Der Aufstieg der Menschheit von Charles Eisenstein
Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters
Das Zeitalter der Trennung hat sich in all seinen Dimensionen vor uns entfaltet. Die Verdinglichung und Reduzierung der Welt, die Umwandlung von Leben in Geld, das Verständnis- und Kontrollprogramm, die Entfremdung des selbständigen und getrennten Selbst – sie alle erreichen in unserer Zeit ihren historischen Zenit. All jene Facetten der Trennung bündeln sich im offiziellen Dogma unserer Zivilisation: der Wissenschaftsreligion. Vor einem Jahrhundert jedoch sind neue Gegenströmungen innerhalb der Wissenschaft selbst aufgestiegen, die nun zu einem sich anbahnenden Zeitenwechsel beitragen. Dieser folgenschwere Wandel ist sowohl Antrieb als auch Spiegel noch umfassenderer Änderungen, einer massiven Umformung aller Dimensionen der Trennung, aus denen der Aufstieg der Menschheit besteht.
Wie die meisten Religionen enthält die Wissenschaft eine Ideologie, ein Programm und eine Methode. Die Wissenschaftsideologie schließt unsere grundlegende Geschichte der Welt ein und wie sie funktioniert, unsere Unterteilung des Möglichen in Reales und Imaginäres und unsere Definition dessen, welche Art Wissen Gültigkeit besitzt. Dieses Programm habe ich das Wissenschaftliche Programm genannt. Es ist der Ehrgeiz, zu Descartes’ „Herren und Eigentümern“ des physikalischen Universums zu werden, d.h. alle Erscheinungen in den Bereich des Messbaren, Vorhersagbaren und Kontrollierbaren zu bringen, damit alles Wissen auf einer festen Grundlage experimentell verifizierbarer, objektiver Wahrheit ruhe.
Das dritte Element der Wissenschaftsreligion, die Wissenschaftliche Methode, bezieht ihre Gültigkeit aus der Ideologie der Wissenschaft und seine Motivation vom Programm der Wissenschaft. Ich habe bereits erläutert, inwiefern die Wissenschaftliche Methode auf der Wiederholbarkeit von Experimenten, der Überprüfbarkeit von Hypothesen und schließlich auf der Unterstellung von Determinismus1 und Objektivität beruht. Wissenschaftliche Untersuchungen allgemein – wie auch eine wissenschaftliche, rationale Herangehensweise ans Leben – setzen voraus, dass es da draußen eine Wirklichkeit gibt, die wir befragen, prüfen, verstehen und zu gegebener Zeit vorhersagen und kontrollieren können. Hierin besteht das Streben nach Gewissheit, und Verständnis erwächst auf der Grundlage von Fakten. Wenn man sich an die Fakten und auf ihnen beruhende Schlussfolgerungen hält, bleibt man objektiv und erhält Wissen höherer Verlässlichkeit.
Die Voraussetzung des Determinismus prägt das normale Kausalitätsverständnis und bestätigt das Technologische Kontrollprogramm. Das bedeutet, dass nichts geschieht, was nicht verursacht worden ist. Ereignisse geschehen nicht spontan, geheimnisvoll, durch Zauberei und ohne Ursache. Ereignisse folgen vorhersagbar aus Ursachen. Wenn wir die Ursachen der Erscheinungen herausfinden können und sie dann beherrschen, werden wir zu Meistern über die Realität. Mit genügend Verständnis gibt es nichts, das nicht eines Tages in den menschlichen Herrschaftsbereich gebracht werden könnte.
Ich möchte betonen, wie tief der Determinismus mit unserem Glaubenssystem verwoben ist. Tu dasselbe auf die selbe Weise und du musst das selbe Ergebnis erhalten. Du siehst jemanden einen Feuerstein schlagen und einen Funken erhalten. Du versuchst es und es funktioniert nicht. Folgerst du dann lediglich: „Manchmal funktioniert’s, manchmal nicht“? Nein, du nimmst an dass du etwas anders gemacht hast. Du untersuchst deinen Stein – ist es dieselbe Sorte? Du untersuchst deine Schlagbewegung. Du versuchst dein Bestes, die Umstände nachzustellen, unter denen es das erste Mal geklappt hat. Determinismus ist absolut grundlegend für einen rationalen Umgang mit der Welt. Ich betone das, damit die Bedeutung des Versagens des Determinismus klar wird. Wir sind noch immer weit, weit entfernt, den daraus resultierenden psychologischen Schock verkraftet zu haben.
