Der Aufstieg der Menschheit von Charles Eisenstein
Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters
Die selben Annahmen, die unser Rechtssystem formen, definieren auch unser Gesundheitssystem. Wir haben gesehen, wie das überspannende Paradigma vom eigenständigen, getrennten Selbst ein Technologisches Programm zur Kontrolle der Natur hervorbringt. Im Fall von Gesetz und Bildung ist es eine Kontrolle über die menschliche Natur; im Fall der Medizin über den Körper und die biologische Umwelt. In beiden Fällen ist das Ziel der Kontrolle die Erreichung von Sicherheit und die Vermeidung von Leid.
Die Auffassung von uns selbst als getrennte Subjekte in einer Welt von eigenständigen Anderen legt nahe, dass die Interessen des Selbst grundsätzlich im Widerstreit mit den Interessen der Anderen sind. Mehr für mich ist weniger für dich; mehr für dich ist weniger für mich. Diese grundlegende Seinslehre wird in der Medizin von der keimbasierten Krankheitstheorie verkörpert; und bis wir uns auf andere Weise betrachten wird jedes andere medizinische Modell eine Randerscheinung bleiben.
Das dem Untergang geweihte Programm zur Eliminierung allen Leids durch Kontrolle der Welt nimmt eine besondere Form in der fortwährenden medizinischen Besessenheit von Keimen an – oder präziser: Pathogenen, Krankheitskeimen – das, was eine „Symptomatik“ „erzeugt“; anders ausgedrückt das, was eine Krankheit verursacht. Bakterien und Viren sind die Hauptschuldigen, denen wir verschiedene Pilze, Prionen, genetische Mutationen und Chemikalien hinzufügen können. Um das getrennte Selbst in einer feindseligen Welt, die uns am liebsten für ihre eigenen Zwecke verschlingen würde, aufrecht erhalten zu können, praktizieren wir verschiedene Formen von Schutz und Kontrolle: Immunisierung gegen Virenkrankheiten, Antibiotika (lasse dir die Bedeutung dieses Wortes auf der Zunge zergehen!) zur Zerstörung „eindringender“ Bakterien, Quarantäne zum Schutz vor ansteckenden Personen, Pasteurisierung zum Schutz von Lebensmitteln und Getränken vor Keimen, weitere Medikamente zur „Abwehr“ von Krankheiten.
Scheinbar war dieser Krieg gegen Keime ein großer Erfolg, da all die gefürchteten Killer-Epidemien des 19. Jahrhunderts bezwungen worden sind. Tatsächlich hat die Keim-Ideologie die Rolle der beiden großen Waffen moderner Medizin, dem Impfstoff und dem Antibiotikum, beim Niedergang von Infektionskrankheiten übertrieben. Nach Ivan Illich hat „die kombinierte Todesrate von Scharlach, Diphterie, Keuchhusten und Masern bei Kindern unter 15 Jahren gezeigt, dass fast 90% des gesamten Sterblichkeitsrückgangs zwischen 1860 und 1965 bereits vor der Einführung von Antibiotika und flächendeckender Immunisierung stattgefunden hat.“39 Erwachsenenkrankheiten wie Cholera, Tuberkulose, Polio und Typhus zeigen ein ähnliches Muster, welches eher einer Verbesserung der Lebensumstände zugeschrieben werden kann als medizinischen Fortschritten. Nichtsdestotrotz möchte die medizinische Propaganda uns Glauben machen, dass es das edle Bestreben der „modernen Medizin“ sei, sich auf jene rückständigen Teile des Globus auszudehnen, die noch immer von solchen Krankheiten geknechtet werden. Mittlerweile glauben wir in den entwickelten Ländern, dass wir noch gesünder werden könnten, wenn wir unsere Wachsamkeit mit antibakterieller Seife, Grippeimpfungen, regelmäßigen Gesundheitsuntersuchungen und früherer Durchleuchtung vergrößern.
