Der Aufstieg der Menschheit von Charles Eisenstein

Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters

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Inhaltsverzeichnis:


Leben und Tod

Vom Standpunkt des getrennten Selbst wäre der Triumph über den Tod der ultimative Sieg des Technologischen Programms. In der einen oder anderen Form treibt dieses Ziel alle unsere Bemühungen zu dominieren, zu akkumulieren und zu kontrollieren. Es existiert in abgeschwächter Form im Streben nach Sicherheit; es ist fest verwoben mit unserer Ideologie des Wettbewerbs und des Überlebens des Stärkeren. Doch trotz anderslautender Propaganda haben Jahrtausende der Kontrolle den Tod nicht in Schach halten können; die vorherrschenden Todesursachen haben sich verändert, aber nicht seine Unvermeidlichkeit (und nicht annähernd so sehr die menschliche Lebensspanne, wie wir gerne glauben mögen)14. Wir Menschen werden geboren, wir leben und wir sterben – wie seit eh und je.

Da wir es nicht geschafft haben, den Tod zu überwinden, versuchen wir ihn stattdessen zu verleugnen, indem wir ihn verstecken und vorgeben, er finde nicht statt. In höflicher Gesellschaft verleugnen wir ihn mit Euphemismen. In den meisten Kindergeschichten der letzten fünfzig Jahre erwähnen wir ihn einfach nie (im Gegensatz zu den Märchen von einst)15. In unseren Beerdigungspraktiken verleugnen wir den Tod, wir verwenden Kosmetik und Einbalsamierung, wir erhalten Körper über Jahrhunderte in bleibeschlagenen Särgen. Wir verstecken unsere Kranken und Sterbenden auf Intensivpflegestationen, während wir sie aufwendigen medizinischen Ritualen unterziehen, nur damit wir um jeden Preis ein paar Stunden länger leben. Wir kaufen verpackte Lebensmittel, um die Tatsache zu verschleiern, dass ein Tier oder eine Pflanze sterben musste. In unserer Religion verleugnen wir den Tod durch verschiedene Auffassungen vom Leben danach16. Während unseres Lebens verfolgen wir Ziele und Ambitionen, die schlicht keinen Sinn ergeben, wenn wir das Faktum unseres Todes einbeziehen. Und in unseren wissenschaftlichen Fantasien stellen wir uns vor, dass wir eines Tages den Tod durch Nanotechnologie, Gentechnik, Cyborg-Technik oder Computer überwinden können.

Wir sind so erfolgreich beim Verstecken des Todes, dass viele Leute aufwachsen, ohne je einen Toten gesehen zu haben, was sicher eine beispiellose Erscheinung auf dem Planeten Erde darstellt. Dank unserer kleinmütigen Geschichten, höflichen Euphemismen und versteckten Leichen mag es aus Sicht eines Kindes so erscheinen, als existiere der Tod überhaupt nicht, ein Eindruck, der auf merkwürdige Weise zu der allgegenwärtigen Gewalt in Zeichentrickfilmen passt, in denen jemand von einem 10-Tonnen-Tresor oder einer Bombe getroffen wird und ohne dauerhaften Schaden weiter lebt. Es passt außerdem seltsam zur überzeichneten, tödlichen Gewalt erwachsener Fernseh- und Kinofilme, in denen das scharenweise Töten von Bösewichten von beinah allem bereinigt ist, was den Tod zum Tod macht.

Warum unsere Kultur die Verleugnung des Todes für notwendig erachtet, liegt daran, dass der Tod die Ansichten unseres engstirnig konzipierten Selbst Lügen straft. Das Nachdenken und die verinnerlichte Kenntnis über den Tod enthüllen die Unwirklichkeit bzw. die bedingte Wirklichkeit des für sich allein stehenden, getrennten Selbstes. Weil das Selbst, welches wir als unsere Körper, unseren Namen, unser Wissen, unsere Besitztümer, unser Selbstbild und unsere Geschichten definieren – Alan Watts’ „hautumhüllte Egos“ - nicht existiert hat, bevor wir geboren wurden, und weil es enden wird, wenn wir sterben, ist das Selbst unwirklich, nicht von Dauer; damit ist gleichermaßen der Dualismus von Selbst und Umwelt unwirklich. Es ist kein Zufall, dass jede spirituelle Tradition, die mir bekannt ist, Praktiken des Nachdenkens über den Tod besitzt. Die enge Berührung mit dem Tod verändert einen auch deshalb so stark, weil man aufhört, sich über triviale Angelegenheiten des Lebens zu sorgen und im Bewusstsein wandelt, dass „nur Liebe real ist“, wie ein Nahtod-Überlebender es ausgedrückt hat. Wenn der Tod den vorübergehenden Charakter und die bedingte Wirklichkeit des uns geläufigen Selbst entlarvt, ergibt keines der Verhaltensmuster um seine Erhöhung mehr Sinn. Die Gesellschaft, wie wir sie kennen, baut auf diese Verhaltensmuster auf; daher ihr Bedürfnis, den Tod zu verhüllen, zu verstecken und zu verleugnen.

