Der Aufstieg der Menschheit von Charles Eisenstein
Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters
Ein großer Fehler der Komplexitätstheorie zur Beschreibung des Ursprungs des Lebens ist, dass sie nie im Reagenzglas funktioniert. Stuart Kauffmans Kritiker weisen auf das Versagen im Labor hin, irgend etwas wie die expandierende, evolvierende autokatalytische Menge, die er beschreibt, zu schaffen; unverändert erhalten wir bei chemischem Gleichgewicht stattdessen Teerschmiere auf dem Boden des Behälters. Computersimulationen der Evolution, in denen verschiedene mutierende Organismen um Speicher oder eine andere Ressource wettstreiten, schaffen es gleichermaßen nicht, ganz neue Gene zu erzeugen. Simulationsprogramme für künstliches Leben wie Avida und Tierra scheinen die Gene eher zu vereinfachen und beschneiden, als neue zu erschaffen. Interessante Variationen der ursprünglichen Kreaturen treten auf, aber nach meinem Wissen keine wirklich neuen Organismen auf höherer Komplexitätsebene.47 Die einzigen Ausnahmen, die ich finden konnte, sind Systeme wie Rays Tierra, in dem besonders die Länge durch die Programmumgebung belohnt wird, und Dawkins Simulationen, in denen Anpassung mit Annäherung an eine vorbestimmte Form definiert wird. Ironischerweise modellieren solche Systeme Intelligentes Design und nicht die ungerichtete Evolution, an die Dawkins und Ray glauben.
Und doch geschehen Komplexitätssprünge, nicht nur in der Natur, sondern in der menschlichen Zivilisation. In direkter Analogie zu Lamarcks adaptiver Mutation ist technologische Entwicklung keine Zufallssuche im gesamten Raum möglicher neuer Erfindungen, die dann entsprechend ihrer Tauglichkeit ausgewählt werden; eher leitet ein Bewusstsein für Bestimmung, Ziel und Absicht unsere Versuche und grenzt den Suchraum ein. Wissenschaftler glauben, dass diese Intentionalität die exklusive Domäne des Menschen ist, nicht der Gene, des Ökosystems oder des gesamten Planeten. Kreationisten glauben das selbe, nur dass sie Absicht auch einer übernatürlichen Intelligenz zuschreiben. Niemand behauptet, dass die menschliche Gesellschaft sich niemals entwickelt haben konnte, sondern so geschaffen worden sein muss, weil sie so komplex, verflochten und eng verkoppelt ist!
Das Huhn-Ei-Problem nicht-reduzierbarer Komplexität, das die Biogenese des Egoismus-Gens bedrängt, wiederholt sich auf allen Ebenen der Evolution. Allgemein ausgedrückt kann keine Einzelmutation in einem existierenden Gen ein neues Gen mit anderer Funktion hervorbringen. Wenn sich zwei Gene nur in einem einzigen Basenpaar unterscheiden, dann könnte eine Einzelmutation eines davon umwandeln. Üblicherweise würden jedoch die beiden Gene lediglich als Varianten von einander angesehen werden und identische Funktionen haben, bis die Mutation einen kritischen Punkt erreicht hat, der das zweite Gen nutzlos macht. Das selbe gilt für andere einfache Änderungen wie die Löschung oder Wiederholung einer bestehenden Sequenz. Um ein Gen mit völlig neuer Funktion zu erhalten bedarf es normalerweise sehr vieler Veränderungen, einer Verkettung mehrerer unwahrscheinlicher Schritte – einer Serie genau der richtigen Mutationen, die entweder alle zugleich auftreten, oder eine nach der anderen. Unwahrscheinlichkeit vergrößert sich zur Unmöglichkeit. Wenn ich die nächste Karte errate, die du vom Stapel abhebst, wärst du beeindruckt, aber nicht erstaunt. Wenn ich zehn in Folge erriete, würdest du einen Trick vermuten, denn das könnte nur einmal in ungefähr fünzig Billiarden Versuchen gelingen.
Nun, vielleicht ist das angesichts von Milliarden Jahren der Evolution gar nicht so unwahrscheinlich, oder? Falsch. Um dir eine Vorstellung der beteiligten Zahlen zu geben: 1997 wurde in einem antarktischen Fisch ein Gen für ein Frostschutz-Protein entdeckt, das einem anderen Gen im selben Fisch extrem ähnlich ist, welches ein Pankreas-Enzym kodiert – eine völlig andere Funktion.48 Die beiden Gene sind sich tatsächlich so ähnlich, dass bloß eine Handvoll Mutationen (eine Löschung, eine Verdopplung, eine Änderung am Rahmen, die Einfügung eines kurzen Introns und die Erweiterung einer zuvor nicht-kodierenden Leersequenz) uns vom einen zum anderen bringen kann. Wenn wir jedoch annehmen, dass diese Mutationen völlig zufällig geschahen, ist die Zahl möglicher Gene, die man aus dem Original mit jenen Schritten herstellen kann, buchstäblich astronomisch – 10370 einem Autor zufolge.49 Und denk daran, dass diese beiden Gene sich extrem ähnlich sind. Für die meisten Gene ist die Zahl der Schritte zur Konversion von einem in das Andere viel höher.