Die Ausrottungskampagne gegen Keime hat schwere unvorhergesehene Folgen für unsere Gesundheit. Zusammen mit pathogenen Mikroben wird auch viel von unserer nützlichen Darmflora abgetötet, die mit unserem Immunsystem zusammenarbeitet und es auf komplizierte Weise anpasst, was die neuere Forschung gerade erst anfängt aufzudecken. Des weiteren schützen uns unsere arteigenen Bakterien, indem sie die Darmoberfläche für sich monopolisieren, bevor Konkurrenten fußfassen können; sie scheiden sogar Bakteriengifte und andere Chemikalien aus, die das Wachstum schädlicher Spezies hemmen. Ähnlich wie in der Natur vermehren sich opportunistische Spezies wie z.B. pathogene Hefen und Bakterien, wenn das interne Ökosystem zerstört wird. Wir identifizieren die „Ursache“ von Candida in einer Hefepilzspezies, aber der wahre Grund ist eine systematische Zerrüttung der Körperökologie. Das selbe gilt für unsere Wälder, wo um sich greifender Baumtod ebenfalls auf verschiedene Pilzarten geschoben wurde. Doch warum sind die Bäume anfällig wie nie zuvor? Der Grund ist der selbe wie beim Körper: systematische Vergiftung und die Zerrüttung des Ökosystems.
Als man Antibiotika zuerst entdeckte, dachte man, dass bakterielle Krankheiten für immer bezwungen worden wären. Aber wie die meisten „Kriege zur Beendigung aller Kriege“ hat der Kampf gegen die Bakterien eine unerwartete Wendung nach der anderen genommen. Bakterien haben Resistenzen gegen Antibiotika mit einer Eilfertigkeit entwickelt, die jede Erwartung weit übertroffen hat – und fordern damit in der Tat weitverbreitete wissenschaftliche Annahmen über den Ablauf bakterieller Entwicklung heraus. Die Antwort auf die schwindende Wirksamkeit von Antibiotika ist – du errätst es! - mehr Antibiotika. Wo Technologie ein vorübergehendes Absinken des Wohlbefindens erzeugt haben sollte, ist die Antwort offensichtlich mehr davon: wirkungsvollere Antibiotika, auf wirkungsvollere Weise verabreicht. Nachrichtenartikel sprechen vom „Wettrüsten“ gegen Bakterien, in welchem heldenhafte Wissenschaftler um die Wette laufen, um die „Arsenale“ um neue Antibiotika zu erweitern, bevor die Bakterien Resistenzen gegen die alten entwickeln.40 In der Zwischenzeit fordert jede neue technologische Intensivierung, genau wie bei anderen Beispielen technologischer Lösungen, einen höheren Preis: Nebenwirkungen wie z.B. Candida. Die Lösung? Mehr Kontrolle natürlich: Fungizide zur Abtötung von Candida! Und dann weitere Medikamente, um den Nebenwirkungen des ersten Medikaments entgegenzuwirken. Irgendwie nehmen wir an, dass eines Tages eine Endlösung entwickelt werden wird, die ein für alle Mal das anfängliche Problem beheben wird, und die von dessen Lösung verursachten Probleme, und die von deren Lösung verursachten Probleme... und wir werden glücklich und zufrieden leben bis ans Ende unserer Tage.
Tatsächlich arbeiten Wissenschaftler heute genau an einer solchen Endlösung: einer Antibiotika-Klasse, die allen bekannten Mitteln mikrobieller Resistenz überlegen ist, ein Unternehmen, das Stephen Harrod Buhner „die zur Zeit vielleicht gefährlichste Aktivität auf Erden“ nennt.41 Die Folgen einer solchen Endlösung würden Candida wie einen Spaziergang erscheinen lassen. Bedenke, dass zum Beispiel ohne Bakterien vermutlich alles Erdenleben untergehen würde. Stell dir die Konsequenzen vor, wenn Pflanzenfresser alle Bakterien verlören, die ihnen erlauben, Zellulose zu verdauen oder wenn Bakterien nicht den Stickstoff im Boden halten würden. Schließlich tauchen heutige Antibiotika regelmäßig und überall im Grundwasser, dem Boden und im Gewebe von Lebewesen auf. Ich hoffe, dass keines dieser Weltuntergangsszenarien wahr wird, aber eins ist sicher: Die Intensivierung des Kriegs gegen das Andere kann nur ein Ergebnis zeitigen. Alles was wir der Welt antun, tun wir auch uns an.
