Der Aufstieg der Menschheit von Charles Eisenstein
Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters
Schule ist die billigste Polizei. |
Doch wer kann all die Fakten entlernen, die ich gelernt habe |
Keine Abhandlung über Kontrolle wäre vollständig ohne einen Blick auf das moderne Schulwesen, den Dreh- und Angelpunkt des Programms zur Unterjochung der inneren Wildheit – der menschlichen Natur – entsprechend dem Gebrauch von Technologie zur Beherrschung des Außen.
Warum gehen wir zur Schule? Die allgemeine Antwort ist, „Um zu lernen“, und dabei begegnen wir dem ersten Widerspruch des modernen Schulwesens, der uns zu allen weiteren führt. Denn wenn der Zweck der Schule sein soll, dass Kinder lernen können, dann funktioniert Schule ganz offensichtlich nicht.
Der großangelegte National Adult Literacy Survey (dt.: Nationale Erhebung zur Lese- und Schreibfähigkeit bei Erwachsenen in den USA), den das Bildungsministerium 1992 durchgeführt hat, ist besonders aufschlussreich; daher werde ich John Gattos Zusammenfassung zur Gänze zitieren:
Nun, vielleicht kann man da nichts machen; vielleicht sind die meisten Leute einfach dumm. In diesem Fall nimmt die Schule einen wohlwollenden, sogar großzügigen Standpunkt ein, sie vermittelt den umnachteten Massen, die auf sich selbst und das wohlmeinende Wegsehen ihrer Eltern gestellt mit Sicherheit unfähig für ein Leben in der technologischen Gesellschaft wären, mit Hilfe von Psychologie und Pädagogik wenigstens einen Schimmer von Wissen und Bildung. Immerhin müssen wir heute, anders als vor 200 Jahren, lesen, rechnen... Computer benutzen. Sicher gibt es einige Probleme, aber im Allgemeinen bringt die Schule jeden auf die Ebene geistiger Fähigkeiten, welche seine Gene und die Umwelt erlauben. Stimmt’s?
Falsch. Im Lauf der letzten 60 Jahre hat sich das Ausgabevolumen für Bildung nahezu vervierfacht, aber gleichzeitig hat sich auch Analphabetismus vervierfacht. Nur wenige Schwarze gingen vor 1940 zur Schule; trotzdem lag ihre Lese- und Schreibfertigkeit bei 80%; heute bewegt sie sich um die 60%. Analphabetismus unter Weißen ist mittlerweile von 4 auf 17% gestiegen.24
1840, vor Einführung der Schulpflicht, erreichte die Alphabetisierungsrate in Neu-England 100% und unter den populären Bestsellern jener Zeit befanden sich Bücher von Herman Melville, James Fenimore Cooper und Ralph Waldo Emerson – die alle von einer Bevölkerung gekauft worden sind, die zumeist aus Kleinbauern bestand. Hast du dich je zu einem entspannten Abend mit ein bisschen gemütlichem Lesen hingesetzt – einem 30 Seiten langen Emerson-Essay voller Anspielungen auf griechische Mythologie, komplexen Konstruktionen mit mehrfach verschachtelten Neben- und Relativsätzen, verzwickter Logik und einem Vokabular, das für die meisten Hochschulstudenten heute eine Herausforderung wäre? Ich stelle fest, dass ich Literatur des frühen 19. Jahrhunderts nur mit großer Konzentrationsanstrengung erfassen kann. Meine Aufmerksamkeit schweift ab, ich verliere den logischen Faden und bald entdecke ich, dass meine Augäpfel ohne Verständnis über die Seite wandern.