Weil sie mit der Leugnung unseres wahren Selbst einhergeht, ist unsere Verleugnung des Todes auch gleichermaßen eine Verleugnung des Lebens, und die Distanzierung vom Tod eine Distanzierung vom Leben. Tod durchlöchert die Illusion vom Selbst (wie wir es wahrnehmen) und zerreißt auf der psychischen Ebene das Gewebe der modernen Welt; deshalb die kulturelle Notwendigkeit der Leugnung. Wann werden wir aufhören, den Tod zu leugnen? Vielleicht erst, wenn wir nicht mehr können; wenn er so machtvoll in unser Leben eindringt, dass die alten Illusionen nicht länger aufrecht erhalten werden können. Während sich der Zerfall der sozialen, ökologischen und physiologischen Grundmauern der Gesundheit beschleunigt, gewinnt dieses Eindringen an Kraft und Allgegenwart. Auf persönlicher Ebene wird es sich als die Erkenntnis äußern, dass das Leben, das wir gelebt haben, schlicht keinen Sinn ergibt und so nicht weiter gehen kann. Auf kollektiver Ebene ist diese Erkenntnis genau jene der „Nicht-Nachhaltigkeit“ der modernen Gesellschaft, von der Umweltaktivisten ständig reden. So wie eine Person häufig sehr, sehr krank werden oder eine intime Erfahrung mit dem Tod machen muss, um zum Leben aufzuwachen, so ist es möglicherweise nötig, dass selbes auf planetarischer Ebene geschehen muss, bevor wir als Spezies aus der Betrügerei unserer dualistischen Auffassung von uns selbst als von der Natur getrennten Wesen erwachen. Wenn unser kollektives Überleben auf dramatische Weise, unleugbar und unmittelbar in Gefahr ist, erst dann wird unser gegenwärtiges kollektives Verhalten und Verhältnis zu allem anderen Leben aufhören, Sinn zu ergeben.

Kulturen, die von den Mythen der Trennung weniger versklavt sind, fürchten auch den Tod weniger und sehen ihn nicht als Ende, sondern als eine Rückkehr. Unsere Angst vor dem Tod ist ein Produkt des selben linearen Denkens, das Zinsgeld und allen anderen Äußerungen des Feuer-Zeitalters zugrunde liegt. Sie würde niemand mit einem zyklischen Weltbild, welches der Geschenkwirtschaft zugrunde liegt, in den Sinn kommen. Indem wir geboren werden sind wir alle Durchreisende im Spiel der Getrenntheit, doch wenige vor uns sind so tief eingedrungen, bis sie die Ganzheit vergessen haben, aus der sie kamen. Beinahe. Wir haben nicht vergessen – können nie vergessen – was wir sind; es bleibt als Aufwühlung im Herzen, die für immer andauert, bis die Welt unter Kontrolle, die Welt des abgetrennten Selbst, ihren Halt verliert. Unsere Verbundenheit mit allem, ausgeschlossen aus der Erfahrung der meisten Erwachsenen, manifestiert sich als ein Verlangen, als ein Mitfühlen mit anderen Lebewesen und sogar unbeseelten Objekten.