Der Neo-Darwinismus löst das Problem, indem er postuliert, dass jedes der Zwischengene irgendeine Funktion hat, die dem Organismus beim Überleben nützt, was die graduelle Evolution vom Warmwasserfisch zum antarktischen Fisch erlaubt. Allgemein jedoch bedeutet den halben Weg zum neuen Gen zurückgelegt zu haben nicht, dass man die Hälfte der neuen Funktionen erreicht hat. Gewöhnlich hat man entweder alles oder nichts – oder weniger als nichts, da Zwischenstufen sowohl für die alten als auch die neuen Funktionen wertlos sein können. Die Autoren des Frostschutz-Papiers waren sich dieses Problems bewusst und schrieben in einem bemerkenswerten (wenn auch sicherlich unbeabsichtigten) Anklang an die Teleologie: „Die Auslese der passenden Permutation dreier Codons... war wahrscheinlich von der konstruktiven Wirksamkeit geprägt, die es brauchte, damit eine Wechselwirkung zwischen Frostschutz und Eis stattfinden konnte.“50 Anders ausgedrückt wird ihnen bewusst, dass es nicht nur aufgrund eines Zufalls geschehen sein konnte und dass es nicht plausibel ist, dass jeder Zwischenschritt einen Überlebensvorteil verlieh.
Das Problem ist sogar noch größer. In den meisten Fällen ist ein neues Gen mit einer neuen und tatsächlich brauchbaren Funktion nur in Gegenwart einer Anzahl anderer neuer Gene, die zur selben Zeit exprimiert werden müssen, nützlich. Zum Beispiel wäre eine Mutation, die der Giraffe den langen Hals verschaffte, ohne jenes andere Gen verheerend, das die Gefäßanpassungen vornimmt, welche den Blutfluss zum Gehirn reguliert, wenn die Giraffe ihren Kopf senkt, um Wasser zu trinken.51
Michael Behe, Verfechter Intelligenten Designs, gibt in seinem Buch „Darwins Black Box“ ähnliche Beispiele. Am schlagendsten ist das Beispiel der AMP-Synthese, die essentiell für das Leben ist. Behe beschreibt dreizehn Schritte der AMP-Synthese, die zwölf verschiedene Enzyme erfordern, von denen jedes im Grunde nutzlos ist ohne die anderen elf. Wenn auch nur eines der nötigen Gene durch Zufallsmutation in Abwesenheit adaptiven Vorteiles entstanden wäre, warum sollte es dann statt irgendeines von Billionen anderer, gleichermaßen wahrscheinlicher Mutationen im Genpool bleiben? Eine parallele Situation betrifft die Blutgerinnung, die zahlreiche Proteine und andere Substanzen braucht, die hochpräzise auf ihre Aufgabe zugeschnitten, und außerhalb nutzlos sind. Beides veranschaulicht etwas, das Behe „unreduzierbare Komplexität“ nennt, von der Darwin schrieb: „Wenn man zeigen könnte, dass irgendein komplexes Organ existierte, das auf keinen Fall durch viele erfolgreiche leichte Modifikationen gebildet worden sein kann, würde meine Theorie völlig zusammenbrechen.“52
Die extreme Schwierigkeit, graduelle genetische Zufallsmutationen zu benutzen, um die komplexen, eng aufeinander abgestimmten biologischen Systeme zu bekommen, erodiert zusammen mit den fossilen Beweisen für plötzliche Evolutionssprünge langsam die Stütze der herkömmlichen neo-darwinistischen Synthese. Ein neues Paradigma erscheint, um es zu ersetzen, eines, das viele unserer kulturellen Annahmen über die Natur des Lebens untergräbt. Teil dieses Paradigmenwechsels gründet sich auf die weiter oben beschriebenen adaptiven Mutationen. Doch nicht-reduzierbare Komplexität bringt sogar für die adaptive Mutation Schwierigkeiten mit sich, denn nicht eines, sondern viele Gene müssen bei komplexen, gegenseitig abhängigen Prozessen alle zur selben Zeit auftreten. Alternativ können sie zu verschiedenen Zeiten erscheinen, aber dann müssen sie irgendwie ohne die Hilfe konventioneller Selektionsmechanismen im Genom erhalten werden (denn sie zeigen einzeln keine nützliche Expression). Egal wie, es ist ordnender Einfluss nötig, um jede Anpassungs-Mutation auf ein Ergebnis hinzulenken, das sich mit allen anderen vernetzt, ob diese Kraft nun übernatürlich (Behe), ein umweltbedingter Zweck (Lamarck, Buhner, Lipton) oder der Beobachtereffekt auf die evolutionäre Zukunft des Systems (McFadden) ist.
