sich dazu herabließen), um damit zu demonstrieren, wie nett sie sind, wenn sie den ihnen zustehenden größeren Anteil verweigern und dabei edelmütig ihre Chance opfern, den Lohn des Privilegs zu genießen. Natürlich wird diese selbstaufopfernde Einstellung, sofern du nicht wirklich ein Heiliger bist, schließlich dazu führen, dass du dich über jene ärgerst, die sich für den Genuss der Früchte des Gewinnerdaseins entscheiden; ein Ärger, der unter Sozial- und Umweltaktivisten offensichtlich weit verbreitet ist. Doch all das setzt voraus, dass Gewinner wirklich Gewinner sind. Und das ist eine Täuschung! Unsere Gewinner haben ihren „rationalen Eigennutz“ erfolgreich maximiert, nur um sich um das Versprechen sicheren Glücks betrogen zu sehen.
Verschwende deine Kraft nicht an Ärger über die Reichen und Mächtigen. Wie die Bolschewiken unabsichtlich demonstriert haben, ändert sich nicht sonderlich viel, selbst wenn die Reichen und Mächtigen gestürzt werden. Außerdem ist dieser Ärger kontraproduktiv. Häufig sagt Aktivistenrhethorik durch die Blume: „Sei nicht zu gut zu dir selbst“ oder „Du bist schlecht, weil du gut zu dir selbst bist“. Kein Wunder, dass sich so viele Leute abgeschreckt fühlen. Wer Schuld und Schande nutzt, um uns zur Einschränkung unserer Beteiligung an der Zerstörung des Planeten und seiner Bewohner zu bewegen, führt auf subtile Weise einige der Axiome weiter, die die Zerstörung überhaupt erst vorantreiben. Er greift auf eine Form von Kontrolle zurück, Kontrolle über eine bösartige menschliche Natur. Auf subtile Weise wiederholt und verstärkt er erneut den selben Eroberungskrieg, der den Planeten in Scherben gelegt hat.
Eine weitere versteckte Annahme ist, dass das gute Leben, egal ob wir es ungezwungen verfolgen oder uns edelmütig opfern, tatsächlich ein gutes Leben ist. Das ist es nicht. Wir jagen ein Trugbild. Wir sind hinters Licht geführt worden, wir versuchen ein enges Selbst aufzublähen, welches in Wirklichkeit nicht einmal existiert.
Das deutlichste Anzeichen des Betrugs erscheint während des (vorübergehenden) Erfolgs des Programms zur Kontrolle. Selbst wenn alle Grundlagen abgesichert sind, jeder Eventualität begegnet wurde, selbst an der obersten Spitze von Gesundheit, Wohlstand und Macht – sogar dann noch schleicht sich eine entnervende Langeweile ein, angefangen bei den Abgründen der Leere, den Augenblicken des Stumpfsinns, um schließlich das gesamte Dasein zu umschlingen. Anfangs lässt sich dies vielleicht durch Erfolgs-, Macht- und Reizsteigerung verleugnen, doch es kehrt in immer stärkerem Maß zurück, bis es jeden wachen Moment in gnadenloser Knechtschaft hält. Das ist keine neue Erscheinung, wie Lewis Mumford beobachtet:
„Eine ägyptische Geschichte […] enthüllt die Leere des Lebens eines Pharao, in dem jeder Wunsch gar zu einfach befriedigt worden ist, so dass die Zeit mit unerträglicher Schwere auf seinen Händen lag. Verzweifelt wandte er sich zur Erlösung von seiner Langeweile an seine Berater; und einer von ihnen machte einen klassischen Vorschlag: dass er ein Boot mit dünn verschleierten, fast nackten Mädchen fülle, die über das Wasser ruderten und ihm Lieder sangen. Zu jener Stunde war der jämmerliche Überdruss des Pharao zu seinem großen Entzücken überwunden.“12 |
Und im Buch der Prediger lesen wir:
„Ich sammelte mir auch Silber und Gold und Schätze von Königen und den Landschaften; ich schaffte mir Sänger und Sängerinnen und die Wonne der Menschenkinder: Frauen in Menge [...] Und was irgend meine Augen begehrten, versagte ich ihnen nicht; ich verwehrte meinem Herzen keinerlei Freude, denn mein Herz freute sich an aller meiner Mühe, und das war mein Teil von aller meiner Mühe. Als ich aber hinblickte auf alle meine Werke, die meine Hände gewirkt, und auf die Mühe, die ich aufgewandt hatte, sie auszuführen, da befand sich: alles war eitel und Streben nach Wind, und es gibt keinen Gewinn unter der Sonne.“13 |
Die Verwüstungen durch unsere Kultur im Namen von Sicherheit, Bequemlichkeit und Kontrolle haben unsagbares Leid in der Welt geschaffen – ohne guten Grund. Nicht nur ist das Leben auf dem Höhepunkt des Erfolges schändlich seiner Vertrautheit, Gemeinschaftlichkeit, Authentizität und Bedeutung entleert, auch Sicherheit und Kontrolle, für welche sie geopfert wurden, sind ein Schwindel. Zum Zwecke der Sicherheit haben wir das wahre Leben eingestellt, während wir im Gegenzug nicht einmal Sicherheit erhalten haben, sondern nur dessen vorrübergehenden Anschein.
