Der Aufstieg der Menschheit von Charles Eisenstein
Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters
Unser Gesundheitssystem mit seinem Krieg gegen Keime illustriert eine allgemeine Eigenschaft der Kontrolle. Genau wie ein unbelastetes Immunsystem sich nicht entwickeln kann bzw. sogar überempfindlich wird, und genau so wie Schmerz proportional mit unseren Bemühungen, ihn zu betäuben und hinauszuschieben, ein furchterregenderes Ausmaß erreicht, so erzeugt auch die Eindämmung von Risiken, Herausforderungen und Unbequemlichkeiten Schwäche und Ängstlichkeit gegenüber der Welt.
Wenn wir der Möglichkeit beraubt werden, unsere Grenzen auszuloten, dann fürchten wir sie umso mehr, werden von ihnen eher eingeengt und sind weniger in der Lage, mit ihnen zurechtzkommen; und trotz unseren Kontrollbestrebungen präsentiert die Wirklichkeit uns eine neue Herausforderung. Diese Beraubung beginnt in früher Kindheit mit dem Laufstall, durch überfürsorgliche Eltern und allgemein durch das Regime des „Sicher ist sicher“, welches die moderne Gesellschaft infiziert hat. Erinnere dich an den hinteren Teil von Illichs Definition guter Gesundheit: „...das bedeutet, das Überleben wertzuschätzen, aber auch zu riskieren.“ Traditionelle Gesellschaften erlaubten Kindern produktive, sanktionierte Wege der Erforschung ihrer Grenzen – reale Grenzen, nicht die künstliche Freiheit der laufstallummantelten Sicherheit. Des weiteren waren die Folgen ihrer Fehler real. Die Eltern mögen sagen: „Klopf nicht an jenen Bienenstock, sonst werden die Bienen dich stechen“, würden aber nicht physisch oder verbal eingreifen, um das Kind davon abzuhalten, es dennoch zu tun. Im Ergebnis gewann die elterliche Stimme Autorität weit jenseits der furchtbasierten Macht durch Bestrafung, die Eltern heutzutage anwenden; gleichzeitig lernte das Kind, dass die Konsequenzen real sind.
John Taylor Gatto beobachtete, dass es eine der unausgesprochenen Schullektionen ist, dass Handlungen keine wirklichen Folgen haben. Kindern wird im Grunde nicht erlaubt zu versagen, jedenfalls nicht bei irgendetwas Realem. Lehrer und auch Eltern neigen dazu, schlechte Arbeit zu loben, um „das Selbstwertgefühl zu steigern“, ohne zu verstehen, dass das Kind selbst den Unterschied kennt – zumindest Anfangs. Schließlich jedoch verwechselt das Kind Lob von Seiten der Autorität mit echter Befriedigung am Schaffensprozess und bereitet sich so auf ein Leben vor, in dem es Dinge für den Abschluss tut, für den Kunden, für den Gehaltsscheck. Auf diese Weise werden wir dem fremd, was wir wirklich lieben; unsere Leidenschaft geht uns verloren, und damit verlieren wir unsere Leidenschaft fürs Leben. Auf der Kehrseite der Münze lehrt das Fehlen echter Strafen das Kind, dass sozial destruktives Verhalten keine Folgen hat. Doch selbst Strafe ist nur ein Ersatz für reale Folgen.
Als mein Sohn Matthew vier oder fünf Jahre alt war, wollte er genau wie sein großer Bruder ein Taschenmesser haben. Ich entschied mich, ihm eins zu geben und erklärte sorgfältig: „Dieses Messer ist scharf, Matthew, und wenn du nicht vorsichtig bist, wirst du dich damit schneiden.“ Was geschah? Er war natürlich unvorsichtig und schnitt sich. Nicht sehr ernst, aber es schmerzte und blutete. Was lernte er daraus? Einmal lernte er, dass Messer tatsächlich gefährlich sind – an sich, nicht weil man erwischt werden könnte, während man es unerlaubt benutzt. Zweitens lernte Matthew, dass Papa ein schlauer Kerl ist. Papa hatte recht mit dem Messer. Wenn Papa sagt, dass etwas passieren könnte, ist es eine gute Idee zuzuhören.