Vielleicht ist die Grundlage der Schwierigkeit wiederum unsere Annahme über die Natur des Selbst. Adaptive Mutation, selbst wenn sie durch umweltbedingte „Zwecke“ ausgelöst würde, enthält noch immer das Gen als Identitätseinheit, wenn auch eine evolvierende Einheit. Doch da ist noch mehr. Während adaptive Mutation sicherlich Teil der Geschichte ist, verlangt vielleicht die bloße Komplexität des in den letzten beiden Abschnitten beschriebenen kooperativen Systems die Beschreibung einer Evolution, die Zusammenarbeit in ihre fundamentalen Mechanismen einbaut – eine kooperative Evolutionsbeschreibung, welche die kooperative Natur des Lebens vervollständigt.
Nach Lynn Margulis ist Zusammenarbeit (das heißt Symbiose) nicht nur für das Weiterbestehen allen Lebens auf Erden essentiell, sie ist auch die Triebfeder der Evolution. Ihre Theorie serieller Endosymbiogenese erklärt die Evolution der modernen eukaryotischen Zelle als die fortschreitende Vereinnahmung einfacher Organismen. Aus ihrer Sicht entstehen echte evolutionäre Neuheiten durch das Verschmelzen einfacherer Organismen und nicht durch Zufallsmutationen der DNS. Organismen – einschließlich höherer Organismen – entwickeln sich durch Aufnahme externer DNS. Dies ist im Fall von Bakterien, die man genau studierte, um zu bestimmen, wie sie Antibiotikaresistenz erreichen, über ein halbes Jahrhundert hinweg gut dokumentiert worden. Während gelegentlich eine Punktmutation Resistenz verleiht, beispielsweise durch die Veränderung eines Oberflächenproteins, importieren Bakterien normalerweise Resistenz kodierende Gene von anderen Bakterien mit Hilfe von Viren, Konjugation und anderen Mitteln. Und nicht nur Resistenz. Neuere Studien haben gezeigt, dass Photosynthese-Gene ebenfalls horizontal zwischen Bakterien übertragen werden.53 54 Dieses Phänomen namens Horizontaler Gen-Transfer (HGT) wurde bei Pflanzen schon vor langem beobachtet, in den Mais-Studien von Barbara McClintock während der 1940er. In jüngerer Zeit häufen sich Beweise, dass HGT auch bei multizellulären Tieren üblich ist, sogar bei Menschen. Die folgende Presseveröffentlichung, die baktierielle Photosynthese beschreibt, kann daher auf die gesamte Evolution übertragen werden:
„Die Analyse offenbarte deutliche Beweise, dass die Photosynthese sich nicht auf geradem Weg ständigen Wandels und wachsender Komplexität entwickelte, sondern durch Verschmelzung evolutionärer Linien, die unabhängig voneinander entwickelte chemische Systeme vereinte – der Austausch von Blöcken genetischen Materials zwischen Bakterienspezies, den man als Horizontalen Gen-Transfer kennt.“55 |
Ein wichtiges Beweisstück für HGT in der Natur ist die Präsenz nicht miteinander verwandter Organismen mit ähnlichen DNS-Sequenzen, die, basierend auf Beweisführung mittels der Molekularen Uhr, nicht durch gemeinsame Vorfahren erklärt werden können. Während Viren vermutlich die Hauptträger des Gentransfers sind, gibt es auch Laborbeweise für direkte bakterielle DNS-Übertragung in Säugetierzellen.56 Andere mögliche Vektoren können nach den Worten eines Forschers „externe Parasiten, Infektionserreger, intrazelluläre Parasiten und Symbionten (speziell jene in der Keimbahn), DNS-Viren, RNS-Viren, Retroviren und sogar Mitfahrer auf anderen übertragbaren Elementen“ sein.57
Die Hauptvektoren von HGT, ob Viren oder Parasiten, sind nicht bloß Keime oder Eindringlinge, sondern Boten genetischer Informationen von Organismus zu Organismus und von Gattung zu Gattung. Forscher haben bei einer Studie herausgefunden, dass die DNS von T.cruzi (einem Protozoon, das die Chagas-Krankheit bei Menschen hervorruft), die man in die Kern-DNS von Laborkaninchen eingeführt hat, an deren Nachkommen weitergegeben worden ist, also in die Keimbahn eingedrungen ist.58 Einige Wissenschaftler haben sogar Beweise vorgelegt, dass die Inkorporation von viraler DNS die Trennung der menschlichen von der Schimpansen-Gattung vor sechs Millionen Jahren ausgelöst hat.59
