Der Aufstieg der Menschheit von Charles Eisenstein
Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters
Der Krieg gegen Keime ist lediglich eine der Äußerungen eines auf Kontrolle basierenden Gesundheitssystems. Kontrolle wiederum entsteht aus unserer Selbstwahrnehmung als isolierte Wesen in einem fremdartigen und gleichgültigen Universum. Da wir keinem Zweck jenseits unser selbst teilhaftig sind, versuchen wir natürlicherweise, Sicherheit, Bequemlichkeit, Vergnügen und andere Interessen jenes Selbsts zu maximieren. Technologie ist eine der Formen, die jenes Bestreben annimmt.
Wenn Schmerz wie alle anderen Ereignisse unseres Lebens weder Zweck noch Bedeutung besitzt, warum vermeidet man ihn dann nicht? Die logische Parallele zu jener bei Erkältung und Grippe. Wenn wir selbständige und getrennte Wesen in einer grundsätzlich auf Wettbewerb beruhenden Welt sind, dann muss jedes gemeinsame Interesse ein Zufall sein, jeder weitere Zweck muss eine Projektion sein; und unser Wohlergehen muss daher kommen, dass wir möglichst viel Kontrolle über das bestenfalls gleichgültige, doch häufig feindselige Universum erlangen. Erinnere dich an die logische Schlussfolgerung des Technologischen Programms: die Beseitigung allen Leids. Die Erreichbarkeit dieses Ziels ist wesentlich für die Annahme, dass die Welt im Grunde kontrollierbar sei, und Medizin ist eine Schlüsseltechnologie zur Anwendung dieser Kontrolle.
Trotz kolossaler Enttäuschungen behauptet der Mythos von der unmittelbar bevorstehenden Vervollkommnung moderner Medizin, dass seine technologischen Wunder kurz vor dramatischen Verbesserungen des menschlichen Körpers stehen: Gentherapie zur Umkehr des Alterns, Nanotechnologie zur Krebsheilung. „In einer solchen Gesellschaft“, schrieb Ivan Illich, „gelangt man zu dem Glauben, dass Technik im Gesundheitswesen, wie bei allen anderen Bestrebungen, zur Veränderung des menschlichen Zustands entsprechend beliebiger Entwürfe benutzt werden kann.“47 Die Einstellung des Ingenieurs zur Machbarkeit von Naturverbesserungen motiviert solche medizinischen Moden wie etwa die wahllosen Mandelentfernungen in den 1930ern und 1940ern, die routinemäßige Entfernung der Weisheitszähne während der letzten beiden Jahrzehnte, das technische Vereinnahmung des Geburtsprozesses und, während ich dies schreibe, Äußerungen gewisser Autoritäten, dass wenigstens die Hälfte der Bevölkerung von Cholesterin reduzierenden Medikamenten einen Nutzen hätte. Genau wie Technologie allgemein aussagt, die Natur könnte etwas Verbesserung vertragen, nimmt medizinische Technologie dasselbe vom menschlichen Körper an. Daher entfernen wir Organe, die wir für unnötig halten, ganz besonders den Uterus bei Frauen nach den Wechseljahren und verändern die Körperchemie (zum Besseren!) mit Hormon-Ersatz-Therapie. Und wir denken, dass noch größere Gesundheit aus der Verfeinerung der Kontrolle auf zellulärer und molekularer Ebene mit Hilfe von Nanotechnologie und Gentechnik erwachsen wird.
Das Kontrolldogma macht uns blind für die Tatsache stetigen, allgemeinen Verfalls der Gesundheit trotz, oder gerade wegen, dieser Eingriffe. Wenigen Ärzten wird bewusst, dass die Rate schwerer Geburtskomplikationen in Holland, wo Heimgeburten überwiegen, viel niedriger ist, als in Amerikas hochtechnologischen Geburtsstationen. Gleichermaßen können sie nicht die entsetzlichen Nebenwirkungen und den marginalen Nutzen der cholesterinsenkenden Statine sehen. Der Trend zur routinemäßigen Medikation setzt sich ungebrochen fort: Wer weiß, welche Medikamente sie der öffentlichen Wasserversorgung beimengen werden (zusätzlich zu den bereis vorhandenen wie z.B. Fluoride)?