Die Objektivität ist gleichermaßen wichtig für unser Verständnis von der Welt und für unser Verhältnis zu ihr. Sie besagt, dass es eine objektive Wirklichkeit da draußen gibt, die beobachtet, vermessen, quantifiziert und kontrolliert werden kann. Sie sieht für dich und für mich gleich aus – jeder scheinbare Unterschied rührt lediglich von verschiedenen Blickwinkeln oder Deutungen eines unabhängig existierenden Universums her. Ihre Gesetze sind unveränderlich: Gott betreibt die Welt weder entsprechend wechselhafter Launen noch wirken ihre Gesetze für dich und mich verschieden. Aussagen wie „Das Einhorn war da – wirklich da – für mich, aber nicht für dich“ verstehen wir als den absoluten Inbegriff der Unvernunft. Na komm schon, war es da oder nicht? Das selbe gilt für „Der Computer tut’s bei dir, aber nicht bei mir, sogar wenn ich nichts anders mache“. Vernunft wie wir sie kennen beharrt darauf, dass irgendetwas anders gewesen sein muss, entweder bei uns oder in der Umwelt, was den Computer sich diesmal hat anders verhalten lassen.
Das Streben nach Objektivität beeinflusst beinah jeden Bereich menschlicher Unternehmungen, alles was wissenschaftlich zu sein versucht. Es ist tatsächlich sehr schwer, Ausdrücke wie „wissenschaftlich“ oder „rational“ zu definieren, ohne sich auf eine Spielart der Objektivität zu berufen. In der Wissenschaft wird vom Experimentator erwartet, dass er eine objektive Distanz zu seinen Experimenten einhält, weil man annimmt, dass es keine notwendige, unauslöschliche Verbindung zwischen ihm und dem zu studierenden System gibt. In der Medizin wird Objektivität durch die kontrollierte Doppelblindstudie verkörpert, welche die objektiven Wirkungen einer Therapie zu isolieren versucht, so dass wir wissen, wie gut sie „wirklich funktioniert“, unabhängig von Einstellungen und Schwächen bei Patient oder Arzt. In der Landwirtschaft mögen wir zwei identische Felder mit Kulturen anpflanzen, die sich nur in einer wichtigen Variable unterscheiden, um dann die Differenzen bei der Ernte zu messen. Im Rechtswesen wird vom Richter die Aufrechterhaltung der Unparteilichkeit erwartet und dass er lediglich „Fakten“ berücksichtigt. Im Journalismus enthält der Glaube an die Objektivität, dass ein Berichterstatter nur das ist: jemand der „Bericht erstattet“ über die Tatsachen da draußen. Er sollte nicht tatkräftig an jenen Ereignissen teilnehmen, denn dann wäre er nicht länger objektiv.
Gemeinsam versprechen uns Determinismus und Objektivität Technologien, die grundsätzlich und allgemein angewendet werden können. Ihr standardgemäßer Gebrauch hat ein vorhersagbares Ergebnis. Die ausführende Person ist austauschbar, genau wie ein wissenschaftliches Experiment von jedem kompetenten Experimentator wiederholbar sein sollte. Die Maschinenzivilisation ist von dieser Austauschbarkeit abhängig. Macht über das physikalische Universum entsteht durch Methode und Struktur. Folge den vorgeschriebenen Abläufen, und du wirst zuverlässig das vorhergesagte Ergebnis erhalten. Egal wer sie verordnet, die richtige Dosis Antibiotika, die man entsprechend objektiv bestimmter Anweisungen einnimmt, wird die Halsentzündung heilen. Es kommt nicht auf die Absichten des Kanoniers an: Die Kanonenkugel wird unbeirrt der selben Bahn folgen, solange Ausgangswinkel und Antriebskraft kontrolliert werden. Die Meisterung der physikalischen Welt durch die technologische Zivilisation ist kein bisschen weniger als ein Feuersteine bearbeitender Höhlenmensch vom Besitz verlässlicher, verallgemeinerbarer Kontrollmethoden abhängig. So scheint es zumindest.