Der Grund ist, dass wir tatsächlich nicht selbständige, vom Rest des Lebens getrennte Wesen sind. Der Krieg gegen Keime ist nur ein Aspekt unseres Versuchs, das Gegenteil vorzugaukeln, eine Täuschung, die trotz unserer energischer werdenden Anstrengungen am Rande des Zusammenbruchs steht.
Die Menschheit ist mit einem Krebsleiden für den Planeten verglichen worden. Krebs ist ein Gewebe, das seine eigentliche Funktion vergessen hat und die Körperressourcen weiter ununterbrochen verbraucht, selbst wenn sein schnelles Wachstum den Körper zu töten droht, von welchem es für sein Überleben abhängt. Kannst du dir eine treffendere Beschreibung der Rolle der Menschheit auf dem Planeten Erde vorstellen? Ist es dann überhaupt ein Wunder, dass das, was wir der Welt angetan haben, sich auch handfest in unseren Körpern zeigt?
Auch auf individueller Ebene überschreitet ein Teil unser selbst seine eigentliche Funktion und requiriert die Ressourcen unseres gesamten Organismus. Jener Teil ist das überlebensbasierte Ego, welches die Jahre und die Kraft verbraucht, die in die Erfüllung unseres Lebenszwecks hätten gehen sollen. Stattdessen wird das Leben dem Streben nach dem Bedeutungslosen, Trivialen und Vergänglichen gewidmet: all jene Dinge, die uns einen falschen Eindruck von Sicherheit, vorübergehender Behaglichkeiten und relativer Selbstachtung geben. Mit anderen Worten ist das psychische Mittel der Selbstverherrlichung, dessen Aufgabe die Schaffung eines vernünftigen Umfangs an biologischer Sicherheit und Trost ist, zu einem massiven, alles verschlingenden Tumor geworden. Ich denke, viele Krebsleiden sind eine Somatisierung dieses Selbstverrats.
Aber wie sollen wir Krankheit interpretieren – und behandeln – wenn sie kein Eindringen ist? Immerhin scheinen Viren, Bakterien und Krebszellen tatsächlich auf sehr direkte und offensichtliche Weise zu töten und manchmal, wenigstens, wirken die allopathischen Behandlungen. Wir „töten den Bazillus“ und dem Patienten geht es besser. Man ist versucht zu denken: „Wenn jene Krebszellen nicht da wären, ginge es mir jetzt gut“. „Wenn Candida weg wäre, ginge es mir jetzt gut.“ „Wenn ich jene HIV-Viren abtöten könnte, ginge es mir gut.“ Die Pathogene scheinen offensichtlich die Quelle des Problems zu sein – werde sie los, und die Krankheit ist fort.
Diese Denkweise leitet sich von den elementaren Lehrsätzen Newtonscher und Darwinscher Wissenschaft ab, die das Bild eines einförmigen, sinnentleerten Universums zeichnet. Der Grund für das Eindringen der Pathogene ist einfach, weil sie es können; es gibt keinen anderen Zweck. Unsere Interessen und ihre sind grundsätzlich im Konflikt. Das Universum ist genauso – unzählige selbständige Wesen, die um Ressourcen im Wettstreit liegen.
Was macht den einen Körper anfällig für Krebs, einen anderen für Candida und einen weiteren für AIDS? Warum fangen sich nur die Hälfte der Studienobjekte eine Erkältung, wenn ihre Nasenschleimhäute mit aktiven Rhinovirus-Kulturen bestrichen werden? Wenn wir schon dabei sind: Warum wird der eine Teil des Waldes mit Giftsumach überwuchert, ein anderer mit Springkraut, ein weiterer mit Senfkraut? Warum schwärmen die Heuschrecken zu bestimmten Zeiten und Orten, um jede Pflanze in Sichtweite zu entlauben? Wenn wir reduktionistisch denken, schreiben wir diese Ereignisse allgemein dem Zufall zu. Ich erinnere mich an einen frisch diagnostizierten, verzagenden Krebspatienten: „Sieht so aus, als ob ich gerade in der Krebslotterie gewonnen hätte.“ Statistisch gesehen bekommt ein bestimmter Anteil von Leuten die jeweilige Krankheit. Wirst du einer der Unglücklichen sein? Statistisch gesehen verteilen sich Pflanzensamen, entsprechend dem Wind und anderen variablen Vektoren, zufällig. Warum wuchs hier eine Distel und dort eine Klette und nicht anders herum? Es geschah wahllos, zufällig.