Bezeichnenderweise betrachten die meisten Psychologen es als eine leicht krankhafte Regung, menschliche Eigenschaften auf ein unbelebtes Objekt zu übertragen; sogar Tiere und Pflanzen statten wir mit einem geringeren Daseinsgrad als uns selbst aus. (Da sie nicht denken, haben sie – nach Descartes – weniger Sein.) Ich sehe diesen Hang zur Identifikation mit dem Anderen weniger als Geisteskrankheit denn als flüchtigen Einblick in eine grundlegende Wahrheit an; nur weil sie die von uns angenommene Getrenntheit bestreitet, tun wir sie als irrational ab. Natürlich ist sich verlieben, aufgrund derselben Prämisse, ebenfalls irrational. Aus welchem Grund sorgt man sich um irgend jemand? Warum sollte ich um den Nutzen eines anderen bemüht sein? Was ist da für mich drin? Liebe (und jede Form von Mitgefühl) untergräbt die Mauern der Trennung. So sehr wir es auch im Sinne eines biologischen Imperativs wegzuerklären versuchen, so weiß doch jeder, der einmal geliebt hat, dass da mehr ist als ein Fortpflanzungstrieb oder ein unbewusster Tauschhandel gegenseitiger Hilfe. Ekstase und Glückseligkeit, welche Liebende in völligem Rausch durchdringen, geben Aufschluss über die zugrundeliegende Freude, die unserem wahrhaftigen Zustand der Einheit innewohnt. Indem Liebe die Grenzen zwischen mir und dir niederreißt, verbindet sie uns mit diesem Zustand. Sie ist unsere Rettungsleine zur geistigen Gesundheit, zur Gesamtheit dessen was wir sind. (Das ist auch eine ziemlich gute Definition von Christus, eine Gleichheit, welche die frühen Kirchenväter in ihren erleuchteteren Momenten begriffen.) Liebe errettet uns von unserem beschränkten Ego-Selbst, reißt die Festung unserer Trennung ein, befreit uns aus der unvermeidlichen Hölle, die unsere Kontrollsucht erschafft.

Wie schon viele Dichter und Mystiker bemerkt haben, sind Liebe und Tod eng verwandt. Beide enthalten eine Auflösung der Grenzen des Selbst. Auf individueller Ebene ist die Auflösung eine gefühlte Erkenntnis: „Du und ich sind in Wahrheit nicht getrennt.“ Auf kollektiver Ebene ist es die Erkenntnis, dass Menschen nicht von der Natur getrennt sind. Dass wir uns wieder in die Welt verlieben werden, ist eine weitere Sichtweise auf die Bewusstseinsänderung, die dieses Buch verkündet.

Die kollektive Bewusstwerdung der Einheit von Mensch und Natur sagt uns: „Was wir der Welt tun, tun wir uns selbst“ – ein Konzept, das ich als „ökologisches Karma“ bezeichnen möchte. Das geht über Verbundenheit oder die pragmatische Erkenntnis, dass wir „auf die Natur angewiesen“ sind, hinaus. Der Mensch-Natur-Dualismus legt nahe, dass wir die Konsequenzen unserer Plünderungen vermeiden und ihre Kosten und ihren Nutzen bewältigen können. Wir können uns entscheiden, diesen Wald abzuholzen und jenen Berg abzutragen, denn gemäß unserer rationalen Berechnungen sind sie weniger wichtig als andere; sie sind keine „kritischen Ökosysteme“. Wir brauchen sie in Wahrheit nicht. Ihr Wert ist relativ. Wir glauben, wir können einige erhalten und andere zerstören, solange wir die Auswirkungen, Kosten und Nutzen, vorsichtig genug abwägen. Im Gegensatz dazu sagt uns die Einsicht in ökologisches Karma, dass wir die Auswirkungen unserer Handlungen niemals regeln oder vermeiden können; dass jede Schädigung der Gesundheit und Schönheit des Planeten im gleichen Zug unsere eigene Gesundheit und die Schönheit unseres eigenen Lebens mindert, und zwar unausweichlich. Sie sagt uns außerdem, dass die Gesetze der Natur keine Ausnahme für Menschen machen.