Das ist die Gründungsphilosophie, welche die wissenschaftlichen Revolutionäre begeisterte und noch immer das Programm des Verstehens und der Kontrolle antreibt. Nach Galileo und Newton erweiterte das Wissenschaftliche Programm für mehrere Jahrhunderte die Grundlagen der Kontrolle, indem es ein immer feineres Verständnis der „Gründe“ und des einen „Grundes“ der Welt gewann und immer detailliertere Beobachtungen der Wirklichkeit da draußen machte, bis es auf der Grundebene des subatomaren Bereichs angekommen war. Hier sollten die Bausteine des Determinismus und der Objektivität zu finden sein, welche die wissenschaftliche Vernunft verkörpern. Und dann erfolgte der Schicksalsschlag.
Der Schlamassel für Wissenschaft und Vernunft ist einfach, dass Determinismus und Objektivität auf subatomarer Ebene, dem eigentlichen Grundgestein des gesamten Wissenschaftsgebäudes, nicht gelten. Auf der elementarsten Ebene der Realität sind unsere wissenschaftlichen Intuitionen (wie in den obigen Aussagen über Einhörner und Computer zum Ausdruck gebracht) einfach falsch.
Im Ergebnis haben die letzten acht Jahrzehnte eine rasche Wucherung der Interpretationen der Quantenmechanik gesehen, welche die Unbestimmtheit und die Beobachter-Abhängigkeit des Quantenbereichs mit Determinismus und Objektivität – von denen wir „wissen“, dass sie die Welt der alltäglichen Erfahrung auszeichnen – zu versöhnen versuchen. Keiner dieser Ansätze war erfolgreich – ein deutlicher Unterschied zur Newtonschen Mechanik, die wenig ernsthafte Dispute darüber auslöste, was das alles zu bedeuten habe, da sie zum Zeitgeist passte. Der gegenwärte Mangel an Übereinstimmung bezüglich der Interpretation der Quantenmechanik – die immerhin an die Grundlagen der Physik geht – gibt Zeugnis für deren Unvereinbarkeit mit unserer elementaren Seinslehre.
Es würde den Rahmen dieses Buches sprengen, eine vollständige Übersicht darüber zu geben, wie Quantenmechanik im Einzelnen Determinismus und Objektivität verletzt. Ich verweise den Leser auf umfangreiche nicht-technische Literatur zu diesem Thema, speziell die Arbeiten von Paul Davies, Nick Herbert, David Wick, Roger Penrose, Fritjof Capra, David Deutsch und Johnjoe McFadden. Besonders empfehle ich die letzten zwei: Deutschs The Fabric of Reality wegen seiner deutlichen Darstellung der viele-Welten-Interpretation, die derzeit in Mode ist, und McFaddens Quantum Evolution wegen seiner eleganten anschaulichen Einführung in das grundlegende Paradox der Messung.
Dass der Determinismus in der Quantenmechanik verletzt wird, ist nicht so sehr eine Herausforderung für konventionelle Vorstellungen vom Selbst und der Welt wie die Verletzung der Objektivität; beginnen wir beim ersten. Determinismus besagt, dass die Ausgangsbedingungen die Endbedingungen vollständig vorherbestimmen; mit anderen Worten: Wenn du genau das selbe Experiment zweimal durchführst, bekommst du das selbe Ergebnis. Dies ist eine wesentliche Annahme für die Forderung nach Wiederholbarkeit, damit man wissenschaftliche Fakten bestimmen kann. In der Quantenmechanik jedoch ist diese Annahme falsch. Schicke einen Strom von Elektronen, Photonen oder im Grunde irgendwelchen Partikeln durch einen Spalt auf einen Leuchtschirm und die letzte gefundene Position jedes Einzelnen wird anders sein. Die allgemeine Verteilung der Teilchen wird vollständig von mathematischen Gleichungen beschrieben, aber das Schicksal jedes individuellen Teilchens unterliegt dem Zufall. Eines kann nach links wandern, das nächste rechts, das nächste geradeaus, und es gibt keine Erklärung für dieses Verhalten.2 Das ist akausal, verletzt also eine zentrale Annahme des Wissenschaftlichen Programms, dass nämlich mit genügend sorgfältiger Untersuchung der Natur die Ursache für alles gefunden werden kann. Hier, exakt am Fundament der reduktionistischen Pyramide, verhält sich Materie akausal, unvernünftig, ein Zustand so beunruhigend für die wissenschaftliche Orthodoxie, dass sich Einstein zu seinem berühmten Protest hinreißen ließ: „Gott würfelt nicht.“3
Wenn du nicht so beunruhigt bist wie Einstein, dann hast du wahrscheinlich nicht so viel darüber gegrübelt wie er. Also denk nach. Es gibt keinen Grund für das Verhalten des Photons. Warum hat es einen bestimmten Pfad genommen? Die einzige Antwort lautet: Weil es das tat. Nichts hat es gezwungen links auszuscheren, oder rechts oder sich gradeaus zu halten.