Ein wissenschaftlicher Paradigmenwechsel gibt diese Vorstellung rasch zum alten Eisen. Kapitel VI beschreibt, inwiefern Kooperation, Symbiose und ökologische Zielsetzung – zusammen mit Wettbewerb – die bestimmenden Kräfte der Natur sind. Dementsprechend könnten wir die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass Krankheiten einen Zweck haben, sei es auf körperlicher, genetischer oder spiritueller Ebene. Zum Beispiel nehmen viele alte medizinische Traditionen an, dass Erkältung und Grippe dabei helfen, angesammelte Nebenprodukte eines schädlichen Lebensstils auszuscheiden. Die neuere Forschung deutet an, dass Viren genetische Informationen an unsere Zellen übermitteln.
Es gibt eine Alternative zur Zufälligkeit der Heuschreckenplage, von Klette und Distel, zur Krebslotterie. Was, wenn die Distelsaat hier spross und die Klette dort, weil jede ihren eigenen, einzigartig vollkommenen Beitrag zur Bodenchemie an jenem Platz zu leisten hatte? Was, wenn der Boden, weil er das wusste, die Saaten „eingeladen“ hat zu sprießen und den Keimling zu wachsen, indem er genau die Chemie lieferte, die der jeweiligen Pflanze förderlich ist? Was, wenn jedes Wesen auf Erden einen Beitrag zum kollektiven Wohlergehen der Gesamtheit zu leisten hat? Sind Krankheitserreger eine Ausnahme? Vielleicht haben „pathogene“ Viren und Bakterien tatsächlich einen positiven Effekt auf Menschen, individuell oder kollektiv.
Das Modell zufälliger „Infektion“ kommt dem Programm der Kontrolle entgegen. Wenn wir Keime als Fressfeinde betrachten, die uns aus biologischem Eigeninteresse (Überleben und Reproduktion) „Ressourcen“ stehlen wollen, dann ist es eine rationale Antwort, ihnen jene Ressourcen zu verweigern, sie vor ihnen zu verstecken oder die Fressfeinde zurückzuschlagen – die Kampf-oder-Flucht-Antwort. Es gibt keinen zwingenden Grund, weshalb eher die eine Person als die andere ein „Opfer“ der Grippe werden sollte. Wenn ich dagegen glaube, dass es in meinem eigenen Körper begründet liegt, weshalb die Grippe mich und nicht dich infiziert hat, dann macht das Programm der Kontrolle keinen Sinn mehr. Wenn mein Körper fruchtbarer Boden dafür ist, dann wird das Virus schließlich hineingelangen und wachsen. Vielleicht geht der Körper durch Zyklen von Krankheit und Gesundheit oder der Reinigung, Erneuerung und Wartung, was hin und wieder tatsächlich einen Schnupfen nötig oder fast unvermeidbar macht. Vielleicht dienen Krankheiten wie Erkältung und Grippe einer Art austilgenden Funktion: Gifte zusammen mit dem Schleim abzuführen; Gifte in der Fieberhitze zu verbrennen; Bakterien als Müllmänner zur Beseitigung von Nebenprodukten einzuladen. Vielleicht muss der Körper gelegentlich eine intensive Hausreinigung durchlaufen.
Ich erinnere mich, einmal in einer Kolumne mit Gesundheitstipps gelesen zu haben, dass es ein „Mythos“ sei, dass man eine Erkältung bekomme, wenn einem nass und kalt wird. „Viren verursachen Erkältungen“, stellte der Experte fest und schrieb den „Mythos“ dem selektiven Gedächtnis zu – wir erinnern uns an Zeiten, als einer Durchweichung eine Erkältung folgte und fabrizieren eine Kausalbeziehung. Ich Quertreiber dagegen wusste sofort, dass eine Abkühlung tatsächlich Erkältungen verursacht. Was möglicherweise wirklich geschieht ist, dass die Kälte ein inneres Klima schafft, das ideal für den Virus ist, der sich vermehrt und schließlich Symptome verursacht, mit welchen der Körper die überschüssige „kalte und feuchte Energie“ abführt (um die Nomenklatur Traditioneller Chinesischer Medizin (TCM) anzuwenden), z.B. durch Schleimabsonderung. Ist die kalte und feuchte Energie fort, geht es dem Virus nicht mehr so gut, und er wird rasch vom Immunsystem beseitigt. Wir könnten den Virus dann als externes Organ zur Homöostase betrachten.