Wir können bereits das Endziel dieser Entwicklung sehen: die Medikalisierung allen Lebens, die Umwandlung aller Menschen in Patienten. Vor bereits fast 30 Jahren hat Illich beobachtet, dass „soziale Etiketten in einigen Industriegesellschaften bereits so weit medikalisiert worden sind, dass jede Abweichung ein medizinisches Etikett haben muss.“48 Als Kinder waren wir entsetzt über die sowjetische Praxis, Dissidenten in Nervenkliniken einzusperren, unter der Annahme, dass jemand, der das sozialistische Utopia ablehne, verrückt sein müsse. Heute werden wir Zeugen eines ähnlichen Phänomens von wesentlich größerem Ausmaß. Den Abermillionen Menschen, die mit unserem modernen technologischen Paradies, dieser Welt unter Kontrolle, unglücklich sind, werden irgendwelche psychiatrischen Störungen diagnostiziert und bewusstseinsverändernde Medikamente verabreicht. Das selbe widerfährt Kindern, die der Brechung ihres Geistes widerstehen: bei Ihnen wird „oppositionelles Trotzverhalten“ oder „Aufmerksamkeitsdefizitstörung“ diagnostiziert. Ich sehe diese „Störungen“ als Zeichen von Gesundheit, nicht von Krankheit. Ein gesundes Kind mit starkem Willen wird sich der geistlosen Routine, sinnloser Arbeit und stundenlangem Eingesperrtsein im Klassenzimmer widersetzen; es wird sich bei jeder Gelegenheit Augenblicke des Spiels stehlen.49 Ich glaube, dass Depression auch bei Erwachsenen ein Zeichen von Gesundheit sein kann. Wenn wir von unseren kreativen Zielen in ein nicht sonderlich lebenswertes Leben abgedrängt werden, rebelliert die Seele, indem sie sich von jenem Leben zurückzieht. Dies ist lähmende Depression. „Ich würde eher überhaupt nicht am Leben teilnehmen“, sagt die Seele und verschafft ihrer Entschlossenheit Geltung, indem sie den Verstand, den Körper und den Geist außer Betrieb setzt. Wir sehen keinen Grund mehr zu leben. Eine Weile halten uns bloße Willenskraft und gewohnte Routinen am Laufen, aber schließlich wird der Ruf der Seele sich zurückzuziehen unabweisbar, und wir versinken in die Agonie klinischer Depression, des chronischen Müdigkeitssyndroms oder ähnliches mehr.
Ein weiteres pathologisiertes Zeichen von Gesundheit sind Ängste, das Gefühl, dass „hier etwas nicht stimmt und dringend Aufmerksamkeit braucht“. Was ist dieses etwas? Und wieder sind wir zu ängstlich, im Schatten nach dem Schlüssel dafür zu suchen, und so schieben wir es auf triviale Ängste. Das zugrundeliegende Gefühl ist jedoch eine gültige Antwort auf die Tatsachen der Welt. Etwas läuft hier in der Tat schrecklich schief und braucht wirklich dringend Aufmerksamkeit. Auf physischer Seite haben Ängste ein Gegenstück in neuerdings auftretenden Krankheiten wie multiplen Allergien und Fibromyalgie. (Physische Gegenstücke zu ADS sind Sehstörungen oder Dyslexie: Du kannst mich zwingen, an einem Tisch zu sitzen, aber du kannst mich nicht zwingen, gradeaus zu schauen!)
Die Medikalisierung dieser psychiatrischen Zustände basiert auf der Annahme, dass das Leben und die Welt, wie wir sie kennen, gut sind. Wie bei den Dissidenten im sozialistischen Utopia: Wenn dich dieses gute Leben depressiv macht, bedrückt oder deine Konzentration stört, nun, dann bist du krank, mein Freund. Die Welt ist nicht das Problem und auch nicht das Leben, das du gewählt hast; es ist deine Hirnchemie. Und die kann man anpassen.
Als Folge der physischen und auch psychischen Schmerzunterdrückung wird die schmerzvolle Welt erträglicher. „Keine Gesellschaft, in der die Intensität der zugefügten Beschwerden und Schmerzen diese ’unerträglich’ macht, kann lange überdauern.“50 Ohne die pharmazeutischen Methoden zur Kontrolle des psychischen Schmerzes, um sein Leben in der modernen Welt zu leben, würde die Gesellschaft, wie wir sie kennen, schnell zerfallen. Dasselbe gilt auf individueller Ebene: Genau wie die Medikation der Gesellschaft auf einem viel höheren Schmerzniveau zu bestehen erlaubt, als sie es ansonsten könnte, so erlaubt die Symptomunterdrückung beim Individuum dem Leben den normalen Fortgang. Leute, die Serotonin-Wiederaufnahmehemmer wie z.B. Prozac nehmen, haben mir erzählt, dass ihnen das Medikament die Bewältigung des Lebens ermöglicht. Und das tut es. Es erlaubt den gewohnten Fortgang des Lebens.