John Taylor Gatto bemerkt: „1882 lasen Fünftklässler folgende Autoren in ihrem Appleton School Reader [Schulbuch]: William Shakespeare, Henry Thoreau, George Washington, Sir Walter Scott, Mark Twain, Benjamin Franklin, Oliver Wendell Holmes, John Bunyan, Daniel Webster, Samuel Johnson, Lewis Carroll, Thomas Jefferson, Ralph Waldo Emerson und derer mehr.“ Heute verstehen nicht einmal mehr 20% meiner College-Studenten das Thomas-Jefferson-Zitat aus Kapitel IV dieses Buches. Was die Fünftklässler angeht, so bestehen ihre Texte meist aus kurzen Aussagesätzen mit vereinfachtem Wortschatz. Es gibt gegenwärtig einen Trend zur Neuauflage von Kinderbuchklassikern wie Little Women oder Der Wind in den Weiden in speziellen, stark vereinfachten Ausgaben.25 Wenige Kinder heutzutage haben die Fähigkeit Die Schatzinsel zu bewältigen; und Shakespeares Julius Caesar, einst eine Konstante im Fach Englisch auf der Highschool, wurde aus dem Lehrplan genommen, weil Kinder nicht mehr die Aufmerksamkeitsspanne besitzen, es zu verstehen.26
Das moderne Schulsystem ist ein Misserfolg – oder doch nicht? Das hängt vom wahren Zweck des Schulsystems ab, ein enormes Thema, dem ich nicht annähernd auf diesen Seiten gerecht werden kann. Zum Glück muss ich das auch nicht, dank John Taylor Gattos großartigem Opus The Underground History of American Education, einem Werk ungeheurer Gelehrtheit, unerschrockener Ehrlichkeit, reifer Einsicht und gewaltiger Entrüstung. Ich werde einiges von seinen Einsichten (und seiner Entrüstung) weitergeben, da sie die Kontrollmentalität, die Logik der Newton’schen Weltmaschine, die Liquidation spirituellen Kapitals und schließlich die grundlegende Einstellung unserer Kultur gegenüber Natur und menschlicher Natur so schön illustrieren.
„Unterhalb der oberflächlichen Rechtfertigungen für die allgemeine Schulpflicht liegt die erste Ebene ihres wahren Grundes: eine Bevölkerung zu schaffen, die sich für die Anforderungen der industriellen Ökonomie eignet. (Dass wir uns heute angeblich in einer post-industriellen Ökonomie befinden ist teils ein Grund, warum sogar die Eliten zugeben, dass Schule „nicht mehr funktioniert“.) Schule wie wir sie kennen, wie auch andere Technologieanwendungen und Geisteshaltungen der Massenproduktion, nahmen ihren Anfang in den großen Kohle-Mächten des frühen 19. Jahrhunderts, Preußen, England, Frankreich und dann den USA. Die frühe Industrie hatte ein Problem. Minen- und Fabrikarbeit war langweilig, repetitiv, schwer und gefährlich, während die angebotene Entlohnung kaum hoch genug zum Überleben war. Büroarbeit, die Arbeit von Kaufmännern, Berufsschreibern und Buchhaltern – war gleichermaßen langweilig und entmenschlichend, wenn auch nicht so gefährlich. Fabrikdisziplin war den unabhängigen, selbständigen Bauern und Handwerkern, aus denen die vorindustrielle Gesellschaft bestand fremd und die Frage, wie man Arbeitsdisziplin einflößt, wurde lang und breit von den Intellektuellen jener Tage diskutiert. Eine Lösung war unverblümte Gewalt: die Landbevölkerung per Gerichtsbeschluss vom Grund vertreiben, den Einsatz von Milizen zur Durchsetzung von Streikverboten und meistens das Motiv extremen wirtschaftlichen Drucks. Allerdings beleidigte die Unmenschlichkeit dieser Lösung das Bewusstsein und außerdem war es potentiell sehr brisant, wie eine Reihe von Aufständen, Revolutionen und blutigen Arbeitsstreiks in ganz Europa und Nordamerika bestätigte. Wäre es nicht besser, die Leute von Kindheit an so zu konditionieren, dass sie Arbeit akzeptierten und sogar wünschten, Arbeit, die einseitig, trivial, mechanisch, stumpf, repetitiv und herausforderungsfrei für Denken oder Kreativität ist?“ |