Egal wie tief und sorgfältig wir Kinder mit unserer Macht ängstigen, um ihre Überlebensangst zu aktivieren, ihre natürliche Neugier und ihr Trieb, Grenzen auszutesten, werden sie schließlich dazu bringen, „es trotzdem zu versuchen“, oft im Geheimen. Wenn sie, wie das häufig der Fall ist, herausfinden, dass die Konsequenzen nicht so schlimm sind, wie ihre Eltern behaupteten, dann verliert elterliche Autorität alle Glaubwürdigkeit. Sie finden heraus, dass niemand ein Auge verliert, wenn sie drinnen Papierflieger werfen, dass sie Marihuana rauchen können, ohne in einer Opiumhöhle zu landen, dass das Lesen von Harry Potter nicht zu satanischen Opferritualen führt. Nun ist die Bühne für Tragödien vorbereitet. Auf der einen Seite sind sie immer von den wirklichen Folgen ihrer Handlungen isoliert worden. Auf der anderen Seite sind die verabreichten Ersatzkonsequenzen (Bestrafungen) nicht mehr wirksam, denn der schlaue Teenager entzieht sich ihnen leicht durch Autoritätsbetrug, nicht durch Verzicht auf das Verhalten. Im Resultat verhält sich der Teenager, als ob er unsterblich oder unverletzlich wäre und belügt seine Eltern über alles was er tut.
Weil Menschen einen inneren Drang zur Erkundung von Grenzen und Infragestellung von Schranken haben, zwingt die heutige Sicherheitsmanie den Teenager zu unerlaubten, hoch gefährlichem „Risikoverhalten“. Ein ganzes Leben aufgestauten Verlangens drängt beim ersten Geruch von Freiheit nach außen, z.B. wenn er das College verlässt. Tragischerweise versagen diese Verhaltensweisen nichtsdestotrotz bei der Entdeckung und Ausweitung wichtiger Grenzen. Es ist eine unausweichliche Tatsache, dass es keinen anderen Weg des Wachsens gibt, obwohl die Erforschung der eigenen Grenzen inhärent unsicher ist. Wenn mein fünfjähriger Sohn sagt: „Papa, schau mal wie weit ich den Baum hinaufklettern kann“, dann bezähme ich mich selbst, ihn aufzuhalten. Und tatsächlich erweist sich Matthew als ziemlich umsichtig. Es ist nicht meine Autorität („Nicht weiter als bis zu diesem Ast!“), sondern eher seine eigene Vorsicht, die seinen Aufstieg begrenzt. Stell dir die Folgen vor, wenn Autorität immer wieder die kindliche Entdeckungsreise aufhält, bevor die Grenzen der Vorsicht erreicht sind. Das Kind wird zur Definition seiner Sicherheit und Gefährdung von äußerer Autorität abhängig werden, während seine eigene Urteilskraft schwindet. Ohne je eine Chance gehabt zu haben, seine eigene Urteilsfähigkeit zu entwickeln, nimmt so eine Person häufig törichte Risiken auf sich. Doch paradoxerweise ist so eine Person, weil sie zur Gefahrenbestimmung chronisch auf Autoritäten angewiesen ist, auch leicht mit Furcht zu lenken. (Ich überlasse die politischen Konsequenzen der Vorstellungskraft des Lesers. Viel ist davon allerdings nicht nötig. Lies nur die Zeitung.)