Die neue Vorstellung vom persönlichen und kollektiven Selbst, das aus dem Zusammenbruch des gegenwärtigen geboren werden wird, wird deshalb ziemlich andersartige Technologie, Ökonomie, Medizin und Lebensweisen mit sich bringen, die Schönheit zu erschaffen versuchen und sich selbst nach dem Vorbild natürlicher Prozesse formen werden. Es ist weniger eine „Rückkehr zur Natur“ als eine Rückkehr der Natur zu uns, eine Wiederherstellung von Natur, ein Wiederverbinden mit der Natur. Natürlich hat uns die Natur nie verlassen; alles was wir sind ist in einem gewissen Sinn natürlich. Nur weil wir uns vom Gegenteil überzeugt haben, ist das Leben so sehr aus dem Gleichgewicht geraten. Unsere gegenwärtigen Versuche, den Tod zu verleugnen, den Tod zu erobern, das Leben künstlich mit mechanischen Mitteln und um jeden Preis zu verlängern, vergrößern nur unsere Angst vor dem Tod und verstärken unseren Trennungswahn. Sie geben vor, die Natur stelle Menschen von ihren Gesetzen frei, dass wir von den Zyklen von Geburt, Tod und Verfall ausgenommen seien. Und Angst vor dem Tod ist wirklich Angst vor dem Leben, welches sich um Wachstum, Wandel und Verwandlung dreht, ein ständiges Sterben des Alten und Gebären des Neuen, Jahreszeit um Jahreszeit und Augenblick um Augenblick.

Den Tod zu verleugnen, heißt, das Leben zu verleugnen. Denke an die gottgleichen Ideale, die wir anstreben, die ewige Jugend, Schönheit, Muße und übernatürlichen Kräfte der olympischen Götter. Ewige Jugend ist eine Art ewiger Tod, eine Stasis, die mehr einer einbalsamierten ägyptischen Mumie ähnelt als einem Lebewesen (ägyptisches Einbalsamieren zielte schließlich auf die Erhaltung des ewigen Lebens des Pharao ab). „Der Tatsache des Alterns zu verabscheuen, heißt nicht nur, das Leben zu verabscheuen, sondern verrät ein bedauernswertes Unwissen über die Natur des Lebens... Jugend ist kein Zustand, den man konserviert, sondern einer, den man überwindet.“17

Das Regime der Kontrolle, das den Tod verleugnet, hält uns auch vom Leben ab, und zwar sowohl indem es uns aus Sicherheitsgründen davon abhält, es voll auszuleben, als auch, indem es uns sogar von der Möglichkeit des vollen Auslebens abschneidet, weil es die Welt zu einem Anderen macht. Kontrolle ist im Grunde ein Kampf gegen die Welt. Medizinische Eingriffe triumphieren über die Natur, wenn sie den natürlichen Sterbeprozess unterbrechen und verleugnen, wie auch der Hausputz die Wanderung von Schmutz – der im wörtlichen Sinn die Welt ist – umkehrt.

Die perfekte Beherrschung der Natur, verkörpert in den oben genannten olympischen Idealen, ist sogar in seiner eher praktischen Verkörperung als sicheres, geordnetes Leben des modernen Erwachsenen lebensverleugnend. Thomas Hanna drückt das so aus:

„Einer der Mythen des Alterns lautet, dass wir nicht mehr alles tun können wie früher. Tatsache ist aber, dass wir aufhören all die Dinge zu tun, die wir einmal getan haben. Wenn unsere Suche nach einer Berufung in einem festen „Beruf“ endet, wenn unsere Suche nach einem Partner in einer Ehe endet, wenn unsere vielen Erwartungen in einer begrenzten Zahl von Befriedigungen enden, wenn unsere Bestrebungen in festen Sicherheiten enden und wenn unsere große Bandbreite von Bewegungsmöglichkeiten in einem engen Rahmen gewohnheitsmäßiger Bewegungen enden, werden wir unweigerlich in weniger Richtungen schauen und gehen. Wenn die Möglichkeiten in unserem Leben durchgesehen, verworfen und schließlich auf einen Tagesablauf von Gegebenheiten zurechtgestutzt werden, schränken sich unsere Lebensfunktionen ein und spezialisieren sich.
Das anerkannte persönliche Ziel des „Erwachsenseins“ ist, so scheint es, beständig zu werden und Sicherheit zu erringen, ein festes Lebensmuster zu erhalten, das es uns erlaubt, der Unsicherheit der Freiheit und der Ungewissheit neuer Bestrebungen zu entrinnen. In dem Grad, wie einzelne Menschen zu dem akzeptierten Glauben verführt werden, dass persönliche Erfüllung eine gesetzte, sichere und begrenzte Lebensweise bedeutet, im selben Grad passen sich die Funktionen des lebenden Körpers an, werden einfacher, geradliniger und starrer.“18