Lässt dich diese Beschreibung schon an Schule denken? Wo lernen nicht aus Neugier entsteht, sondern aufgrund eines herrschaftlichen Programmes; wo Erfolg nach äußerlichen Standards beurteilt wird; wo Menschen wie Objekte nummeriert, klassifiziert und bewertet werden; wo Wissen auf richtige und falsche Antworten reduziert wird; wo Kinder auf ein Klassenzimmer oder einen Tisch beschränkt sind, außer die Autorität erlaubt ihnen eine „Pause“ oder das Hinausgehen; wo Probleme gelöst werden, indem man den Anweisungen des Lehrers folgt; wo Rede- und Versammlungsfreiheit aufgehoben sind – wo es in der Tat keine Freiheiten gibt, sondern nur Privilegien; wo uns Glocken auf das Einhalten fremder Terminpläne trainieren; wo Verbrüderung heimlich geschieht (wie mein Lehrer sagte: „Du bist nicht hier, um soziale Kontakte zu pflegen!“); wo niemand außerhalb der hierarchischen Autoritätsstruktur die Macht hat, Regeln aufzustellen oder zu ändern; wo wir die uns gegebenen Aufgaben annehmen müssen; wo Arbeit abgesehen vom Eintrag äußerlicher Belohnung willkürlich und ohne Bedeutung ist; wo Widerstand sich angesichts einer beinahe allgegenwärtigen, allgewaltigen Zentralautorität als zwecklos erweist... welch bessere Vorbereitung für das Eingesperrtsein als Erwachsener in Büros und Fabriken könnte es geben, welch bessere Vorbereitung für die unhinterfragte Akzeptanz des uns gegebenen Lebens? Wo sonst können Studenten „sich selbst als Angestellte betrachten, die um die Gewogenheit des Managements wetteifern“?27
Die Schule bereitet uns nicht nur auf die Unterordnung gegenüber trivialisierten, erniedrigenden, stumpfsinnigen und unerfüllenden Jobs vor, die in unserer Wirtschaft bis heute vorherrschen, sie bereitet uns nicht nur darauf vor, moderne Produzenten zu sein, sie bereitet uns gleichermaßen darauf vor, moderne Konsumenten zu sein. Nimm Gattos Beschreibung:
„Schulen trainieren Individuen, als Massen zu reagieren. Jungen und Mädchen werden darauf gedrillt, gelangweilt, ängstlich, neidisch, emotional bedürftig und allgemein mangelhaft zu sein. Eine erfolgreiche Massenproduktionswirtschaft verlangt nach dieser Klientel. Eine Wirtschaft der Kleinbetriebe und Kleinbauern wie die der Amish braucht individuelle Kompetenz, Rücksichtnahme, Mitgefühl und allgemeine Teilhabe; unsere braucht ein abgestimmtes Maß an angepassten, geistlosen, ängstlichen, familielosen, freundlosen, gottlosen und gehorsamen Leuten, die glauben, die Unterschiede zwischen Cheers und Seinfeld seien einen Streit wert.“ |
Die Konsumentenrolle ist tief verankert in den Grundlagen des modernen Klassenzimmers. Gatto schreibt: „Schulen erzeugen nationalen Wohlstand, indem sie die persönliche Selbstbestimmung, die Moral und das Familienleben zerstören.“ Diese Dinge sind exakt jenes soziale und spirituelle Kapital, dessen Umwandlung in Geld in Kapitel IV besprochen wurde. Es geht nicht nur darum, dass das gebrochene und betäubte Kind unfähig sein wird, in eigener Sache am Arbeitsplatz aufzustehen oder seiner Rolle als Standard-Rädchen im riesigen Automat der Industriegesellschaft Widerstand zu leisten; es geht darum, dass die Beziehungen selbst und all die mit ihnen verbundenen, bisher noch nicht zu Geld gemachten Tätigkeiten und Austauschprozesse vergegenständlicht, entpersonalisiert und zu Konsumgütern umgeformt werden. Wenn uns die unabhängigen Beziehungen (soziale und spirituelle), die unsere Menschlichkeit ausmachen, weggenommen werden, fangen wir natürlich an, sie zu konsumieren. Wenn selbstbestimmtes Lernen aus Büchern ersetzt wird durch programmierten Unterricht – das bloße Austeilen von Lehrplänen – werden wir von Produzenten zu Konsumenten von Wissen, das auf messbare „Informationen“ eingekocht ist. So flößen wir unseren Kindern nicht nur Gehorsam ein – Sag mir, was ich tun soll – sondern auch intellektuelle Abhängigkeit, das Stützen auf Autorität bei der Suche nach Wahrheit. Was ist der Unterschied zwischen der Wahrheit aus Büchern und der Wahrheit der Lehrer? Bücher zu lesen als Teil der persönlichen Suche nach Wissen, macht einen nicht zum bloßen Konsumenten, denn die Suche ist selbstbestimmt und die Informationen unterliegen unabhängiger, unerzwungener Auswahl und Beurteilung. In Schulen geschieht das exakte Gegenteil: Die Wahrheit – die richtige Antwort – ist von den Autoritäten bereits vorbestimmt und vorbeurteilt und die Lernenden haben sie hinzunehmen – werden gezwungen, sie hinzunehmen (wenigstens in dem Maß, in dem Prüfungen, Noten, Nachsitzen, „Einträge“ usw. effektive Maßnahmen für Lohn und Strafe darstellen).