Die Unbestimmtheit der Quanten liefert uns eine neue Quelle für Metaphern und Einsichten ins menschliche Leben. Der Newtonsche Determinismus trug zu dem Gefühl bei, auch wir seien Massen und unsere Lebensbahn völlig von den auf uns wirkenden Kräften vorherbestimmt. Doch möglicherweise sind wir eher wie ein Quantenteilchen, dessen Pfad von äußeren Kräften eingeschränkt oder beeinflusst wird und das sich doch verhält, als ob es seine eigenen Entscheidungen träfe. Die quantenmechanische Metapher ist eine über Wahlmöglichkeiten, Willensfreiheit, Selbstbestimmtheit. Verzeih, wenn die folgende Metapher ein bisschen blöd klingt, doch womöglich werden wir durch die Öffnung äußerer Umstände in Richtung eines hochwahrscheinlichen Ziels geworfen; wir haben dann die Macht, dieses auszuwählen oder ein stark davon abweichendes. Und niemand kann vorhersagen, wohin unser Pfad uns führt und keine äußere Macht kann uns unsere Wahl vorschreiben.
In der Quantenmetapher sind Wahlmöglichkeiten das menschliche Gegenstück zur zufälligen Quantenverteilung. Beide sind nicht-reduzierbare, unabdingbare Eigenschaften des betreffenden Gegenstands. Wir können für unsere Wahl Gründe, Rechtfertigungen und Ausreden angeben; wir können erklären, warum wir „tun mussten“, was wir zu tun gewählt haben, aber Tatsache ist, dass es immer eine Wahl gibt. Indem wir auf Rechtfertigungen zurückgreifen, geben wir unsere Macht her. Und ich frage mich, ob der Zusammenhang zwischen Quantenzufall und menschlicher Auswahl bloß eine Metapher ist. Ich vermute, dass wenn wir einem Aborigine die Photonenbeugung beschreiben würden, er sagen würde, dass das Teilchen ebenfalls seinen Pfad wählt. Zufall? Pff! Zufall ist bloß ein lahmer Versuch, die Welt der generischen Massen und uniformen Bausteine zu retten. Was, wenn sie alle verschieden sind? Was, wenn jedes Stückchen Materie einzigartig ist? Was, wenn die Gleichheit, die wir ihm zuschreiben, lediglich eine Projektion unseres eigenen Schicksals als standardisierte Konsumenten und Funktionselemente in der Mumfordschen Megamaschine ist?
Die selbe Unbestimmtheit, die den Weg des Partikels durch einen Spalt beschreibt, beschreibt auch den Zerfall des radioaktiven Atoms, die Polarität eines Photons oder Elektrons und viele andere Eigenschaften. Doch die Herausforderung für unser konventionelles Weltbild geht noch viel tiefer, denn nicht nur sind diese gemessenen Quantitäten zufällig; anscheinend haben sie überhaupt keinen festen Status, bevor sie gemessen werden. Beeinflussungs-Experimente wie das Doppelspalt-Experiment, das Stern-Gerlach-Experiment und zahllose andere weisen nach, dass sich Partikel in Abwesenheit von Messung oder Beobachtung verhalten, als ob sie alle möglichen Zustände gleichzeitig einnähmen. Überdies kann die bloße Anwesenheit von Beobachtern die Entwicklung des beobachteten Systems beeinflussen4, sogar trotz Fehlens jeder zwischen dem System und dem Beobachter wirkenden physikalischen Kraft.5 Anders ausgedrückt: Es gibt kein unabhängig existierendes Universum „da draußen“, das man von uns, die wir es beobachten, trennen könnte. Beobachter und Beobachtetes sind eng verbunden; die Unterscheidung ergibt zuletzt keinen Sinn. Das unabhängige und getrennte Selbst ist eine Illusion. Und Galileos „primäre Qualitäten“, die wir mit unseren Instrumenten messen, sind nicht im geringsten primär, sondern erst durch den Akt des Messens erschaffen. Um es auf andere Weise auszudrücken: Eigenschaften wie Entfernung, Zeit und Form sind Eigenschaften einer Beziehung zwischen dem Selbst und dem Universum, nicht eines unabhängig existierenden objektiven Universums. Das naive Existenzkonzept, das durch die in Kapitel III visualisierte geisterhafte, im Nichts schwebende Gabel symbolisiert wird, ist mit der modernen Physik nicht verträglich.