Natürlich weiß ich, dass das Besteigen von Bäumen gefährlich ist und dass Tesafilm Holz nicht zusammenhält und dass es heute viel zu heiß für Langärmliges ist. Wissenschaftliche Experten können uns die neueste Optimalernährung zeigen oder wie man sich bewegt, lernt, gesund und behütet bleibt. Aber es ist eine Sache, meine Wahrheit zu verkünden („Matthew, es wird dir in diesem Sweater heiß werden“), und eine andere, sich dazu zu versteigen, jemanden zu zwingen sie einzuhalten. Wie Gatto sagt: „Die Pläne, die wahre Gläubige für unser Leben festlegen, mögen gemessen an einem offiziellen Standard ’besser’ als unsere eigenen sein, aber jemandem eine persönliche Anstrengung zu verwehren, heißt, die Menschen ihres Lebens zu berauben; was bleibt uns, wenn uns unsere Anstrengungen genommen wurden, außer ein unsägliches Chautauqua, eine Lügenwelt, die von dem unehrlichen Versprechen angetrieben wird, dass, wenn nur alle Regeln eingehalten werden, ein gutes Leben folgen würde?“52
Ich möchte dem hinzufügen, dass ich meinen Zweijährigen nicht auf eine belebte Straße hinauslasse. Ich schütze meine Kinder vor Gefahren, die jenseits ihres Verständnishorizonts sind.
Das Sicherheits-Regime ist eine Facette der „Welt unter Kontrolle“, die sich direkt auf die zugrundeliegenden Annahmen über das Leben, das Selbst, die Welt und Sinnhaftigkeit zurückführen lässt. Es ist ein Auswuchs der Überlebensangst und wohnt unserem Verständnis davon inne, wer wir sind (selbständige Subjekte) und weshalb wir hier sind (grundlos, nur das zufällige Nebenprodukt des Kampfes um Überleben und Vermehrung). Wie wir gut wissen ist das Sichere selten lustig. Was sicher ist, ist fast per Definition vorhersagbar – frei von zufälligen Variablen, die „Risiken“ mit sich bringen. Aus dem selben Grund ist Sicherheit der Kreativität, bei der es um Neues geht, abträglich, und damit der Feind des Spiels. Daher der Rückgang des unstrukturierten, unüberwachten Spiels gegenüber dem Zurückhaltenden, Kontrollierten und Programmierten, das in immer jüngere Altersgruppen vordringt.
Die Herrschaft des Sicheren wie auch des Rests der Welt unter Kontrolle verlangt dauernde Aufrechterhaltung, um den angeborenen menschlichen Trieb zur Überwindung alter Grenzen – d.h. zu wachsen – zu unterdrücken. Die Kontrolle beginnt mit äußerem, offenen Zwang, um dann allmählich subtiler und tiefer verinnerlicht zu werden. Üblicherweise erfolgt der letzte Aufschrei des Überwindungstriebs während der Pubertät und nennt sich Unreife, Aufsässigkeit oder jugendlicher Idealismus. In ihren frühen Zwanzigern haben die meisten genug „Selbstbeherrschung“ erlernt, damit man ihnen außerhalb der Schranken offensichtlicher Zwangseinrichtungen, wie Schulen und Gefängnissen, traut. Wir sind dann im Geist tot, ein Zustand, den man „Erwachsensein“ nennt. Oder wenn schon nicht tot, dann wenigstens geschlagen, gebrochen, unterdrückt. Trotzdem ist die elementare Energie des Wachsens, obwohl sie frustriert wurde, immer noch vorhanden und immer noch eine potentielle Bedrohung für eine auf Minderung der menschlichen Kreativeneergie errichteten Gesellschaft. Die Gesellschaft leitet diese Energie deshalb in diverse verbotene oder abseitige Kanäle, die den status quo nicht gefährden. Das ist ein Leben im Laufstall, eine verkapselte Umwelt, in der wir nicht allzuviel Durcheinander anrichten können.
Drei Beispiele sind besonders erhellend. Das erste ist das selbstzerstörerische Verhalten des Sich-Zudröhnens, d.h. der Missbrauch von Drogen und Alkohol, zusammen mit hoch riskanten Aktivitäten wie das Fallschirmspringen und das Rasen und deren Nachahmung in Vergnügungsparks. Wenn einem alle anderen Wege der Überwindung von Grenzen verweigert werden, sei es tatsächlich oder eingebildet, dann ist das logische Ergebnis selbstzerstörerisches Verhalten. Falls nicht auf anderem Wege werde ich meine Grenzen im Sterben überwinden.