Das vollversicherte, 100% garantierte Leben, das unsere Institutionen auf dem Weg über die Medien, die Schulen und häufig unsere Eltern nahelegen, vorab zur Minimierung von Unwägbarkeiten entworfen, ist überhaupt kein Leben. Darüber hinaus ist das Leben, trotz aller Anstrengungen, seine Unwägbarkeiten klein zu halten, fundamental unsicher und unkontrollierbar. Jeder spürt auf einer gewissen Ebene, dass unsere Lebensbewältigung aus wenig mehr als Vorspiegelung besteht, mit der wir uns Dauerhaftigkeit und Stabilität vorgaukeln, die es nicht gibt. In diesem gigantischen Täuschspiel simulieren wir den Glauben an die Normalität modernen Lebens, aber keiner glaubt wirklich daran; daher rührt das universelle Gefühl der Künstlichkeit, Leere und Nichtigkeit, welches der Erwachsenenwelt zugrunde liegt. Lieber Leser, hast du je den Eindruck gehabt, dass du ein Kind bist, das einen Erwachsenen spielt? Wenn wir die Rollen von verantwortlichen, rechtschaffenen, zivilisierten Erwachsenen spielen, simulieren wir lediglich, nur dass wir uns in der Täuschung verloren haben. Tröste dich: Es kann nicht ewig andauern. Wir alle werden eines Tages erleben, wie das wahre Leben durch die scheinbar sicheren Strukturen unseres Lebens und des Selbst schlägt. Wenn das passiert, denken wir oft: „Wie konnte das passieren?“ oder „Das kann nicht sein“ oder „Das ist etwas, von dem ich dachte, dass es nur anderen widerfährt.“

Noch schlimmer als die Auflösung des geordneten, stabilen, dauerhaft erscheinenden Lebens „unter Kontrolle“ ist es, wenn es reibungslos voranschreitet, bis Zeit und Jugend verbraucht sind. Das ist die wahre Katastrophe, und zwar nicht nur wegen der Verzweiflung im Alter, wenn wir herausfinden, dass wir nicht richtig gelebt haben. Von Anfang an ist da dieses Gefühl, ein Leben zu führen, das jemand anders geplant hat, ein Leben, das in Wirklichkeit nicht dein eigenes ist. Meine Studenten berichten manchmal, sie fühlten sich in dem Leben gefangen, das ihre Eltern und die Gesellschaft insgesamt von ihnen erwarteten; sie sind sich der theoretischen Möglichkeit bewusst, ihr Hauptfach gegen etwas „Unpraktisches“ einzutauschen oder die Schule zu beenden und die Welt zu bereisen, eine Auszeit zu nehmen um sich selbst zu finden, aber sie bringen nicht die Dreistigkeit für einen solchen Schritt auf. „Meine Eltern würden mich umbringen“, sagen sie: eine sehr bezeichnende Aussage für die darin verschlüsselte Überlebensangst. Natürlich besitzen ihre Eltern nicht die Macht, sie aufzuhalten, aber sie haben bereits die Stimme der Autorität verinnerlicht, so dass das, was für ihre Eltern unannehmbar ist, auch für sie selbst unannehmbar geworden ist. Damit sind sie voll sozialisiert, voll domestiziert, abgesehen von einem unterdrückten Verlangen, einer eingesperrten und eingezäunten Wildheit, die in Form von Gewalt – verleugneter Sehnsucht – explodieren kann und wird, wann immer die Selbstbeherrschung nachlässt oder wenn ungewöhnliche äußere Umstände vorübergehend Erleichterung verschaffen.

Aversion gegen den Tod und Aversion gegen die Ungewissheit im Leben gehen aus der selben grundlegenden Weltanschauung hervor. In der Tat, wenn Unsicherheit den Untergang des Vertrauten bedeutet, dann ist der Tod die größte Verunsicherung, der jeder von uns begegnet ist, seit wir den Mutterleib verlassen haben. Beide haben mit Loslassen zu tun, Loslassen bisher festgefügter Kategorien, mit denen wir definieren, wer wir sind. Eine neue Arbeit, eine neue Beziehung, ein neues Leben. Wir können strengere Sicherheitsvorkehrungen einführen, um solche Geschehnisse abzuwenden und uns verzweifelt an das Vertraute klammern – das Leben und das Selbst – aber nur mit steigenden Kosten.