Wie das Versagen des Determinismus öffnet auch das Bröckeln der Objektivität Türen in ein tiefgreifend anderes System von Einsichten und Metaphern. Wenn wir uns als isolierte Subjekte in einem riesigen gleichgültigen Universum sehen, dann unterliegen wir leicht Gefühlen der Machtlosigkeit, Entfremdung und Verzweiflung. Nun nicht mehr. So wie Quantenzufall das metaphorische Gegenstück zu menschlichen Wahlmöglichkeiten darstellt, ist Quantenmessung analog zu unserer Erfahrungsdeutung. Wie eine Quantenmessung bekommen diese Interpretationen eine schöpferische Bedeutung. Indem wir mit der Welt interagieren und ihr Maß nehmen, komprimieren wir eine große Bandbreite an Möglichkeiten auf eine einzelne Tatsache. Wir interpretieren nicht bloß eine Wirklichkeit außerhalb unser selbst; durch den Akt der Interpretation sorgen wir tatsächlich dafür, dass diese Wirklichkeit entsteht.
Dies ist so, wie wir es erwarten dürften, wenn der Gründungsmythos unserer Zivilisation, das eigenständige und getrennte Selbst, tatsächlich ein Mythos ist. Wenn jene Trennung eine Illusion ist, dann wird natürlich die Innenwelt unserer Interpretationen, Gedanken, Glaubensvorstellungen und Einstellungen einen Effekt auf die Außenwelt haben, die tatsächlich nicht außen ist. Wir sind nun sehr dicht am magischen Denken primitiver Animisten, deren Glaube an die schöpferische Macht des Wortes und des Rituals eine neue Bedeutung erhält. Könnten uns die metaphorischen Implikationen der Quantenmechanik zu einer Wiedervereinigung jener lange getrennten inneren und äußeren Welten führen? Fangen wir an uns vorzustellen, was eine wiedervereinigte Welt für die Menschheit bedeuten würde – nicht wie vor 50.000 Jahren, sondern im Rahmen unserer langfristig angesammelten Technologie und Kultur.
Selbst ohne solche Spekulationen waren die Folgen des Versagens von Determinismus und Objektivität viel zu groß, als dass unsere Kultur sie bisher verdaut hätte, so sehr stehen sie im Gegensatz zur herrschenden Orthodoxie. Das Quantenmessungs-“Paradox“ ist das unvermeidliche Produkt des Versuchs, die Beobachter-Abhängigkeit der Quantenwelt mit der vermeintlichen Objektivität der von unserem eigenständigen, getrennten Selbst bewohnten Welt der Alltagserfahrung zu verschweißen. Die Quantenmechanik widerlegt das eigenständige, getrennte Selbst. Weil die Quantenmechanik eine solch tiefgreifende Herausforderung für unser Selbstbild darstellt, haben Wissenschaftler und Philosophen seit 80 Jahren krampfhafte Interpretationen durchlaufen, um auf irgend eine Weise zwischen den beiden Bereichen nicht-objektiver, akausaler Quantenereignisse und der klassischen Wirklichkeit, die wir glauben zu erleben, zu vermitteln.