Dies sind keine kontroversen Erkenntnisse marginaler Wissenschaftler, sondern sie werden in angesehenen Mainstream-Zeitschriften veröffentlicht, wie eine flüchtige Prüfung der Fußnoten dieses Abschnitts bestätigen wird. Es wird zunehmend offensichtlich, dass eukaryotische Genome, eingeschlossen derjenigen des Menschen, durchlöchert, vielleicht sogar dominiert sind von den Überbleibseln viraler DNS, die vor millionen von Jahren in die Keimbahnen inkorporiert worden sind. „Wir sind unsere Viren.“, wie sich Lynn Margulis ausdrückte.60 61
Wir werden uns jedoch nicht auf das Unumstrittene beschränken. Vielleicht findet die Integration exogener DNS in das menschliche Genom fortlaufend und zielgerichtet statt. Die großen Epidemien der landwirtschaftlichen Zivilisation könnten wichtige Gene beigetragen haben, die adaptiven Nutzen für Menschen haben, die dicht gedrängt wohnen und zivilisierte Lebensweisen führen. Im Besonderen könnten nicht-tödliche Viruserkrankungen wie Masern, Mumps und Windpocken, die bis zur Ära der Impfstoffe pandemisch waren, ein wichtiges alternatives Übertragungssystem für genetisches Material einschließen. Vielleicht sind sie unsere Symbionten, die sich zusammen mit uns in gegenseitig vorteilhafter Beziehung angepasst haben. Wenn das so ist, dann könnte ihre Ausrottung gefährlich sein. Die exakten Folgen sind schwer vorherzusagen, aber womöglich hängt es mit dem alarmierenden Anstieg von Autoimmunerkrankungen und Allergien in den letzten 30 Jahren zusammen.
Die orthodoxe Genetik vertritt den Standpunkt, dass wir wegen der Langsamkeit der Evolution im Grunde die selbe Spezies sind wie unsere Steinzeitvorfahren vor 20.000 Jahren. Wenn aber virale DNS regelmäßig in die Keimbahn aufgenommen wird, ist es denkbar, dass Zivilisationskrankheiten die Mittler für Artbildung sind und von Bevölkerungskonzentrationen ausgelöst werden, die erst mit der Landwirtschaft auftraten. Wäre es möglich, dass die Menschheit derzeit eine Artenbildung durchläuft? Und wenn, wie Bruce Lipton argumentiert, unsere Emotionen, Gedanken und Vorstellungen unsere DNS verändern können, könnte Artenbildung sogar eine Frage der Auswahl sein? Haben wir Gelegenheit, buchstäblich zu werden was wir sein möchten? Ich sehe ein, dass ich den Bereich der Spekulationen betreten habe, und doch wiegt die metaphorische Bedeutung dieser Möglichkeit schwer. Wir sind nicht in unserer biologischen Natur gefangen. Wir können im Lauf des Lebens eine neue Biologie erhalten. Wir sind auch nicht durch unser Erbe eingeengt. Wir sind frei, uns selbst zu erschaffen.
Auf der Ebene des Organismus bietet HGT ein Evolutionsmodell an, das nicht vorwiegend von Zufallsmutationen abhängt, sondern vielmehr auf der Integration bereits bestehender externer DNS. Er bietet eine Lösung für viele der Probleme, die mit der nicht-reduzierbaren Komplexität zusammenhängen, denn es braucht kein simultanes Auftreten von vielen höchst unwahrscheinlichen Mutationen genau zur richtigen Zeit. Die nötigen Gene müssen lediglich importiert, oder sogar in nicht-exprimierter Form beschlagnahmt werden, bis sie gebraucht werden. Die Allgegenwart von HGT legt auch eine neue Art des Verhältnisses zu anderen Lebensformen wie Bakterien und Viren nahe (eine Angelegenheit, die ich in Kapitel VII erkunden werde), wie auch ein neues Fortschrittsmodell außerhalb des Bereichs der Biologie.