Was geschieht, falls du dich peinlich genau von jedem Kontakt mit dem Erkältungsvirus abschirmst? Nun, dann bleibt das kalte, feuchte innere Klima unbegrenzt bestehen, bis schließlich doch einer hereinkommt – oder etwas schlimmeres passiert. Zum Beweis für diese Mutmaßung denk an die einfache Tatsache, dass die meisten Menschen sich nach einer Erkältung oder Grippe besser als vor der Krankheit fühlen. Man sollte denken, sie wären geschwächt; aber nein, sie fühlen sich oft wiederbelebt. Traditionelle Chinesische Medizin stimmt dieser Theorie außerdem mit dem Sprichwort zu: „Wenn du keine kleinen Krankheiten bekommst, dann wirst du eines Tages eine große bekommen.“ Wenn die Hausreinigungsfunktionen von Erkältungen und Grippe nicht wirken dürfen, werden die Gifte oder Energieungleichgewichte sich ansammeln und in großen Krankheiten resultieren. Vielleicht wäre das in einem völlig makellosen Umfeld anders, aber die Giftigkeit des modernen Lebens und Umfelds bedeutet, dass gelegentliche Krankheiten heute ein Zeichen von Gesundheit sind.
Vorausgesetzt die Symptome sind nicht lebensbedrohlich, lasse ich sie in meinem Körper voll zur Geltung kommen. Erkältungs- und Grippemedikamente durchkreuzen genau jenen Zweck, zu dem unsere Körper diese Keime eingeladen hat. Es ist viel besser, den Prozess zu unterstützen und deinem Körper die benötigten Ressourcen zu geben, um es sicher durchzustehen. Welches diese Ressourcen sind, hängt von der Natur der Krankheit ab – und ein fähiger Heiler kann dir helfen herauszufinden, welche das sind – aber Ruhe und Stille sind ausnahmslos verlangt. Gesund zu werden gibt uns auch die Chance, „psychische Gifte“ zusammen mit den physischen auszuscheiden: Druck, Ängste, und Geschäftigkeit des täglichen Lebens.
Wenn Krankheitserreger in gegenseitiger Symbiose mit der menschlichen Gattung leben, dann ist der Krieg gegen Keime schmerzlich fehlgeleitet. Eines der begrifflichen Werkzeuge, die ich im nächsten Kapitel entwickle, ist es, Symbionten nicht als getrennte Wesen zu sehen, die gegenseitig voneinander abhängen, sondern als Teil des Selbst. Der Krieg gegen Keime ist in diesem Sinne ein weiterer Aspekt der Verwirrung unserer Kultur bezüglich Selbst und Anderem, der Verwirrung darüber, wer wir sind. Es überrascht nicht, dass die großen Epidemien unserer Zeit Autoimmunerkrankungen sind. Auf seiner elementarsten Ebene unterscheidet das Immunsystem zwischen dem Selbst und dem Anderen. Unsere kollektive Verwirrung darüber, wer wir sind, zeigt sich im Körper als Störung des Immunsystems. Manchmal ist die Kausalbeziehung recht bestimmt, z.B. die Beziehung zwischen dem Zunehmen allgemeiner Kinderimpfungen und dem Aufkommen verschiedener Immunstörungen bei Kindern.42 Am bekanntesten ist die Verbindung zum Autismus, welche man als Autoimmun-Angriff auf das Myelin im Gehirn begreifen kann.43 Meiner persönlichen Erfahrung nach ist das schlagendste Argument der enorme Anstieg der Allergieverbreitung bei Kindern. Als ich in den 1970ern ein Kind war, hatten wir zwei Kinder in unserer Klasse, die auf das eine oder andere allergisch waren, aber das war sehr ungewöhnlich. Damals gab es wesentlich weniger Impfungen, besonders in den ersten beiden Jahren. Heute traust du dich kaum, einem Kind irgendetwas zu essen zu geben, ohne vorher die Eltern nach seinen Allergien zu fragen.