Auch hier war keiner der Versuche erfolgreich. Auf praktischer Ebene verleugnen die Meisten die Erweiterungen der Unbestimmtheit und Beobachter-Abhängigkeit für die makroskopische Welt, indem sie im Grunde behaupten, dass Quantenunbestimmtheit sich im Regelfall aufhebt, wenn sie sich der klassischen Mechanik auf Ebene der Alltagserfahrung nähert. Während es demzufolge eine endliche Wahrscheinlichkeit gäbe, dass eine Murmel, die durch ein Loch geworfen wird, auf einen nicht-klassischen Weg abwiche, wäre diese Chance so nahe bei Null, dass sie ignoriert werden könnte. Obwohl dies das praktische Problem löst, warum klassische Mechanik z.B. beim Entwurf von Maschinen und Brücken so gut funktioniert, behandelt es nicht die ontologische Frage: Was ist die grundlegende Natur der Wirklichkeit? Außerdem ist den Begründern der Quantenmechanik, speziell Schrödinger, klar geworden, dass das ontologische Problem nicht nur nicht verschwindet, sondern besonderen Nachdruck erhält, wenn Quantenereignisse zu klassischen Beobachtungen vergrößert werden (was die Quantenmessung im Grunde tut).
Einige unkonventionelle Denker wie Roger Penrose und Johnjoe McFadden behaupten, dass Quanteneffekte routinemäßig durch lebende Systeme auf die makroskopische Ebene übertragen werden und nicht lediglich in den konstruierten Zuständen eines Physiklabors. Einige, die sogar noch radikaler sind, nennen die Unbestimmtheit sogar eine Ausnahmeklausel von der Mechanik, die uns freien Willen erlaubt; andere nennen Quantenphänomene den Beweis, der verschiedene Ansätze zur Heilung und Spiritualität unterstützt. Solche Spekulationen reichen von dumm bis sehr ausgeklügelt, aber ich glaube, dass die Wissenschaft eines Tages eine Quanten-Erklärung für viele derzeit ungeklärte (und meistens auch nicht anerkannte) Phänomene aufstellen wird. Allerdings wird die ins Einzelne gehende Diskussion des Mess-Paradoxons und das vorherrschende Fehlverständnis der logischen Unstimmigkeiten auf ein künftiges Buch warten müssen. Wenn Sie meine Worte sorgfältig lesen, sehen sie, dass ich keine direkte Verbindung zwischen Quantenphänomenen und der Welt menschlicher Erfahrung behaupte. Zum Beispiel behaupte ich nicht, dass Quantenunbestimmtheit beweise, dass wir einen freien Willen hätten. Quantenmechanik hat uns eine neue Denkweise, eine neue Art Logik und eine neue Quelle für Metaphern beschert. Diese mögen bereits mächtig genug sein, unsere Zivilisation zu transformieren.
Die von mir beschriebenen Aspekte der Quantenmechanik, die der Intuition zuwiderlaufen, widersprechen lediglich jenen Intuitionen, die vom modernen Selbst- und Weltbild abhängen. Für Menschen vor dem in vollem Gange befindlichen Zeitalter der Trennung wären Beschreibungen von Quantenphänomenen wie „Es nahm zwei Orte gleichzeitig ein“ oder „Es war nicht da, bevor man es suchte“ oder „Es war für dich da, aber nicht für mich“ überhaupt nicht paradox erschienen. Für sie gab es keinen absoluten Unterschied zwischen Beobachter und Beobachtetem, Vorstellung und Wirklichkeit, Mensch und Natur, Selbst und Anderem. Soweit solch eine Unterscheidung getroffen wurde, ist deren provisorische Natur gewürdigt worden, etwa als Spiel, als kreativer Kunstgriff. Daher die in Kapitel II angesprochene ursprüngliche Identität zwischen Ritual und Realität sowie in der Ursprache zwischen dem Namen und dem benannten Ding.
Der irrationale Verstand der Primitiven ist oft ärgerlich für Besucher aus dem Westen. Ich muss zugeben, denselben Verdruss bei meinen frühen Begegnungen mit New-Age-Leuten erlitten zu haben, die mich mit Aussagen wie „Es ist wahr für dich, jedoch nicht für mich“ zu verhöhnen schienen. Ich sagte damals: „Ich glaube, wenn es ’Qi’ wirklich gäbe, dann würden wir es doch mit wissenschaftlichen Instrumenten nachgewiesen haben.“ Ich sagte damals: „Ich glaube nicht, dass außerkörperliche Erfahrungen möglich sind“, und er sagte: „Dann sind sie für dich nicht möglich.“ Es war zum Verrücktwerden. „Ich meine nicht ’für mich’, ich meine überhaupt nicht möglich.“ „Dann ist es für dich überhaupt nicht möglich.“ Aargh!