Horizontaler Gen-Transfer beseitigt auch die biologische Untermauerung der Ideologie vom eigenständigen und getrennten Selbst. Er rät zu einem neuen Selbst, einer neuen Identität, die man als „verbundene Wesenheit“ beschreiben könnte. Das ist eine viel engere Verbundenheit als bloße gegenseitige Abhängigkeit zwischen Lebensformen. Dank HGT sind wir alle ineinander aufgenommen. Wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, sind die metaphorischen Implikationen für die menschliche Technik, Medizin und Wirtschaft tiefgreifend.
Horizontaler Gen-Transfer löst nicht das Problem des Ursprungs von Neuheiten auf genetischer Ebene, denn diese Gene mussten ja von irgendwoher kommen. Wenn HGT elementar ist, dann folgt daraus, dass viele Gene für Millionen von Jahren existierten, bevor sie überhaupt exprimiert worden sind. In der Tat hat man bei einzelligen Kragengeißeltierchen Gene für Proteine gefunden, von denen man zuvor dachte, dass sie lediglich in multizellulären Tieren vorkommen, und die keine bekannte Funktion in den Kragengeißeltierchen erfüllen.62 Ein weiteres, eher gewöhnliches Mysterium ist das Auftreten von homöotischen Genen (welche die embryonale Entwicklung steuern) lange vor den Genen für den Aufbau der Charakteristika, die sie steuern. Zum Beispiel sind die Gene, welche die Entwicklung des Auges beim Embryo steuern, älter als die Gene für die Proteine, aus denen das Auge besteht. Brig Klyce fasst das ziemlich gut zusammen: „Es ist für den Neo-Darwinismus schwer, das Auftreten embryonaler Steuerungsgene vor dem Auftreten der embryonalen Schritte zu erklären, die sie koordinieren. Das ist, als hätte man Blaupausen für Autofabriken vor der Erfindung des Autos verfügbar gehabt.“63 Bei den beiden obigen Fällen gibt es nichts, aufgrund dessen die darwinistische natürliche Auslese aktiv werden könnte, keinen Grund für den Fortbestand von Genen. Welchen Überlebensvorteil könnten sie bieten, wenn sie keine Funktion haben?
Dass Gene im Genom überdauern, ohne eine nützliche exprimierte Funktion zu haben, widerspricht darwinistischer Evolution: Was erhebt solche Gene über Billionen nutzloser Varianten? Seltsamerweise wurden extrem konservierte Elemente entdeckt – Ketten von 200 oder mehr DNS-Basenpaaren – die in Genomen von Ratten, Mäusen, Menschen, Hunden und Fischen identisch sind, jedoch kein Protein kodieren und keine reguläre Funktion zeigen. In der Tat scheinen Mäuse, denen man diese Sequenzen aus den Genen schneidet, in jeder Hinsicht ganz normal zu sein.64 Welcher selektive Mechanismus könnte also diese Sequenzen vollständig mutationsfrei (weit unterhalb der „Hintergrunds“-Mutationsrate) für hunderte von Millionen Jahren erhalten? Warum sind sie so wichtig, wenn sie keinen Einfluss auf Überleben und Vermehrung haben? Hier sind offensichtlich andere Auswahlmechanismen am Werk. Der Sinn des Lebens besteht nicht im Überleben, wie der Darwinismus unterstellt.65
Brig Klyce spekuliert, dass solche Gene tatsächlich „hochrangige Software, fähig zu Erkennung, Installation, Einsatz und Aktivierung horizontal erworbener genetischer Programme“ sind.66 Als solche sind sie Erfüller evolutionärer Bestimmung, die Bedürfnissen dienen, welche individuelle Organismen und deren Gene übersteigen.
Klyce vertritt die sogenannte Panspermie, eine Theorie, die zuerst von Fred Hoyle und Chandra Wickerhamsinghe vorgetragen worden ist und die besagt, dass das Leben auf der Erde mit biologischem Material aus dem All gesät worden ist. Neben der rätselhaften Herkunft genetischer Neuheit gibt es in der Tat Anzeichen extraterrestrischen Ursprungs des Lebens, beispielsweise die Entdeckung komplexer organischer Moleküle auf Meteoriten und spektroskopische Analysen interstellaren Staubs, die mit der Anwesenheit bakterieller Sporen vereinbar wären. Natürlich ist die Panspermie im kosmologischen Rahmen ebenfalls keine zufriedenstellende Erklärung für die Herkunft des Lebens, denn sie verschiebt die Frage lediglich in die Zeit vor der Bildung der Erde zurück. Wenn das Leben nicht auf der Erde begann, musste es woanders beginnen... oder? Wir stoßen sehr schnell (nur drei oder vier Lebensspannen der Erde) auf den Urknall, der die selben kombinatorischen Plausibilitätsprobleme wie zuvor aufwirft. Deshalb schließen sich Panspermie-Vertreter üblicherweise alternativen kosmologischen Modellen wie dem Stationären Universum an. Das Leben hätte in diesem Fall nie angefangen; es war schon immer da, eine Eigenschaft des Universums.