Was ist mit tödlichen Killern wie Cholera, Typhus, Pocken und Pest? Es ist nicht leicht, diese als symbiotische Freunde der Menschheit anzusehen, zumindest auf individueller Ebene. Nichtsdestotrotz könnten diese Krankheiten eine nützliche Funktion auf ökologischer, genetischer oder spiritueller Ebene haben. Auf jeden Fall gehören tödliche epidemische Akuterkrankungen zumeist der Vergangenheit an.44 Viel Energie wird im öffentlichen Gesundheitsbereich für die Vorbereitung auf die nächste Epidemie aufgewendet, da Behörden das Gespenst der terroristischen Verbreitung von Pocken aufbringen, einer neuen Grippewelle, etwas exotisches wie Ebola oder einer neuen Krankheit wie SARS. Indem wir uns auf diese einschießen kämpfen wir den letzten Krieg mit den Waffen des letzten Krieges. Diese Feinde sind von einer Sorte, gegen welche Kontrolltechniken (Impfungen, Antibiotika, Quarantäne usw.) erfolgreich sind.
Die neuen Krankheiten der modernen Zeit sind von einer anderen Art. Krebs, Arthritis, chronisches Müdigkeitssyndrom, Alzheimer, Morbus Crohn, Multiple Sklerose, Diabetes, AIDS usw. bieten der Medizin der Kontrolle, die trotz immensen Forschungsausgaben im Vergleich zur Impfstoff-/Antibiotika-Ära fast keine Fortschritte bei deren Heilung gemacht hat, die Stirn. Bezeichnenderweise beinhalten die meisten, wenn nicht alle diese neuen Krankheiten eine Störung des Immunsystems. Sie spiegeln die selbe Selbst-/Anderes-Verwirrung, die unser Verhältnis zur Welt bestimmt.
Hilflos gegenüber den Krankheiten des 21. Jahrhunderts ergreifen wir stattdessen immer extremere Maßnahmen gegen die Welt der Kleinstlebewesen. Ein Ausdruck des Kriegs gegen Keime ist die Verbreitung von antibakteriellen Seifen, Latexhandschuhen für alle Arbeiter im Nahrungsmittelbereich und Mundschutzmasken, welche während der asiatischen SARS-“Epidemie“ auftauchten (und in einigen Fällen gesetzlich vorgeschrieben waren). Diese Mittel stellen eine physische Barriere zwischen dem Selbst und der Welt dar und untermauern die psychologische Distanz, die uns von einander und der Natur trennt. Manchmal habe ich Albtraumvisionen von einer Zukunft, wo die bloße Vorstellung, die ungefilterte Luft Anderer einzuatmen sowohl abstoßend als auch illegal ist, wo jeder eine Gasmaske trägt und jeder menschliche Kontakt durch Latex oder Computer-Terminals stattfindet.
Die gegenwärtige (2007) Hysterie um die Geflügelgrippe ist gleichermaßen beängstigend. Da sie durch wilde Vögel auf Geflügelscharen übertragen wird, richten manche Ämter neue Kontrollen ein, die Hühnern den Freilauf verbieten sollen. Dabei sind es die eingesperrten Haushennen mit ihren geschwächten Immunsystemen, die am anfälligsten sind, und es sind Fabrikmethoden der Geflügelzucht, die in Wirklichkeit die Krankheit verbreiten.45 Ein damit verbundener Vorschlag in den Vereinigten Staaten lautet, dass die Einbettung einer digitalen Kennzeichnung unter der Haut allen Viehbestands angeordnet werde. Überall sind die Kontrolltechniken die selben: Trennung, Eingrenzung und Nummerierung aller Dinge.
Solange ihre ideologische Untermauerung intakt bleibt, wird keiner dieser Trends abnehmen. Medizinische Mikrochips, die zur Überwachung verschiedener physiologischer Zustände unter die menschliche Haut gepflanzt werden können, sind bereits erhältlich. In Asien wurde während der SARS-Epidemie die Körpertemperatur als Bedingung zum Betreten bestimmter öffentlicher Gebäude gemessen. Potentielle Epidemien bieten sich als Begründung für die Quarantinierung von Populationen und zur Kontrolle ihrer Bewegungen an – ein internes Pass-System unter medizinischem Vorwand. All solche Maßnahmen sind in der Mentalität der Trennung und Kontrolle völlig sinnvoll.