Mit anderen Worten ist die Schule ein Werkzeug der Entfremdung. Sie entfremdet Kinder von ihren Familien, nicht nur indem sie körperlich herausgetrennt werden, sondern auch indem ein traditionell wichtiger Bereich wechselseitiger Beziehung ersetzt wurde: Erziehung. Es entfremdet Kinder von Gemeinschaften, indem man sie nach Alter trennt, Wettbewerb unter ihnen anspornt, sie vom Erwachsenenleben isoliert und mit einem von weit entfernten Experten entwickelten Lehrplan füttert. (Nach 100 Jahren Verfestigung von Schule und staatlich gesponsorter Lehrplanstandardisierung ist die gemeinschaftszerstörende Funktion der Schule besonders stark.) Sie entfremdet Kinder natürlich auch von der Natur und dem Draußen, einfach indem man sie den ganzen Tag drinnen behält – bis zum letzten Jahrhundert sicherlich ein nie dagewesener Zustand. Sie entfremdet Kinder von wirklicher Erfahrung und ersetzt sie mit Spielen, Simulationen und Lektionen (natürlich nur im Klassenzimmer), in denen ihr gesamtes Tun, ohne echte Folgen bleibt und die sie abbrechen, sobald die Glocke die nächste Stunde einläutet. Aber am wichtigsten ist, dass Schule Kinder von sich selbst entfremdet: natürlicher Neugier, innerem Antrieb, Eigenständigkeit und Selbstvertrauen. Wie Ivan Illich es ausdrückte: „Reiche und Arme gleichermaßen sind auf Schulen und Krankenhäuser angewiesen, die sie durchs Leben führen, ihre Weltsicht formen und für sie festlegen, was recht ist und was nicht. Beide betrachten Selbstverarztung als unverantwortlich, selbständiges Lernen als unzuverlässig und gemeinschaftliche Unternehmungen, sofern nicht von Autoritäten bezahlt, als Form von Aggression oder Subversion. Die Abhängigkeit von institutioneller Behandlung lässt beiden Gruppen unabhängige Leistung suspekt erscheinen.“28
William Torrey Harris, US-Kommissar für Bildung von 1889 bis 1906 schrieb im letzten Jahr seiner Amtszeit:
„99 von 100 Studenten sind Automaten, darauf bedacht, sich auf vorgeschriebenen
Pfaden zu bewegen, darauf bedacht, den vorgeschriebenen Gepflogenheiten zu folgen.
Dies ist kein Zufall, sondern das Ergebnis substantieller Erziehung, d.h., per wissenschaftlicher
Definition, die Einordnung des Individuums. |
Gatto merkt an: „Vor fast 100 Jahren glaubte dieser Schulmensch, dass Selbstentfremdung das Geheimnis der Industriegesellschaft sei. Sicher hatte er recht.“ Diese Entfremdung ist nichts anderes als das Getrenntsein, welches Thema dieses Buches ist, aller Technik innewohnt und zum Gipfel moderner Wissenschaft, Technologie und der Maschine kulminiert.