Für den linearen Geist ist der Gedanke, dass es das Leben schon immer gegeben hat, ohne Anfang, überwältigend. (Zumindest überwältigt es meinen eigenen linearen Geist!) Im Gegensatz zu primitiven Menschen, die im Bild des Kreises dachten und in einer zeitlosen Welt lebten, sieht der moderne Verstand alle Dinge, einschließlich des Universums, als mit einem Anfang und einem Ende ausgestattet, genau wie unser Lebensstil auf linearem Konsum von Rohmaterialien basiert, die schließlich als nutzloser Abfall enden. Es ist sicherlich kein Zufall, dass die Standardkosmologie genau dieses Modell postuliert: Das Universum begann mit einem Zustand niedriger thermodynamischer Entropie und endet im „Hitzetod“, wenn alle nutzbare Energie aufgebraucht wurde. Das zweite Gesetz der Thermodynamik, dass sich Entropie stets erhöht, ist die ultimative Aussage der Zähmungsideologie: Die Natur ist schlecht, eine Kraft, der man widerstehen muss. Wir richten einen getrennten menschlichen Bereich ein, einen Bereich der Ordnung, der nur durch ständige, unaufhörliche Bemühungen gegen die Kräfte des Chaos aufrecht erhalten wird. Kannst du die Hoffnungslosigkeit im Zweiten Gesetz spüren? Die Entropie zu überwinden ist genausowenig möglich, wie einen Turm bis zum Himmel zu bauen.
Wie verschieden doch ein Universum ist, das fortwährend geschaffen wird, in dem neue Materie und neue Ordnung als perfektes Gegengewicht zur entropischen Todes-Tendenz geboren wird. Es wäre ein lebendes Universum, ein fruchtbares Universum, ein Universum passend zur endlos fürsorglichen Natur, wie sie Jäger und Sammler sehen. Wir müssen keinen getrennten menschlichen Bereich einrichten. Wir können uns stattdessen der Erweiterung des Naturbereichs zuwenden. Wir müssen uns nicht mehr bemühen, einen Turm in den Himmel zu bauen, wenn wir erkennen, dass der Himmel bereits überall um uns herum ist. Ordnung, Schöpferkraft, Geburt sind in der Natur verwoben mit der Mathematik und Physik und Biologie. Statt in einen unerreichbaren und sich immer weiter zurückziehenden Himmel zu bauen, wenden wir uns stattdessen einer anderen Art Gebäude zu, mit dem wir zur Schönheit statt zur Höhe streben.
Wenn sich die Menschheit nun einem neuen Lebensstil zuwendet, der nicht mehr die natürlichen Kreisläufe verleugnet, dann wird vielleicht der Urknall seine gefühlsmäßige Anziehung verlieren. (Es gibt bereits Risse in der Urknall-Fassade, am bemerkenswertesten durch die Arbeit des Astronomen Halton Arp und Plasmaphysiker Hannes Alfven.)67 Tief kosmologische und philosophische Themen sind in die Debatte über die Herkunft des Lebens und die Evolution eingebettet: Ist das Universum endlich oder unendlich? Geschaffen oder ewig? Zufällig oder mit Bestimmung ausgestattet? Oder könnte es vielleicht sein, dass sogar diese Dualitäten schließlich zusammenbrechen?
Mein Problem mit Panspermie ist nur, dass sie genau wie Intelligentes Design einen göttlichen Plan (also von außerhalb der Natur) für die Evolution postuliert; Panspermie erklärt das Wunder genetischer Neuheit weg, indem sie sagt, das Leben wäre von außerhalb der Erde gekommen. Beide sind sich darin einig, dass ein irreduzierbares komplexes Phänomen wie das Leben nicht spontan aufgetreten sein kann. Beide sind sich einig, dass die Gene für jeden Evolutionssprung bereits zuvor existierten, entweder draußen im All oder im Geist Gottes. Folgt man aber ihrer Logik, müssen wir dann auch glauben, dass die emergente Komplexität menschlicher Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur und die Noosphäre genausowenig einfach entstehen konnte? Wie Ilya Prigogine in den 1960ern bemerkte, treten Ordnung und sogar Organisation – neue Strukturen – in non-linearen Systemen spontan auf. Warum nicht das Leben? Wie das geschaffene Universum Intelligenten Designs ist das „stationäre“ Universum der Panspermie kein inhärent schöpferisches, sondern eines, in dem Schöpfung ein bereits abgeschlossenes Faktum ist. Das kollidiert mit meinen tiefsten spirituellen Erkenntnissen. Ist das Leben nicht die eigentliche Essenz der Schöpfung?