Stell dir vor, wie albern unsere Sicherheitsbestrebungen aussehen werden, wenn eines Tages die multiplen Krisen, welche die Herrschaft der Vergegenständlichung und Kontrolle erzeugte, zusammenfließen, um uns zu verschlingen. Wie armselig, wie aussichtslos sind dann unsere Schlösser und Tore, Versicherungen und Investitionen, Lebensläufe und Fachkenntnisse, wenn der Einbruch persönlichen Unglücks die Illusion von Kontrolle Lügen straft. Um so mehr, als die kollektiven, globalen Katastrophen bereits in unserer Zukunft festgeschrieben sind.
Um die Welle der Zerstörung umzukehren, die unseren lebendigen Planeten, unsere Gemeinschaften und unsere Seelen verschlungen hat, wird es nicht genügen, sich um mehr Nettigkeit zu bemühen. Religionen haben uns über Jahrtausende zu diesem Unternehmen angehalten. Es hat nicht funktioniert. Jedoch folgern Religion und konventionelle, kontrollbasierte Moral, dass wir es noch intensiver versuchen müssten – wir sollen noch mehr von dem tun, was nicht funktioniert hat. Wenn das die einzige Lösung wäre, wären das wahrlich schlechte Nachrichten; dann wäre die Verzweiflung so vieler Aktivisten gerechtfertigt. Selbst wenn größere Bemühungen Erfolg hätten, wären wir auf ewig zum Bemühen, zum Kämpfen verdammt. Sind Friede, Nachhaltigkeit und Güte, für den Einzelnen wie auch für die Welt, nur durch den unendlichen Kampf gegen uns selbst möglich?
Dieses Buch schlägt einen anderen Weg vor: eine Bewusstseinsänderung, welche unser Selbstverständnis erweitert und dadurch unsere Eigennützigkeit in eine heilende Kraft verwandelt. Das Problem ist nicht Eigennutz, sondern dass wir das Selbst missverstehen. Wir müssen keine übermenschliche Kraft zum Bau eines himmelhohen Turms aufwenden. Der Himmel befindet sich bereits um uns herum.
7 Dieses Zitat wird üblicherweise Dostojewski zugeschrieben. Zwar vertritt David Cortesi die Ansicht (http://www.infidels.org/library/modern/features/2000/cortesi1.html), dass diese Worte nicht, wie oft behauptet, in Die Brüder Karamasow auftauchen, und auch ich habe andere Versionen des Satzes gesehen, doch vielleicht ist es eine Frage der Übersetzung. Die grundsätzliche Aussage trifft jedenfalls zu.
8 Dieses Zitat findet man überall im Internet. Ich habe es allerdings nicht geschafft, es in Kolumbus’ Tagebuch aufzuspüren, das üblicherweise als Quelle zitiert wird.
9 Siehe Mauss, Marcel, The Gift, W.W. Norton & Company, 2000 (dt.: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, 1990, ISBN 978-3518283431, Erstveröffentlichung 1923/4 in Französisch).
10 Posner, Richard. Ä Theory of Primitive Society, With Special Reference to Law”, Journal of Law and Economics, April 1980.
11 Jensen, Derrick, A Language Older than Words, Chelsea Green, 2004. S. 212.
12 Mumford, Lewis, The Myth of the Machine: Technics and Human Development, Secker & Warburg, 1967. S. 206 (dt.: Der Mythos der Maschine, 1974).
13 Prediger 2:8-11.
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