Diese Eigenschaften des Schulwesens wurden diesem von Anfang an eingebaut, wie ziemlich ausdrücklich festgestellt wird von solch führenden Organisationen wie Rockefellers „General Education Board“:
„In unseren Träumen... ergeben sich die Menschen in vollständiger Fügsamkeit unseren formenden Händen... Wir sollten nicht versuchen, aus diesen Leute oder einem ihrer Kinder Philosophen oder Gelehrte oder Männer der Wissenschaft zu machen. Wir sollten unter ihnen keine Autoren, Ausbilder, Poeten oder Männer des Wortes heranziehen. Wir sollten nicht nach heranwachsenden großen Künstlern, Malern, Musikern oder Anwälten, Doktoren, Priestern, Politikern, Staatsmännern suchen, mit denen wir hinreichend versorgt sind... und sollten sie lehren auf perfekte Art zu erledigen, was ihre Väter und Mütter auf unvollständige Weise tun.“30 |
„Man kann eine Wirtschaft der Massenproduktion weder erschaffen noch erhalten ohne angepasste Bevölkerung; eine, die zu Massengepflogenheiten, Massengeschmack, Massenbegeisterung konditioniert wurde, zu vorhersagbarem Massenverhalten.“31 Die moderne Institution Schule hilft bei der Erschaffung genau jener „menschlichen Natur“, die von der liberalen Wirtschaftstheorie unterstellt wird und deren Verhalten vorhersagbar entsprechend deterministischer Gesetze ist, genau wie bei den Massen der klassischen Physik.
Das Ziel moderner Erziehung ist auf einer tieferen Ebene die Vollendung von Lewis Mumfords Megamaschine – jener große, aus menschlichen Teilen zusammengesetzte Automat – die ihrerseits das ursprüngliche Muster für die Fabrik ablieferte und in der jede Person wie ein Maschinenbestandteil auf eine Standardfunktion reduziert wird. Genau wie technische Maschinen nie gesehenen Wohlstand und Macht über die Umwelt produzierten, so wurde angenommen, dass die an individueller Ganzheit und Selbstbestimmung erbrachten Opfer Kompensation im glorreichen Marsch der Wissenschaft, der Eroberung der Natur finden würde, anders ausgedrückt, in der Erfüllung des Technologischen Programms, das uns jenseits von Arbeit, jenseits von Leid, jenseits von Tod, jenseits des Planeten Erde der letzten Grenze im All entgegenführen würde.
Die Unterordnung des Individuums unter die Bedürfnisse des Systems ist eine Schlüsselkomponente der Ideologie von der „wissenschaftlichen Betriebsführung“; sie ist mit Frederick [Winslow] Taylor verknüpft, geht in ihren Wurzeln jedoch mindestens bis auf Francis Bacon zurück. Bacon glaubte, dass die Menschheit mit der Wissenschaftlichen Methode genau das gefunden hatte, eine „Methode“, die mechanisch angewendet unbegrenzten wissenschaftlichen Fortschritt erzielen würde. Individueller Genius wäre nicht länger vonnöten, lediglich die kompetente und korrekte Anwendung der Methode. John Raulston Saul beschreibt in seinem großartigen Buch Voltaire’s Bastards redegewandt die Entwicklung der Ideologie von Vernunft, Methode und System. Taylor drückt sich so aus: „In der Vergangenheit kam der Mensch zuerst. In der Zukunft muss zuerst das System kommen.“ Gatto merkt an: „Es hat nicht genügt, Körperbewegungen zu vereinheitlichen; der standardisierte Arbeiter ’muss gleichfalls glücklich mit seiner Arbeit sein’, daher müssen auch seine Denkprozesse standardisiert werden.“32 Wenn du mit deiner Arbeit nicht glücklich bist, lässt das auf einen Fehler in deinem Herstellungsprozess (Sozialisation, Erziehung, Ausbildung) schließen; das kann man zum Glück mit Pharmatechnologie wieder einrenken. Der Ausdruck „gut angepasst“ beinhaltet in der Tat die Formung eines Menschen, eine Standardisierung im Sinne der Systemanforderungen. Da kommt einem der Slogan der Weltausstellung von 1933 wieder in den Sinn: „Die Wissenschaft erkennt. Die Industrie wendet an. Der Mensch gleicht sich an.“ Schule ist lediglich ein Teil des Prozesses, den Menschen an die Maschine anzupassen, der Mechanisierung der menschlichen Natur.