Mit der Gewalt gegen sich selbst ist ursächlich die Gewalt gegenüber der Welt verbunden. Es ist das Verlangen zu zerschlagen, die Welt zu zerschlagen, die sich scheinbar verschworen hat, uns zum Stillstand zu bringen. Dicht unterhalb unserer zivilisierten Hülle liegt ein enormer Zorn verborgen, ein Drang zu zerstören, zu zerschlagen, zu verbrennen, der sich beim ersten Zeichen des Versagens autoritärer Kontrolle manifestiert: im Grunde alles, was in die soziale Sparte des „Anderen“ fällt, z.B. Minderheiten, Ausländer, andere Spezies oder das Land selbst. Ich habe Gewalt weiter oben als „verleugnete Sehnsucht“ definiert; Joseph Chilton Pearce denkt in ähnlichen Bahnen, wenn er sie auf verhinderte Grenzüberschreitung zurückführt.53 Gewalt ist das, was geschieht, wenn wir keinen Weg zur Verwirklichung der schöneren Welt und des schöneren Lebens sehen, von denen unser Herz sagt, dass sie möglich sind.
Das dritte Beispiel kanalisierten Verlangens nach der Ausdehnung von Grenzen ist die Identifikation mit Sportmannschaften, Filmstars und Fernsehcharakteren, die uns aus zweiter Hand mit falschen Erfahrungen des Strebens nach großartigen Dingen und dem Verschieben unserer Grenzen versorgt. Selbstverständlich bietet echte Beteiligung am Sport (und im Theater) authentische Möglichkeiten, Grenzen des wer-wir-sind und was-wir-tun-können zu testen, und können damit Teil der Entfaltung menschlicher Fähigkeiten sein, doch meistens begnügen wir uns damit, anderen Leuten dabei zuzusehen. Ein weiterer Kanal ist die Pseudorebellion mit dreisten Frisuren, aufsässiger Kleidung, harter Musik, geschmacklosen Latschen und anderen Bekundungen gekaufter Individualität.54
Mögen uns diese Kanäle oder Ablenkungen auch vorübergehend beruhigen, der menschliche Geist bemerkt schließlich den Betrug und macht sich auf die Suche nach der wahren Transzendenz. Die ungelenkte Wut, die aus der Frustration des natürlichen Verlangens nach Grenzerkundung und Wachstum folgt, kann lediglich durch ausgeklügelte innere und äußere Kontrollsysteme eingedämmt werden. Und selbstverständlich verschlimmert Kontrolle die Frustration nur noch, was die Wut verschlimmert, was die Intensivierung von Kontrolle in einem unendlichen Teufelskreis nötig macht. Wie ich beschrieben habe, wird die Kontrolle während der Kindheit im Zuge der Bedrohung des Überlebens durch elterliche Zurückweisung etabliert. Früh verinnerlicht bedarf sie ständiger Verstärkung, denn der menschliche Geist ist kräftig. Weil wir deren Gegenstand nicht erkennen können (weil er uns durchdringt) kanalisieren wir unsere Wut auf erlaubte Ziele mit erlaubten Mitteln. Wenn wir durch Zufall auf das wahre Ziel stoßen und den status quo gefährden, folgt die Strafe umgehend und sicher. Die Lektion, die wir beim Auskeilen gegen die Formen, Institutionen und Funktionäre der Autorität lernen, lautet, dass Widerstand so zwecklos ist, als ob ein Schüler eine Rauchbombe in der Toilette zündet. Jede Herausforderung ihrer Autorität versetzt Schulverwaltungen in Panik – eine unabhängige Schülerzeitung, ein Dummejungenstreich, eine symbolische Spontanrebellion, bei der alle Schüler eines Tages Schwarz tragen. Einer meiner Studenten zeichnete ein typisches Bild: der Rektor, der vor den Schülern auf und ab marschiert, mit einer Untergrundschülerzeitung wedelt und außer sich vor Wut schreit: „Wer ist hierfür verantwortlich? Ich will Namen!“
Und so wird der oben beschriebene Teufelskreis durch die unerbittliche Straffung der Herrschaft der Kontrolle in unseren Schulen veranschaulicht: Viele von ihnen haben jetzt Videokameras, Polizeistreifen, Maschendrahtzäune, unangekündigte Schließfachkontrollen, Metalldetektoren, Drogenspürhunde, Spitzelnetzwerke, verdeckte Ermittler die sich als Schüler ausgeben und ein umfangreiches System von Durchlässen, so dass der befugte Verbleib jedes Schülers zu allen Zeiten nachgewiesen ist. Welch perfekte Vorbereitung für ein Leben im Gefängnis oder einer totalitären Gesellschaft! Das Ergebnis ist so ziemlich das, was wir von jedem technologischen Lösungsansatz erwarten dürfen: Mehr Kontrolle hat die Lage weit explosiver statt sicherer gemacht, rechtfertigt aber noch mehr Kontrolle. Es zeigt Parallelen zum Ergebnis des Technologischen Programms: Das Leben ist tatsächlich nicht sicherer, leichter oder bequemer geworden, und die ganze Konstruktion wankt an den Rand einer Katastrophe zu.