Egal welches System man in einem Zustand fern vom Wilden hält, es verlangt ständigen Kraftaufwand. In The Yoga of Eating benutze ich als Metapher einen Parkplatz:

„Nicht nur der Körper, alle Dinge der Natur bewegen sich natürlicherweise hin zu Schönheit und Ganzheit, wenn man sie ungestört lässt. Wenn du ihn nicht mehr alle paar Jahre neu pflasterst, wird ein hässlicher Parkplatz aufbrechen, Gras wird wachsen, und nach vielleicht 100 Jahren hast du wahrscheinlich einen schönen Wald. Mit deinem Körper ist es das selbe. Hör auf, ihn mit künstlichen Daseinsformen „neu zu pflastern“, hör auf, jemand anderes sein zu wollen, als wer du bist, und er wird sich auf seinen natürlichen Zustand von Gesundheit und Schönheit zubewegen. Das geschieht früher als du denkst. Warum ist Ruhe sonst so heilsam? Hast du je bemerkt, wie schön eine schlafende Person aussieht?“

Das Gegenteil von Kontrolle ist es, die Dinge loszulassen, der Natur ihren Lauf zu lassen. In der Vorstadt erhalten wir die Kontrolle durch Unkrautvernichter, Rasen Mähen, Jäten von Blumenbeeten und das Zurückschneiden von Büschen, so dass unser Rasen gepflegt und ordentlich bleibt; unterlasse alle diese Tätigkeiten und das Land wird allmählich in seinen wilden Zustand zurückkehren. Den manikürten Rasen in einem Zustand zu halten, der als schön gilt, verlangt Anstrengung, weshalb eine Person mit einem ungepflegten Rasen als faul angesehen wird. Ein ähnlicher Aufwand wird nötig, ein Haus sauber zu halten, indem man buchstäblich die Welt draußen hält. Wenn du dir deinen natürlichen Geruch vom Leib halten willst, musst du regelmäßig baden und verschiedene Parfums und Deos auftragen. Wenn du dich selbst so lang wie du willst schlafen lässt, dann wirst du zu spät zur Arbeit kommen. Wenn du nicht auf die Zeit acht gibst, kannst du deinen festgesetzten Pflichten nicht nachkommen

In keinem dieser Bereiche verzichtet eine zivilisierte Person auf Kontrolle. Die Kultur sagt uns, dass es ins Desaster führen würde, zu einer raschen Auflösung des Gewebes, das unser sicheres, bequemes modernes Leben ausmacht. Dieser Glaube spiegelt exakt das Denken rund um die Erbsünde, die nach Selbstbeherrschung verlangt, damit unsere liederliche, verdorbene Natur nicht verheerende Schäden an der Welt und anderen anrichtet. Die Welt muss unter Kontrolle gehalten werden. Das moderne Leben, ausgedrückt in der stetig wachsenden Kontrolle der Welt, wie sich Technologie definiert, verlangt daher nach stetig wachsender Anstrengung zur Aufrechterhaltung der Kontrolle – genauere Einteilung der Zeit, weniger Ruhe, mehr Multitasking, sich mehr auf technologische Hilfen wie Handys und Planer verlassen, um effizienter zu werden. Der Erfolgsmensch hat alles unter Kontrolle. Er verwaltet seine Zeit und jongliert mit seinen Verantwortlichkeiten. Er bekommt das alles hin.

Je stärker die Kontrolle desto größer wird die zu ihrer Aufrechterhaltung benötigte Anstrengung. Denk an die eiserne Disziplin des Magersüchtigen, das unaufhörliche Händewaschen des Keimphobikers, das tägliche Schrubben und Polieren des Putzwütigen. Wie man heute weiß, kompensieren der Magersüchtige oder der Putzwütige die an anderer Stelle verlorene Autonomie in einem problemlos kontrollierbaren Bereich. Wir normalen Bewohner der zivilisierten Gesellschaft sind da nicht anders. Unseren oberflächlichen Kontrollstrukturen liegt derselbe Autonomieverlust zugrunde: ein halbbewusstes Gefühl, dass das Leben nicht unser eigenes ist. Da ist eine Furcht, eine Vorahnung, ein Gefühl, dass das wichtigste im Leben – und in der Tat das Leben selbst – betrogen worden ist. Im Streben nach Sicherheit haben wir das Unbegrenzte – die grenzenlosen Möglichkeiten des Lebens – gegen das Begrenzte eingetauscht: das Vorhersagbare und Sichere.