Unsere Keimphobie ist eine spezifische Form einer eher allgemeinen Aversion, die man Reinlichkeit nennt – die vollkommene Verkörperung des Kontrolldrangs. Reinlichkeit steht der Göttlichkeit nahe, heißt es; das aber kann nur stimmen, wenn Gott dieser Erde fern ist. Was ist Schmutz, wörtlich genommen, anderes als die Welt? Körper und Häuser völlig rein zu halten, bedeutet, uns von der Welt abzutrennen. Es gilt als schlimmer faux pas, schmutzig und mit Eigengeruch bei einem sozialen Anlass zu erscheinen. Mit dem Schmutz eins zu sein, heißt unzivilisiert zu sein, weniger über die erdige Welt erhaben zu sein, mehr Körper und weniger Vernunft oder Geist zu sein. Ähnliche Überlegungen erklären, weshalb Erwachsene sich so unbehaglich fühlen, wenn sie klebrig sind. Wie alle Eltern wissen, macht es kleinen Kindern überhaupt nichts aus, klebrig zu sein. Klebrig zu sein, heißt wortwörtlich, dass die Welt (das Andere) an deinem Selbst haftet. Klebrigkeit verletzt daher unseren Sinn für Kontrolle, weil sie die physische Trennung zwischen Selbst und Welt bedroht.
Ein letzter, ziemlich aussagekräftiger Aspekt des Kriegs gegen Keime ist das Bestehen auf absoluter Sterilität des Nahrungsangebots. Die Pasteurisierung von Milch, Bier und anderen Produkten hat so viel mit Haltbarkeit zu tun wie mit Sicherheit, was mehr Rationalisierung ist als ein Grund.46 Der Verstärkung wirtschaftlicher Beweggründe für Gleichförmigkeit, Haltbarkeit und Normierung liegt die tiefere Motivation der Kontrolle zugrunde. Solange die Milch (beispielsweise) völlig steril gehalten wird und von der Molkerei über die Verarbeitung bis zum Supermarkt so bleibt, gibt es keine Infektionsgefahr – es ist völlig sicher und risikolos. Gesundheit durch Kontrolle.
Das gegenläufige ökologische Paradigma würde eines viel breiteren Konzepts von Gesundheit bedürfen, das sich auf die Kühe ausdehnt, das Land auf dem sie grasen und der Rechtschaffenheit von Bauern und Verarbeitern. Rohmilch ist eigentlich ziemlich sicher, jedoch nur, solange sie von gesunden Kühen stammt – eine Unmöglichkeit bei den derzeitigen (industriellen) Milcherzeugungspraktiken. Kühe können nur gesund sein, wenn der Boden gesund ist, wenn sie im Freien grasen und leben, wenn sie nicht künstlichen Hormonen und Antibiotika zur Ertragssteigerung ausgesetzt werden und wenn sie langfristig nicht zur Überproduktion von Milch aufgezogen werden. Da all diese Anforderungen mit der Minimierung der Hektorliterkosten zusammenstoßen, sind sie inkompatibel mit Milch als Gegenstand der Rohstoffmärkte. All diese Kontrollaspekte, von der Kostenkontrolle bis zur Produktsterilisierung, verstärken einander.
Wie im Falle so vieler anderer technologischer Lösungen ist das Ergebnis von Nahrungssterilisierung weniger Gesundheit statt mehr. Nicht nur wird pasteurisiertes Essen seiner Enzyme und Vitamine beraubt, sondern auch der lebenden Bakterien in Rohmilch und unpasteurisiertem Sauerkraut, die in der Darmflora sogar zur Ernährung des Körpers und zur Krankheitsabwehr beitragen. Sterile Nahrung ist ein Ziel für opportunistische Kontamination durch schädliche Salmonellen, E.coli und andere Bakterien, die nicht mit den ursprünglichen, gutartigen Bakterien unpasteurisierter Milch und anderen Nahrungsmitteln konkurrieren müssen. Kontrolle muss kontinuierlich aufrecht erhalten werden, sobald man sie einmal eingeführt hat.