Totalitarismus ist das unausweichliche Ziel einer Gesellschaft, die auf dem Technologischen Programm zur Erreichung völliger Wirklichkeitskontrolle gegründet ist. Als praktisches Beispiel: Die Ingenieurs- und Managerdenkweise verwendet ihre Methoden – Fabrikmethoden – natürlicherweise zur Führung wie auch zur Herstellung, und begünstigt die völlige Inventarisierung, Standortverfolgung, Zählung und Klassifizierung der Bevölkerung. Ihre Techniken eignen sich auch zur Kontrolle: Denk an die Orwellschen Möglichkeiten der Biometrie und durchgängiger automatisierter Überwachung im Computerzeitalter. Auf eher theoretischer Ebene bedeutet die falsche Unterscheidung zwischen Selbst und Anderem, dass Kontrolle über die Welt – das Andere – in der Unterjochung auch unser selbst enden wird, wie Martin Prechtel es ausdrückt: „Wenn die gesamte Welt eingezäunt und bebaut ist, werden wir uns in einem Gefängnis befinden.“55 Oder wie Derrick Jensen sagt: „Wenn wir jemanden einsperren, müssen wir auch einen von uns selbst als Wache hineinstecken. Gleichfalls müssen, wenn wir einen Teil von uns selbst einsperren, andere Teile ins selbe Verlies ziehen.“56 Völlige Kontrolle über die Welt führt unvermeidlich auch zu völliger Kontrolle über uns selbst sowohl auf kollektiver, politischer Ebene als auch persönlicher, moralischer Ebene. Mit jeder Kontrollintensivierung sucht der individuelle und kollektive Geist des Menschen neue Auswege, neue Türen zur Freiheit, die, wenn sie zugeschlagen werden, das Verlangen weiter verstärken. Die Welt unter Kontrolle ist wie ein undichter Dampfdruckkochtopf: Wenn man alle Löcher stopft, baut sich Druck auf, der andere, zuvor unsichtbare Nähte brechen lässt. Das Programm völliger Kontrolle möchte sämtliche möglichen Lecks ein für alle Male versiegeln. Ich überlasse es dem Leser sich vorzustellen, was dann geschieht.
Die Kontrolle der Welt enthält an sich schon die Trennung von der Natur, wie auch der bloße Technologiebegriff eine Verdinglichung der zu manipulierenden Wirklichkeit erfordert. Kontrolle impliziert die Umgehung oder Änderung dessen, was natürlicherweise geschehen würde. Selbstverständlich übt jeder Teil der Natur die ganze Zeit zielgerichtet Einfluss auf seine Umgebung aus, wie ich in Kapitel II feststellte. Kontrolle ist keine exklusive Domäne des Menschen. Daher könnten wir Kontrolle und Trennung gewissermaßen als „natürlich“ ansehen. Wie so mancher Salonphilosoph bemerkt hat, sind Menschen Teil der Natur, so dass alle unsere Handlungen als natürlich betrachtet werden können. Der Schaden entsteht durch den irrtümlichen Glauben, dass wir von der Natur getrennt seien, und nicht durch tatsächliche Getrenntheit. Es ist diese falsche Auffassung von Getrenntheit, die erlaubt anzunehmen, dass wir von den Naturgesetzen ausgenommen seien. Allein das Wort „Natur“, wie es üblicherweise benutzt wird, ist ein Merkmal des Problems; als ob es da einen anderen, nicht-natürlichen Bereich gäbe, der eine Ausnahme darstellt. Wenn ich also von Trennung von der Natur spreche, meine ich in Wirklichkeit das Vergessen, die Loslösung, die Täuschung. Es meint alles, das uns glauben lässt, die Gesetze und Abläufe der Natur träfen nicht auf uns zu.