Mit „überhaupt“ meinte ich „objektiv“. Ein Freund, der Heiler und Musiker Chad Parks, versuchte mir eine Technik für seelische Unsichtbarkeit zu erklären, die ihm ein (für mich) dubioser New-Age-Guru beigebracht hatte. Die Leute schauen dich nicht an oder nehmen dich einfach nicht wahr. „Aber wenn sie hinsehen würden, würden die von deinem Körper reflektierten Lichtstrahlen sicher noch immer ihre Augen erreichen“, sagte ich, „daher bist du in Wirklichkeit nicht unsichtbar.“ „Für sie bin ich es.“
Eine ähnliche Situation taucht in Carlos Castenadas Buch auf, in dem der Erzähler, der Don Juans schamanischen Kräfte zu verstehen versucht, ihn herausfordert: „Doch was wäre, wenn dir jemand auf deinem Weg einen Hinterhalt stellte – sicher könntest du eine Kugel nicht aufhalten, oder?“ „Nein, ich könnte eine Kugel nicht aufhalten. Aber ich würde den Weg nicht nehmen.“ Castenada hätte weitermachen können mit „Aber was, wenn die Situation verlangt hätte, dass du jenen Pfad nimmst?“, und Don Juan hätte etwas in der Art erwidern können: „Dann wäre ich nicht in diese Situation geraten.“
Im vorherigen Beispiel hätte ich Chad ein Experiment vorschlagen können: „Ok, mach dich selbst unsichtbar – ich wette, ich kann dich noch immer sehen.“ Er würde gesagt haben: „Das funktioniert nicht, denn ich bin für dich schon da.“ Seine Unsichtbarkeit ist im Grunde unprüfbar, denn gerade die Grundlagen für objektive Prüfungen verkörpern einen Widerspruch der Konzepte. Es ist nur in einem objektiven Universum prüfbar, funktioniert aber nur in einem nicht-objektiven Universum. Das ganze Konzept sicheren Wissens, das auf objektiven Überlegungen aufbaut, ist nur so zutreffend wie die Fundamente der Objektivität. Stell jene in Frage, und wir stellen die Richtigkeit des gesamten Gebäudes experimentell hergeleiteten Wissens in Frage.
Der Grund, weshalb primitive und New-Age-Logik irrational erscheinen, ist der, dass sie irrational sind. Vernunft ist laut David Bohms Definition, die ich in Kapitel III zitiere, die Anwendung einer abstrahierten Beziehung auf etwas Neues. Eine nicht-objektive Welt trotzt solchen Abstraktionen. Wenn die Welt „da draußen“ irgendwie die innere Welt spiegelt, dann ist Vernunft nichts anderes als eines von mehreren Werkzeugen des Verstands zur Schaffung und Beschreibung unserer Erfahrungen. Vernunft ist noch immer ein gültiges und nützliches Werkzeug; doch wenn sie eine reflexive Gewohnheit wird statt eines bewussten Instruments, dann schränkt sie uns ein.
Professionelle Skeptiker lieben es, über die abgrundtiefe Dummheit ihrer Gegner zu schimpfen, die anscheinend jener Schlüsselfunktion höheren Bewusstseins beraubt sind: des Verstands. Wie ein Fisch, dem nicht bewusst wird, dass er nass ist, erkennen diese Kritiker nur selten ihre eigene Verstricktheit in Annahmen über das Selbst und die Welt, die sie gesetzmäßig auf bestimmte eingeschränkte Wege der Erkenntnis begrenzt – nämlich jene, die wir rational nennen. Diese sind in einem bestimmten Bereich machtvoll und erlaubten uns, das sich hoch auftürmende Gebäude der Zivilisation zu errichten; sie stehen hinter dem enormen Programm, die Welt zu entwerfen und die Natur neu zu schaffen. Da dieses Programm ins Wanken gerät, öffnen wir uns der Möglichkeit anderer Wege zur Erkenntnis und Bezugnahme.