Der Grund, warum konventionelle Psychiatrie – ob pharmazeutische oder psychoanalytische – der überwiegenden Mehrheit ihrer Patienten nicht helfen kann, ist der, dass sie die Falschheit der Welt, in der wir leben, nicht anerkennen will und kann. Die Psychiater haben sich dieser Welt zusammen mit uns allen verschrieben. Die Psychiatrie handelt aufgrund der Annahme, dass wir zufrieden sein sollten. Dieselbe Annahme der Richtigkeit, oder wenigstens Unveränderlichkeit, der uns gegebenen Welt liegt dem Bestreben zugrunde, „den Stress zu bewältigen“. Dass das Leben aus seiner Natur heraus voller Stress ist, wird nicht in Frage gestellt. Die psychiatrische Behandlung ist bekannt für die Unfähigkeit, schweren mentalen Störungen zu begegnen, wie auch die Psychiater und andere voll enkulturierte Elitemitglieder der Gesellschaft naturgemäß unfähig sind, deren kulturellen Annahmen in Frage zu stellen, in die sie so tief verstrickt sind. Ihre Verstrickung macht sie deshalb blind dafür, dass die Reaktion eines Patienten auf eine Welt, in der einiges schief läuft, grundsätzlich richtig und elementar gesund sein könnte. In Wirklichkeit verschlimmert die konventionelle Behandlung (besonders pharmazeutische Behandlung) die Krankheit, indem sie diese bestärkt: „Ja, das von der Gesellschaft gebotene Leben ist schön; du bist der, der ein Problem hat.“ Ich bin Zeuge dramatischer Heilungserfolge gewesen, lediglich indem ich jemand bestätigte: „Du hast recht, so sollte das Leben nicht sein“ – eine Erkenntnis, die Wandel ermöglicht. Es ist nicht so, dass Psychiatrie Wandlungsbedarf insgesamt ignoriert; sie ist normalerweise nur unfähig, den Wandel weit genug zu treiben. Im Grunde sagt sie uns, dass wir uns an die Welt anpassen sollen und versucht uns wieder zu normalen, funktionierenden Mitgliedern der Gesellschaft zu machen.
Nein. Wir sind für mehr bestimmt. „Jeder kann die Leere spüren, die Fehlstelle unterhalb der Formen und Strukturen moderner Gesellschaft.“ Jede Psychiatrie, die uns an eine solche Gesellschaft anzupassen sucht, ist selbst geisteskrank.
Du wärst verrückt, dich mit dem Polieren des Silberbestecks zu beschäftigen während dein Haus abbrennt. Gleichermaßen ist es geisteskrank in der heutigen Welt ein normales Leben zu führen. Wenn nicht Millionen von Kindern unterernährt wären, wenn Folter nicht rund um den Globus zum Alltag gehörte, wenn nicht Gattungen und ganze Ökosysteme stürben, wenn Genozide für immer der Vergangenheit angehörten, wenn es all die von mir auf diesen Seiten verzeichneten Ungerechtigkeiten nicht gäbe... dann wäre vielleicht das uns präsentierte „normale“ Leben vernünftig. Dann würde es vielleicht Sinn ergeben, in Profi-Sport, Seifenopern, dem Wertpapiermarkt, Güteranhäufung und dem Privatleben von Prominenten aufzugehen. Innerhalb der Wirklichkeit der heutigen Welt jedoch ist das einzig sinnvolle Leben ein außergewöhnliches Leben.