Während er korrekt und zwingend die wahren historischen Ziele des Schulwesen benennt, die in einer monströsen Verletzung des menschlichen Geistes bestehen, hinterlässt Gatto manchmal den Eindruck, dass dies durch einige wenige geschichtliche Zufälle bedingt gewesen sei und leicht anders hätte kommen können. Wenn bloß Humboldt die Auseinandersetzung mit Baron Vom Stein im Preußen des frühen 19. Jahrhunderts gewonnen hätte, wenn bloß der Gesetzgeber in Massachusetts einen 36-Stimmen-Schwenk ausgeführt hätte, um Horace Mann zurückzuweisen, dann wäre das Verbrechen der allgemeinen Schulpflicht nie geschehen. Tatsächlich aber musste es geschehen, erzwungen durch weitgreifende historische Prozesse, die Vom Stein, Dewey, die Carnegie-Foundation und das Rockefeller-Board, William Rainey Harper und die anderen zum Sieg trugen. Selbst die geheimen Strippenzieher – Rockefeller, Carnegie, Ford und Morgan – welche die Schaffung eines fügsamen Proletariats und einer ordnungsliebenden Gesellschaft anstrebten, spielten lediglich Rollen, die ihnen eben jene Prozesse diktierten, welche sie mit Macht ausgestattet hatten.
Ja, Schule betreibt die Auflösung von Familie und Gemeinschaft, die Umwandlung von Bürgern in Subjekte und von Schöpfern in Verbraucher, das Brechen von Kindern gemäß den Anforderungen einheitlichen Lebens; Schule betreibt all dies, aber diese Abläufe gehen weit über die Institution Schule hinaus, die sie einpflanzen und begleiten soll. Es war unvermeidlich, dass wir auf die eine oder andere Weise die grundlegend selben Techniken auf Kinder wie auf die Natur und alles andere anwenden würden – und aus dem gleichen Grundgedanken heraus. Wie kann man „den Einzelnen den Anforderungen des Systems unterordnen“? Das Individuum muss lediglich etikettiert, quantifiziert, vermessen, bewertet und standardisiert werden. Nur so können Betriebsführungsmethoden angewendet werden. Schule ist daher ein Auswuchs der Mumford’schen Megamaschine, welche an sich der logische Endpunkt von fortschreitender Vergegenständlichung, Management und Kontrolle der Natur ist.
Mit dem Heraustrennen von Kindern aus dem familiären Netz, der Natur und dem sozialen Umfeld ist das allgemeine Schulwesen im Grunde ein enormes Experiment sozialen Ingenieurwesens, die Erfüllung von Jahrtausenden des Utopismus bis zurück zu Plato, in denen Einheitsausbildung der Jugend stets ein wichtiges Element war. Bis hinauf zu den Owenschen und sozialistischen Experimenten des 19. und 20. Jahrhunderts wurden Kinder, zumindest teilweise, von ihren Familien getrennt. Es tut uns leid, aber die Familie ist überholt: Von nun an werden wir Kinder auf wissenschaftliche Weise erziehen. Sicher bekommen ausgebildete Experten das besser hin als unwissende Eltern, sicher sind Wissenschaft und Vernunft primitiven, biologischen, emotionsgesteuerten Familien überlegen. Die wissenschaftlichen Gesetze im Bereich Psychologie und Kindsverhalten werden die alten, irrationalen Bräuche ersetzen, und wir werden Kinder unbeeinträchtigt von elterlicher Subjektivität für die moderne Gesellschaft heranziehen. Ihr, die modernen Eltern, bildet euch am besten in wissenschaftlicher Kindererrziehung, aber die meisten Bereiche müsst ihr den Fachleuten überlassen.
Endstation dieses Trends wird nichts anderes als Huxley’s Schöne Neue Welt sein, in der die Fabrikmethode von Geburt an und früher auf die Kinderaufzucht angewendet wird. Alle Menschen werden eingestuft, von Alpha Plus bis Delta Minus – klingt vertraut? – und jedem werden die Anreize und Ressourcen gegeben, die zu seinem Status gehören.