Andererseits hat Panspermie viel mit der Komplexitätstheorie aus Prigogines Arbeit gemein. Im Universum, so glauben beide, gibt es Leben im Überfluss. Wie auch Stuart Kauffmans Theorie besagt Panspermie, dass es Leben sehr wahrscheinlich, wenn nicht unvermeidlich auf jedem Planeten innerhalb ziemlich breiter Parameter gibt. Wenn das Universum vollgestopft mit Leben ist, dann sind die Chancen für seine Aussaat auf der Erde ebenfalls sehr hoch. Wenn andererseits Stuart Kauffman daneben liegt und Leben ein unglaublich unwahrscheinlicher Zufall ist, dann sind seine Chancen, anderswo entstanden zu sein und den Weg zur Erde gefunden zu haben, gleichermaßen sehr unwahrscheinlich. Beide Theorien sind sich einig, dass unser Universum auf die eine oder andere Art lebendig ist.
In dieser Aussage liegt die Lösung für die ernsten Schwierigkeiten, denen die Komplexitätstheorie im Labor begegnet. So wie Ordnung aus dem Chaos entsteht, ist es gleichermaßen wahr, dass, wie ich im Kontext der Symbiose geschrieben habe, „das Leben nicht in steriler Isolation gedeihen kann“. Es liegt in der Natur eines kontrollierten Experiments, dass es ein geschlossenes System sein muss – du kannst den Behälter nicht offenlassen und beanspruchen, neues Leben darin geschaffen zu haben. Was Labor- und Computerversuchen mit dem Ziel, Leben zu erschaffen, vielleicht fehlt, ist eine Saat, eine fruchtbare Kraft, die Anfangs außerhalb der Erde existierte. Vielleicht kann Leben in der Tat nicht in einem geschlossenen System beginnen oder bestehen; dass es zusätzlich zur Energiezufuhr auch Informationszufuhr braucht; dass kein Teil des Universums lebendig sein kann, bevor nicht die Gesamtheit lebendig ist. Vielleicht ist Gaia selbst ein abhängiger, halbautonomer Zweig eines lebendigen Universums, genau wie wir Menschen weder eigenständig noch getrennt vom Rest des Lebens auf Erden sind.
Möglicherweise sind beide Theorien wahr und das Leben auf der Erde hat zwei Elternteile: ein weibliches Elternteil, die Erde, und ein männliches Elternteil, den Himmel. Unser Universum ist lebendig. Nicht weniger als ein Gen, ein Organismus oder ein Ökosystem, vielleicht ist Gaia selbst auch abhängig von einer offenen, flüssigen Interaktion mit der Außenwelt. Wenn wir bei Experimenten zum Ursprung des Lebens den Behälter schließen, schaffen wir Bedingungen, die grundsätzlich gegen das Leben stehen.
Metaphorisch haben wir die kontrollierten Laborbedingungen auch mit der modernen „Welt unter Kontrolle“ nachgestellt. Weil wir uns grundsätzlich getrennt vom mechanistischen Universum träger Materie glauben, haben wir uns selbst von den Unwägbarkeiten zu isolieren versucht, um sie durch das Technologische Programm unter Kontrolle zu bringen. Dass dieses Programm auch gegen das Leben gerichtet ist, wird immer augenscheinlicher. Die Reduzierung des Lebens – in unserer Zerstörung der Ökologie mit Händen zu greifen, bildhaft in der Umwandlung menschlichen Lebens in Geld – erreicht seinen Höhepunkt. Glücklicherweise laden uns die neuen Paradigmen, welche dieses Kapitel aus allen Ecken der Wissenschaft versammelt hat, zu einer neuen Form der Beziehung zum Universum ein, die nicht gegen das Leben gerichtet ist. Welche Sorte Gesellschaft wird mit dem Fall der Newtonschen Weltmaschine erscheinen? Wie wird der menschliche Geist erblühen, wenn wir nicht länger die künstlichen Grenzen des eigenständigen und getrennten Selbst aufrecht erhalten? Wie wird das menschliche Leben aussehen, wenn wir aufhören, es als Wettstreit ums Überleben in einem objektiven Universum zu sehen, das ohne Bestimmung, Heiligkeit und Sinn ist? Die zweite Wissenschaftliche Revolution, die ich umrissen habe, ist Teil eines größeren Umschwungs in unserer eigenen Selbstwahrnehmung, sowohl Symptom als auch Ursache einer neuen Form der Beziehung zur Welt. Sie markiert einen Wendepunkt, das Ende des Zeitalters der Trennung und den Beginn eines neuen Zeitalters der Wiedervereinigung.