Teenager in ihrem Idealismus und ihrem Trotz, die Depressiven in ihrer Zurückweisung des ihnen gebotenen Lebens, die Ängstlichen mit ihrem Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung ist... alle sind sie bei gesundem Verstand. Jede Psychiatrie, die das nicht anerkennt, ist von Anfang an verloren. Sie sagt uns, das Problem ist nicht die Welt, wir sind es. Sie stimmt lediglich in den Refrain ein, der uns erzählt: „Alles ist gut, alles ist normal – wer bist du, dass du anders darüber denkst?“ Das ist die selbe Botschaft, mit der uns die Medien überfluten, indem sie durch ihre Themenauswahl suggerieren, wir könnten uns die Beschäftigung mit dem Trivialen und Oberflächlichen leisten: Sport, Prominente und so fort. Auch die ganze „Unterhaltungs“-Manie legt nahe, dass unsere Welt heil genug sei, um uns ständige Ablenkung von ihr erlauben zu dürfen. „Alles wird in Ordnung kommen. Mach dir keine Sorgen.“ Ich stell mir das auf der Titanic vor. „Hey Jungs, wir sind ziemlich weit nördlich. Meint ihr nicht, wir sollten langsamer fahren? Hey Jungs, ist das da vorn nicht ein Eisberg?“
„Entspann dich, Charles! Nimm einen Drink. Komm, hör dir die Band an. Alles ist in Ordnung – siehst du? Niemand sonst macht sich Sorgen.“
Wir leben heute nicht nur in einer betrügerischen, lebensfeindlichen Gesellschaft, in die niemand hineinpasst; die Inkompatibilität dieser Gesellschaft mit menschlicher Erfüllung steigert sich auch noch mit jedem weiteren Jahr. Gleichzeitig müssen wachsende Bevölkerungsgruppen medikamentös behandelt werden. Wir haben dies im Zusammenhang mit der vermehrten Allgegenwart der Serotonin-Wiederaufnahmehemmer und ähnlicher Drogen quer durch alle Altersgruppen geschehen sehen. Die Welt wird physisch immer schmerzhafter, weil eine zunehmend giftige Umwelt neue Krankheiten begünstigt, weil Handel und Industrie die Nahrungsversorgung korrumpieren und weil Geschwindigkeit und Druck des normalen Lebens wachsen.
Die Medikalisierung der Gesellschaft trägt noch auf eine andere Weise zum „Leben unter Kontrolle“ bei, indem sie den Ärzten Autorität verleiht. Ein Schullehrer und Freund von mir erzählte, dass die Richtlinien seiner Schule den Drittklässlern lediglich drei Mal am Tag den Toilettenbesuch erlauben, mit der einen Ausnahme – du hast es erraten – Kinder mit ärztlichem Attest. Wenn wir einem Arzt – jemand anderem als der leidenden bzw. nichtleidenden Person – die Autorität verleihen, Gesundheit und Krankheit zu beurteilen, versuchen wir Schmerz, d.h. den primären Hinweis auf Krankheit, zu verdinglichen. Während ausdrückliche Versuche der Quantifizierung von Schmerz gescheitert sind, erlaubt die vorgebliche Objektivität des ärztlichen Schreibens (und seiner derzeitigen Verkörperung im Bereich des Papierkriegs, den unser Gesundheitssystem erzeugt) die Vereinnahmung menschlicher Gesundheit durch das System der technologischen Gesellschaft, wo sie wie alles andere entsprechend der vereinheitlichten, anonymen, objektiven Industriemethoden behandelt werden muss. Das heißt, sie wird zum Aufgabengebiet ausgewiesener Spezialisten. Unglücklicherweise haben die Verdinglichung von Krankheit und die Professionalisierung der Medizin auch uns selbst von unseren Körpern isoliert. Sie haben uns hilflos gemacht bei der selbständigen Heilung, und sie haben Schmerz und Krankheit noch beängstigender gemacht.
Schmerzunterdrückung erinnert eigenartig an die landwirtschaftliche Denkweise. Genau wie der Bauer die schlechten Pflanzen (Unkräuter) herauszieht, damit er ein Feld voller guter (Ernte-)Pflanzen erhält, so unterscheiden wir zwischen guten und schlechten Gefühlen. Das Leben unter Kontrolle bedeutet die Ausmerzung von allem, was schmerzhafte Empfindungen oder Gefühle hervorrufen könnte, eine Zielsetzung gleichbedeutend, so glauben wir, mit der Ausmerzung des Leids selbst.