Traditionelle kulinarische Kulturen folgten dem gegenteiligen Ansatz, indem sie umfangreichen Gebrauch von Fermentation machten, jedoch nicht der kontrollierten Sorte, in der nur ein einziger Mikroorganismus zur Impfung eines sterilisierten Mediums benutzt wird. Traditionelle Fermentation lud die Welt buchstäblich ein und stützte sich dabei sowohl auf Umgebungsmikroben als auch auf komplexe Kulturen hunderter von Hefe- und Bakterienspezies, die nicht nur untereinander symbiotisch verbunden waren, sondern auch mit den Menschen, mit denen zusammen sie sich über Generationen entwickelt hatten. Die Ergebnisse waren einigermaßen unvorhersagbar: Jede Ladung höhlengereiften Käses oder natürlich fermentierten Weins war einzigartig. Natürliche Fermentation ist darum unvereinbar mit den Anforderungen industrieller Produktion und Massenvermarktung, die gleichförmige Produkte und lange Haltbarkeit verlangen.
Die neueste Sterilisierungsmethode ist Bestrahlung, und man setzt sie ausführlich bei Gewürzen, Fleisch und anderen Nahrungsmitteln ein. Im Grunde wird die Nahrung radioaktivem Atommüll ausgesetzt, stark genug, um alles Leben darin abzutöten. Erstaunlicherweise bleibt die Nahrung für neuerlichen Befall relativ unzugänglich, nachdem die Bestrahlung angewendet worden ist. Wie können wir annehmen, dass sie menschliches Leben ernähren kann, wenn sie kein bakterielles Leben ernähren kann? Lediglich mit der geistigen Haltung von Abgetrenntheit.
Die gegenwärtige Obsession mit Nahrungshygiene – und die gesamte Ausrottungskampagne gegen Bakterien – wird lächerlich, wenn man weiß, dass das menschliche Verdauungssystem nicht so sehr von dem des Hundes oder Schweins verschieden ist. Je mehr Kontrolle wir über die Welt ausüben, desto empfindlicher werden wir für sie. Trotz der Tatsache, dass sie normalerweise vom Boden fressen und aus Toilettenschüsseln trinken, scheinen Hunde weder häufiger krank zu werden als wir, noch habe ich eine merkliche Verbesserung meiner Gesundheit bemerkt, seit Arbeiter im Nahrungsmittelsektor Handschuhe tragen. Im Gegenteil: Ein Mangel an regelmäßigen Herausforderungen für das Immunsystem macht es einerseits empfindlicher (Vielleicht verpasse ich etwas, denkt es), während es andererseits, seiner Übung beraubt, den Kampf mit einer echten Krise aufnehmen muss. Das Immunsystem wird alsbald sensibler, dafür weniger imstande, mit ernsten Herausforderungen umzugehen. Die Parallele zum verzärtelten, überbeschützten modernen Menschen ist offensichtlich.
39 Illich, S. 16
40 Siehe z.B.: „The Antibiotic Arsenal”, http://www.microbeworld.org/htm/cissues/resist/resist_2.htm
41 Buhner, Stephen Harrod, The Lost Language of Plants, Chelsea Green, 2002. S. 139
42 Eine Möglichkeit, wie das geschieht, ist durch die Einbringung von Affenviren in den Menschen über den Impfstoffnährboden. Siehe beispielsweise Journal of Infectious Disease, September 1999;180:884-887. Viele beschuldigen auch die hohen Quecksilberdosen, die zur Konservierung in vielen Impfmitteln enthalten sind.
43 Autism, Autoimmunity and Immunotherapy: a Commentary by Vijendra K. Singh, Ph.D
44 Teile der Dritten Welt, die noch immer solche Epidemien beherbergen, befinden sich in dem Sinne noch immer „in der Vergangenheit“, als ihre Entfremdung von der Natur noch nicht den Zustand wie im Westen erreicht hat.
45 Fowl play: The poultry industry’s central role in the bird flu crisis, www.grain.org/briefings/?id=194
46 Eine tiefergehende Abhandlung über die Ursprünge und die mangelhafte Wissenschaft der Pasteurisierung findet man in „The Untold Story of Milk“ von Ron Schmidt.
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