47 Das Fehlen neuer, komplexerer Organismen wird durch die Tatsache verdeckt, dass komplexe und unvorhergesehene Verhaltensmuster bei den Saatkreaturen und deren sich tatsächlich entwickelnden Varianten auftreten, nur nicht mit Komplexitätssprüngen. Siehe einige interessante Beispiele bei Richard E. Lenski, Charles Ofria, Robert T. Pennock and Christoph Adami, The evolutionary origin of complex features”, Nature, Bd, 4238, Mai 2003, S 139-144.
48 Liangbiao Chen, Arthur L. DeVries and Chi-Hing C. Cheng. Ëvolution of antifreeze protein from a trypsinogen gene in Antarctic notothenioid fish”Proceedings of the National Academy of Sciences, USA, Bd. 94, April 1997, S 3811-3816.
49 Klyce, Brig, The Origin of Antifreeze Protein Genes”, http://www.panspermia.org/neodarw.htm
50 Dank an Brig Klyce für das aufmerksame Lesen des Papiers und die Entdeckung dieses teleologischen Ausdrucks.
51 Mckee, Jeffrey, The Riddled Chain, Rutgers University Press, 2000. S. 196.
52 Charles Darwin: Origin of Species, S. 154 [dt.: Über die Entstehung der Arten im Thier- und Pflanzen-Reich durch natürliche Züchtung, oder Erhaltung der vervollkommneten Rassen im Kampfe um’s Daseyn, 1860], zitiert nach M.Behe: Darwin’s Black Box, Free Press, 2006.
53 Debbie Lindell et al.: Transfer of photosynthesis genes to and from Prochlorococcus viruses”, Proceedings of the National Academy of Sciences, USA, Bd. 101, Juli 27, 2004, S. 11013-11018.
54 Jason Raymond et al.: ”Whole-Genome Analysis of Photosynthetic Prokaryotes”, Science, Bd. 298, 22.11.2002, S. 1616-1620.
55 Photosynthesis Analysis Shows Work of Ancient Genetic Engineering, Arizona State University, 21.11.2002. http://clasdean.la.asu.edu/news/blankenship.htm
56 Catherine Grillot-Courvalin, Sylvie Goussard und Patrice Courvalin, ”Bacteria as Gene Delivery Vectors for Mammalian Cells”,in: Horizontal Gene Transfer, ed. Michael Syvanen & Clarence Kado.
57 D.L. Hartl, A.R. Lohe und E.R. Lozovskaya: Modern Thoughts on an Ancyent Marinere: Function, Evolution, Regulation.”Annual Review of Genetics, Bd. 31, 1997, S. 337-358.
58 Nature Reviews Genetics, Bd. 5, 2004, S. 638-639
59 Svitil, Kathy A. ”Did Viruses Make Us Human?”Discover, Nov 2002.
60 Jennifer F. Hughes und John M. Coffin, Ëvidence for genomic rearrangements mediated by human endogenous retroviruses during primate evolution”, Nature Genetics, Bd. 29, Dez 2001, S. 487-489, n. 4
61 Alan Herbert: The four Rs of RNA-directed evolution”Nature Genetics, Bd. 36, Jan 2004, S. 19-25, n. 1
62 Nicole King et al., Ëvolution of Key Cell Signaling and Adhesion Protein Families Predates Animal Origins”, Science, Bd. 301, 18.7.2003, S. 361-363.
63 Brig Klyce: „Neo-Darwinism: The Current Paradigm”, http://www.panspermia.org/neodarw.htm
64 Sylvia Paga’n Westphal: Life goes on without ’vital’ DNA”, New Scientist, 3.6.2004
65 Für alle Pedanten da draußen: Ich weiß, dass das, was der Darwinismus aussagt, nicht „Der Sinn des Lebens ist das Überleben“ lautet, sondern „Der Sinn des Lebens ist es, lange genug zu überleben, um meine Gene weiterzugeben und ihr Überleben und weitere Vervielfältigung zu sichern“. Meint ihr nicht, dass ersterer irgendwie besser klingt? Egal, das Ergebnis ist das selbe.
66 http://www.panspermia.org/whatsne33.htm
67 Siehe Halton Arp: Seeing Red, Aperion, 1998; Eric Lerner: The Big Bang Never Happened, Vintage, 1992.
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