Die Verwechslung von Schmerz und Leid ist wesentlich. Leid beruht nicht per se auf Schmerz, sondern auf dem Widerstand gegen Schmerz und allgemeiner auf dem Widerstand gegen das Leben. Es ist nicht verwunderlich, dass die technologische Gesellschaft, die auf der Beseitigung des Schmerzes und der Kontrolle der Natur beruht, auf dem Planeten Erde nie gesehenen Schmerz erzeugt hat. Technologie, die sich den normalen Abläufen der Natur widersetzt, wird in unserer Psychologie als Widerstand gegen die normalen Abläufe des Lebens gespiegelt. Unser verinnerlichter Diktator – die Stimme der Kultur – beurteilt und filtert jedes unserer Gefühle und Emotionen, klammert sich an die guten und jätet die schlechten aus. Anhaftung und Abneigung: exakt das, was Buddha als den Ursprung des Leids ausmachte. Der verinnerlichte Diktator, welcher die Kontrolle über jeden Gedanken und jede Emotion aufrecht zu erhalten und auszuweiten sucht, ist nichts weniger als ein Orwellscher Großer Bruder, der ständig zuschaut. Die Gedankenpolizei ist dauernd auf Streife in dieser höchsten Tyrannei des begrenzten Ich über das Unendliche.
Illich schreibt: „[Gute Gesundheit] heißt, sich in Freud und in Leid lebendig fühlen zu können; es heißt, das Überleben zu schätzen, aber auch es zu riskieren“ [Betonung nachträglich hinzugefügt].51 Der erste Schritt in die Freiheit ist, dir selbst zu erlauben, alles zu fühlen, was da zu fühlen ist. Das, und nicht Gedankenkontrolle, ist der wahre Nutzen von Meditation. Das ist ebenfalls mit der Annahme von Gottes Geschenken gemeint. Wenn Gott gut ist, dann ist jeder Augenblick per Definition ein Geschenk, und es abzulehnen heißt, sich von Gott zu distanzieren – so erklären jüdische und christliche Mystiker das Leid.
Das technotopische Versprechen, dass „der Schmerz gestillt werden kann“, hat uns zum dem Glauben verleitet, dass Schmerz nicht gefühlt werden müsse, und dieser Glaube schafft einen Widerstand gegen Schmerz, der das Leid um so mehr verstärkt. Das Versprechen ist eine Lüge, denn Schmerz ist unvermeidlich. Mensch zu sein heißt, in den Schmerz hineingeboren zu werden. Geliebte Menschen verscheiden. Gutes endet. Unsere Körper werden alt, krank und verletzt und eines Tages sterben auch wir. Täuschen wir uns nicht vor, Technologie werde solche Vorfälle eines Tages ausmerzen, oder dass solche Vorfälle nicht schmerzhaft seien. Das Leid entsteht erst, wenn wir uns selbst nicht erlauben, Schmerz zu fühlen, wenn wir Widerstand leisten. Dieser Versuch ist durchaus logisch, wenn wir die große Lüge von der Welt unter Kontrolle glauben: dass nämlich Schmerz nicht gefühlt zu werden braucht. Wenn wir entsprechend dieser Täuschung handeln, sind wir unvermeidlich über unsere Schmerzen aufgebracht und werden daher leicht anfällig für den umfassenden Missbrauch von Opfermentalität und Anspruchsdenken.
Unsere irreführende Verschmelzung von Schmerz und Leid bedeutet, dass das medizinische Programm zur Verminderung und schließlichen Ausmerzung des Leids zum Scheitern verurteilt ist. Weil überdies Leid vom Widerstand gegen den Schmerz herrührt und nicht vom Schmerz selbst, sollte das medizinische Augenmerk auf keinen Fall auf der Beseitigung des Schmerzes liegen – doch genau dazu neigt die reduktionistische, symptomorientierte Medizin normalerweise. Während Schmerzstiller wie Morphin nützlich sind und ihren Platz in der Medizin haben, ist die Aufgabe eines wahren Heilers nicht, das Leben erträglicher zu machen, wozu im Wesentlichen die Unterdrückung von Symptomen neigt. Nein, die Rolle des Heilers ist, genau wie Illich schreibt, dem Patienten zu helfen, sich in Freud und Leid lebendiger zu fühlen. Wir gehen zum Arzt, weil wir Schmerzen haben, und wir erwarten, dass er uns etwas zu deren Beendigung gibt. Das ist ein Fehler. Schmerz ist unser Freund, den man sich natürlich nie aussucht, aber auch nicht bekämpfen sollte. Lass es schmerzen. Wenn wir fühlen, was es da zu fühlen gibt, beenden wir die Trennung zwischen uns selbst und unseren Gefühlen und erreichen dadurch größere Ganzheit, mehr Gesundheit. Die volle Erfahrung von Schmerz öffnet die Tür zur Gesundheit: ob wir nun auf dem Krankenbett liegen, den psychologischen Schmerz der Veränderungen im Leben begegnen oder der unterdrückten Qual des Lebens in einer fehlgeleiteten Welt.