Wie jede Technik beinhaltet die Agenda sozialen Ingenieurwesens eine Abtrennung von der Natur, in diesem Fall die Entfernung von Kindern aus ihrem ursprünglichen biologischen und sozialen Umfeld in Familie und Gemeinschaft. Die Trennung von der Familie, die in Schöne Neue Welt eine totale ist, ist ein notwendiges, unvermeidliches Nebenprodukt des Bestrebens, die Gesellschaft entsprechend der selben Methoden und Logik zu manipulieren, wie wir die materielle Welt manipulieren. In beiden gibt es die Ersetzung des Persönlichen, Subjektiven und Traditionellen mit dem Abstrakten, Formalen und Generellen. Wir haben Huxleys Extrem nocht nicht erreicht, aber ein Trend in diese Richtung ist überall da sichtbar, wo das Technologische Programm verfolgt wird. Als ich ein Kind war, hörten wir mit Entsetzen Geschichten über die Sowjetunion, wo der Staat die Eltern, sogar die ganze Familie durch „wissenschaftliche“ Kinderbetreuung, ideologische Jugendunterweisung usw. ersetzte. Doch heute geschieht dasselbe überall, wenn nicht direkt durch die Hand des Staates, dann mit seinem buchstäblichen Einverständnis oder sonst durch die Hand anderer Einrichtungen, welche nach den üblichen Prinzipien wissenschaftlicher Betriebsführung operieren. Das heutige Baby- und Kinderbetreuungssystem, Schule, organisierter Sport, psychologische Beratung und das Fernsehen haben sich, ob zufällig oder mit Absicht, verschworen, Eltern und Gemeinschaft zu ersetzen. Es werden die gleichen Funktionen der Sozialisation, Erziehung und Identitätsbildung bereitgestellt, aber jetzt von Institutionen und ihren Funktionären, die sich überhaupt nicht für dein Kind interessieren, außer sie werden dafür bezahlt. Überdies gibt es einen fundamentalen Konflikt zwischen dem Ziel des Sozial-Ingenieurs, das Kind an die Anforderungen des Systems anzupassen, und dem spirituellen Ziel persönlicher Erfüllung. Sozialisation heißt Maschinensozialisation. Die aufgebaute Identität ist eine Konsumentenidentität.
Die Agenda sozialen Ingenieurwesens erklärt, weshalb Psychologie – die „Wissenschaft“ des Geistes – in der Pädagogik (der „Wissenschaft“ des Lehrens) stets betont worden ist, seit Horace Mann Phrenologie als Schlüssel zum erfolgreichen Klassenzimmer anpries. Wie in anderen Bereichen des menschlichen „Aufstiegs“ folgen wir beim Lernen Galileos Rezept des Anlegens von Maßstäben in der Hoffnung, dass eine Wissenschaft daraus wird. Wir können dann die gesamte Technologie-Skala basierend auf Standardisierung, Effizienz, Management und Kontrolle einsetzen. Das Objekt der Erziehung – das Kind – wird zum Objekt der Technologie. Schule ist ein Aspekt eines gewaltigen Unternehmens: der technischen Planung des menschlichen Daseins, des menschlichen Verstandes, der menschlichen Psyche, der menschlichen Seele. In der Tat ein kühnes Unterfangen: weder das zufällige Ergebnis eines historischen Fehltritts noch der Anschlag einer bösen Verschwörung, sondern der ursprünglichen Verwegenheit der Technologie innewohnend. Auf der tiefsten Ebene sind Ziel und Motivation der Bildung die Anwendung des Technologischen Programms auf die allerletzte Herausforderung: Gesellschaft und Mensch. Wie Technik allgemein die Natur zu verbessern sucht, so sucht Bildungstechnik die menschliche Natur zu verbessern.
24 John Taylor Gatto, The Underground History of American Education, S. 53.
25 Eine erhellende Abhandlung über diesen Trend: Abridged too Far von Hillary Flower finden wir unter http://www.salon.com/books/feature/2004/03/29/willows/index.html
26 Harold Bloom, The Western Canon, S. 520
27 Gatto, S. 38
28 Ivan Illich, Deschooling Society, S. 2-3 (dt.: Entschulung der Gesellschaft: Eine Streitschrift)
29 William Torrey Harris, The Philosophy of Education, Zitat nach Gatto, S. 105
30 General Education Board, Occasional Letter Number One, 1906, Zitat nach Gatto, S. 45
31 Gatto, S. 156
32 Gatto, S. 173
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