Dies ist dieselbe Schmälerung des Lebens, wie sie auch in der symbolischen Kultur, der Zähmung, Etikettierung und Nummerierung der Welt innewohnt, der maschinellen Standardisierung und dem reduktionistischen Programm der Wissenschaftlichen Revolution. Das Endergebnis konnte kein anderes sein, als die angestrengte Anwendung des Technologischen Programms auf alle Aspekte der Existenz.

Der Aufstieg der Kontrolle ist eine Antwort auf die Reduzierung des Selbst auf ein getrenntes, einsames und ängstliches Ego. Sie nimmt viele Formen an, diese Todesfurcht, die unsere Bemühungen zur Kontrolle der Welt und zur Ausweitung der Herrschaft von Mir und Mein antreibt. Wenn wir beginnen, das Leben als etwas anderes als ein Nullsummenspiel zu betrachten, in dem mein Gewinn dein Verlust ist, dann verliert der Kampf gegen die Welt seinen Antrieb; und anstatt das Leben zu kontrollieren, lassen wir es herein. Die Logik ist ziemlich simpel: Wenn das Andere nichts anderes ist, dann heißt gut zum Anderen zu sein, gut zu sich selbst zu sein. Der Perspektivwechsel enthält die logische Konsequenz, dass die Welt nicht grundsätzlich feindselig ist. Der Schmutz wird dich nicht verletzen. Ein Kind, das sich noch nicht kulturell angepasst hat, fürchtet sich nicht, schmutzig zu werden. Um Kinder zu zivilisieren, um sie für die Welt der Kontrolle, in der wir leben, zu rekrutieren, ist es daher notwendig, sie von der unermesslichen Weite ihres Gesamtwesens zu trennen und ihnen Angst zu machen. Was muss geschehen, um unsere angeborene Wildheit zu zähmen? Wie wurde meine Ganzheitlichkeit beschädigt? Wenn wir dies beantworten können, dann werden wir vielleicht wissen, wie wir sie zurück erhalten.

14 Die menschliche Lebensspanne wurde in Kapitel I angesprochen. Obwohl es wahr ist, dass die Lebensspanne in klassischer und mittelalterlicher Zeit viel kürzer war als heute, ging ein Gutteil der Mortalität auf das Konto der Zivilisation selbst: Seuchen, Hunger, Krieg etc. Entlegene Agrar- und Sammlergesellschaften haben wesentlich längere Lebensspannen.

15 Hier sind ein paar Endungen von Kindergeschichten aus Grimms Märchen: Rumpelstilzchen: „Dann packte es in seiner Wut den linken Fuß mit beiden Händen und riss sich selbst mitten entzwei.“ Aschenputtel: „Als die Brautleute nun zur Kirche gingen, war die älteste zur rechten, die jüngste zur linken Seite: da pickten die Tauben einer jeden das eine Auge aus. Hernach, als sie herausgingen, war die älteste zur linken und die jüngste zur rechten: da pickten die Tauben einer jeden das andere Auge aus. Und waren sie also für ihre Bosheit und Falschheit mit Blindheit auf ihr Lebtag bestraft.“, und Schneewittchen: „Aber es waren schon eiserne Pantoffel über Kohlenfeuer gestellt und wurden mit Zangen hereingetragen und vor sie [die Königin] hingestellt. Da mußte sie in die rotglühenden Schuhe treten und so lange tanzen, bis sie tot zur Erde fiel.“ Kleiner Unterschied zur Disney-Version!

16 Ich will hier nicht das Konzept des Lebens nach dem Tod verwerfen. Es geht nur darum, dass wir in unsere Auffassungen davon dasselbe Fehlverständnis und dieselben Fehldefinitionen vom Selbst hineinschmuggeln, die wir auch auf unser gegenwärtiges Dasein anwenden.

17 Thomas Hanna, Somatics: Reawakening the Mind’s Control of Movement, Flexibility, and Health. (S. 90)

18 Thomas Hanna, The Body of Life: Creating New Pathways for Sensory Awareness and Fluid Movement. (S. 58f.)

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1998-2011 Charles Eisenstein