Während die Quantenmechanik unsere Newton-Cartesischen Intuitionen langsam durch nicht-dualistische Intuitionen ersetzt, werden alle Früchte der Trennung ihre Daseinsberechtigung verlieren. Denn selbst wenn die herkömmliche Philosophie recht damit hat, dass Quantenunbestimmtheit und Beobachter-Abhängigkeit keine praktischen Folgen für das Bewusstsein, den Verstand und das Selbst haben, selbst wenn niemand je beweist, dass unsere Materie-Ebene erheblich von der klassischen Beschreibung abweicht, lauert am Grund immer noch eine unversöhnliche Ausnahme von der Behauptung, dass „das Universum genau so ist“. Quantenmechanik gewährt uns eine neue Logik, einen neuen Rahmen des Möglichen, und sei es auch nur über Metaphern. Das eigenständige und getrennte wird nicht mehr die einzig denkbare, die einzig überzeugende Art sein, die Welt zu verstehen.
Die Quantenmechanik verkündet einen folgenreichen Wandel unserer Intuition, der sich schnell beschleunigen wird, wenn das Versagen der alten Lebens- und Denkweisen zunehmend offensichtlich wird. Genau wie das Regime der Getrenntheit ihrer Apotheose in Newtons und Descartes’ Wissenschaft sowohl die Bühne bereitet hat als auch durch sie bestärkt worden ist, so wird auch die Quantenmechanik die wachsende Erkenntnis unserer Verbundenheit mit einander und der gesamten Natur beschleunigen, was uns wiederum erlauben wird, die tiefgreifenden ontologischen Folgen der Quantentheorie besser zu verstehen. Anders ausgedrückt ist die Quantentheorie sowohl Ursache als auch Wirkung, sowohl Vorbote als auch Symptom eines größeren Bewusstseinswandels.
Ausgestattet mit Intuitionen oder wenigstens den metaphorischen Möglichkeiten, welche die Quantenmechanik andeutet, wird der Glaube primitiver Menschen neue Lebendigkeit, Bedeutung und Wichtigkeit erhalten. Wir spüren bereits ihr Ziehen, wie die Popularität der „Amerikanischen Eingeborenen-Spiritualität“ beweist. (Dass diese Form von kulturellem Kapital zunehmend vereinnahmt und in Geld verwandelt wird, ändert nichts am Wesen ihres Appells.) Wir glauben bereits williger, dass unsere Gedanken, Worte und Handlungen über ihre klassischen physikalischen Beschreibungen, das bloße Bewegen von Massen und den Chemikalienfluss hinaus Macht entfalten. Wir fühlen uns schon wohler mit der Vorstellung einer fluiden Realität, die nicht getrennt und absolut ist, sondern durch unsere Beziehungen zu ihr definiert und von unserem Glauben geformt wird. Wir bemerken kaum, dass die Bühne für eine völlig andere Wissenschaft, eine völlig andere Technik bereitet wird, die nicht mehr auf der Getrenntheits-Prämisse beruht und diese Prämisse nicht weiter bestätigt. Und kein Bereich des menschlichen Lebens wird unverändert bleiben.
1 lt. Wikipedia die Auffassung, dass zukünftige Ereignisse durch Vorbedingungen eindeutig festgelegt sind. Anm. d. Übers.
2 Während David Bohm „versteckte Variablen“ annimmt, die den Determinismus wiederherstellen, tragen diese nichts zum Programm völligen Verstehens bzw. völliger Kontrolle bei, denn diese versteckten Variablen sind grundsätzlich jenseits menschlicher Erkenntnis.
3 http://de.pedia.org/wiki/Gott_würfelt_nicht
4 Ich empfehle dir, dich über „Nullmessung“ oder „Quanten-Zeno-Effekt“ zu informieren, um Beispiele für die absichtliche Nutzung von Beobachtung zur Beeinflussung der Wirklichkeit zu finden.
5 Dies wurde ein für allemal [von John Stewart Bell] im Aspect-Experiment bewiesen, das einen Beobachter-Effekt demonstrierte, wenn die Beobachtung außerhalb des raum-zeitlichen Lichtkegels des betreffenden Teils eines Systems stattfand.
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