Wenn wir die volle Erfahrung von Schmerzen zulassen, kann das sich öffnende Fenster zur Gesundheit in der Tat die Fähigkeiten eines Chirurgen, Homöopathen, Kräuterkundigen oder anderen Heilers gebrauchen. Ich gebiete dem Leser nicht, einen Bogen um jegliche Gesundheitsfürsorge zu machen! Bitte. Doch körperliche Genesung ist nicht der einzige Nutzen; zum Glück, denn das Heilungsergebnis wird nicht immer das sein, worauf wir hoffen. Heilung kann sowohl im Tod als auch in der Genesung liegen. Ein weiterer Vorteil, dem Schmerz keinen Widerstand zu leisten, ist das unerwartete Wunder, welches dies mit sich bringt: Der Schmerz schmerzt nicht mehr so sehr. Selbst wenn der Schmerz in all seiner Intensität noch vorhanden ist, leiden wir nicht mehr so sehr darunter. In dieser Hinsicht ist Schmerz ziemlich wie jedes andere Objekt der Kontrolle. Kontrolle erzeugt ihre eigene Notwendigkeit, was sich mit der Zeit immer mehr bei immer größeren Kosten verschärft.
Gesundheit bedeutet, in Freud und Leid am Leben zu sein. Ich habe dieses Buch immer als ein Werk des Heilens betrachtet, und ich hoffe, dass du dich durch das Lesen lebendiger fühlst. Um auf die weiter oben besprochenen Depressionen, Ängste usw. zurückzukommen, kann und will ich jenes Leid nicht bessern, indem ich dir versichere, dass es nicht so schlimm ist, dass alles in Ordnung ist. Nein, es ist Stück für Stück so übel wie du befürchtest, und sogar noch schlimmer.
Wenn wir zur Ungeheuerlichkeit unserer Krise und dem Ausmaß unseres Verlusts erwachen, ist die erste Reaktion oft eine niederschmetternde Verzweiflung. Ich bin da hindurchgegangen; ich weiß wie das ist. Doch jenseits von Verzweiflung ist Erfülltheit und der Drang, das Leben in Schönheit zu führen. Wir können eine andere Welt wählen – die „schönere Welt, von der unsere Herzen uns sagen, dass sie möglich ist“ und welcher ich dieses Buch gewidmet habe – aber um sie auszuwählen, muss uns vertraut sein, was wir wählen. Wir müssen uns der Welt, die wir bisher gewählt haben, voll bewusst sein. Den Schmerz der Welt zu kennen, erfüllt mich mit Kraft und bestätigt die Richtigkeit der Marschrichtung meines Lebens. Was würde mich andernfalls davon abhalten, meine Stunden mit dem Trivialen und Vergeblichen zu füllen, es so lange wie möglich bequem zu haben, bis ich sterbe? Wir brauchen unseren Blick nicht von Hässlichkeit und Schmerz abzuwenden, um ein glückliches Leben führen zu können. Unwissenheit ist nicht Seligkeit. Eher das Gegenteil: Je mehr wir uns selbst abschotten, desto schwächer werden wir, desto weniger sind wir fähig, es mit der Wirklichkeit aufzunehmen. Je gefühlloser wir werden und je mehr wir den Schmerz hinausschieben, desto mehr fürchten wir uns davor, bis wir uns willentlich der Gefangenschaft im (vorübergehend) sicheren, vorhersagbaren, kontrollierten Scheinleben unterwerfen, das unsere Gesellschaft bietet.
47 Illich, Medical Nemesis, S. 73 (dt.: Die Enteignung der Gesundheit, 1975)
48 ebd.
49 Commonsense Rebellion von Bruce Shapiro, einem abtrünnigen Psychologen, enthält eine ähnliche Analyse psychiatrischer Störungen wie ADS, Depression usw.
50 Illich, S. 135
51 ebd.
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