Die Aussage, dass alle Organismen Kontrolle über ihre Umgebung ausüben, schmuggelt ein heimtückisches Zerrbild von der Natur des Selbst und der Welt herein. Kontrolle schließt eine Verminderung der Unsicherheit ein, eine Verminderung schädlicher Möglichkeiten zugunsten von nützlichen. Sie schließt genauso die Ausübung von Macht über die Umwelt ein. Doch wenn Selbst und Umwelt nicht so streng abgesteckt sind und wenn ein Organismus nicht nur als selbständige Einheit gesehen wird, die mit uns im Wettbewerb um Ressourcen steht, sondern als wesentlicher Bestandteil zur Aufrechterhaltung der Gesamtheit, dann verliert das ganze Kontrollkonzept seine Stimmigkeit. Wir könnten genauso annehmen, die Umwelt lade die Wirkungen ein, die ein Organismus zu bieten hat, indem sie eine entsprechende Nische anbietet. Die Verhaltensweisen aller lebenden Kreaturen leisten einen Beitrag zum Funktionieren des planetaren Ökosystems. Nichts in der Natur ist überflüssig. Nichts (außer Wärmestrahlung) wird je „fort“geworfen – es gibt kein Fort. Der Fehler an der Trennung liegt darin, dass wir uns vom Gegenteil überzeugt haben, nicht dass es uns tatsächlich gelungen wäre, uns von der Natur abzukapseln.
Wenn menschliches Verhalten und Technologie von solch einem nichtdualistischen Selbst- und Umweltbild geprägt wären, dann wäre unser Ziel als bewusste, selbstbewusste Wesen nicht die in den olympischen Technotopia-Idealen enthaltene Verdrängung der Natur, sondern die Entdeckung und Erfüllung der uns angemessenen Rolle. Wir würden die Technik den Regeln und Mustern anzupassen suchen, welche die restliche Natur leiten. Es gäbe keinen Abfall oder Äußerlichkeiten. In den weiteren Kapiteln des Buches werde ich den Weg „zurück zur Natur“ vertreten; nicht im Sinne des Aufgebens von Technologie, sondern eher, um eine neue Verwendung für alle Aktivitäten der technischen Gesellschaft im Sinne der Naturgesetze und -prozesse zu finden. Alles andere wäre Torheit – sofern unsere dualistische Trennung von Selbst und Umwelt tatsächlich eine Täuschung ist. Das nächste Kapitel wird dann zu den wissenschaftlichen Themen zurückkehren, die in „Der Lauf der Welt“ (Kapitel III) angesprochen worden sind, um das Bröckeln des wissenschaftlichen Unterbaus vom selbständigen, getrennten Selbst in einem objektiven Universum zu beschreiben.
52 Gatto, S. 129. Chautauqua bezieht sich auf ein Ideal sozialen Ingenieurswesens, das in diesem Buch zur Sprache kommt.
53 Pearces „Biologie der Transzendenz: Neurobiologische Grundlagen für die harmonische Entfaltung des Menschen“ (Arbor, 2004) beleuchtet auf bemerkenswerte Weise die Notwendigkeit von, und die Mittel zur Überwindung [von Grenzen; orig.: transcendence. Übers.] und die Folgen ihrer Verhinderung.
54 Einen wortgewandten und leidenschaftlichen Überblick dieses Phänomens enthält „Commodify your Dissent: Salvos from The Baffler“ von Thomas Frank und Matt Weiland (Hrsg.), W. W. Norton & Company, 1997
55 Martin Prechtels Ansprache auf dem Green Nations Gathering, September 2003
56 Jensen, S.320
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