Der Aufstieg der Menschheit von Charles Eisenstein

Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters

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Inhaltsverzeichnis:


Ganzheitliche Medizin

Ich hatte unrecht. Der Keim ist nichts. Das „Terrain“ ist alles.
– Louis Pasteur

Im Anfangskapitel „Triumph der Technologie“ habe ich darauf hingewiesen, dass die Triumphe moderner Medizin in den 1940ern und 1950ern bei der Überwindung der meisten Infektionskrankheiten nie von Siegen über Krebs, Arthritis, Herzerkrankungen und die Vielzahl seitdem neu entstandener Krankheiten gefolgt wurden. Trotz enorm gestiegenen Wissens über Molekularbiologie, trotz der Erwartungen in Nanomedizin und Gentherapie haben wir wenig Fortschritt bei den heute auftretenden Krankheiten gemacht. Jedenfalls gab es keine Wunderheilungen, keine Zaubermedikamente wie die Antibiotika und Impfmittel früherer Zeiten.

Stattdessen sehen wir ein immer strengeres Regime der Kontrolle, das sich auf das Abtöten von Keimen, die Sterilisierung der Umgebung, das Herausschneiden von Organen, den Hormonersatz und die Regulierung der Körperchemie stützt. Wie jede technische Korrektur fordert dieses Regime der Kontrolle einen immer höheren Preis; es kann nur mit wachsendem Aufwand aufrecht erhalten werden, wird dabei jedoch selbst immer anfälliger.

Im Abschnitt „Der Krieg der Keime“ (Kapitel V) habe ich gefragt: „Was ist die Alternative zum Abtöten von Keimen“ Was ist die Alternative zur Kontrolle? Sollen wir der Natur ihren Lauf lassen? - Ja, genau das. „Der Natur ihren Lauf lassen“ kann jedoch etwas ganz anderes bedeuten, als einfach den Körper verfallen zu lassen. In unserem Gefangensein in der Trennungsideologie sehen wir die Natur als eine aufs Chaos zielende Kraft, die uns grundsätzlich feindlich gesinnt ist. Wenn wir an das Überleben des Stärkeren glauben, dann sind wir am sichersten, gesündesten und bequemsten dran, wenn wir unsere Wettbewerber übertrumpfen – per Definition alles andere Leben – und das Leben unter Kontrolle halten.

Die neuen biologischen Paradigmen ändern das alles. Die Vorrangstellung der Symbiose in der Natur, der genetische Fluss, der alles Leben vereint und die Vorstellung, dass der Natur Bestimmung und Schönheit innewohnen, statt nur zufällig vorhanden zu sein – all das führt zu einem völlig anderen Konzept von Gesundheit und Heilung. Gesundheitsfürsorge ist keine Sache des Widerstands gegen den Lauf der Natur mehr; sich gegen den Lauf der Natur zu wenden erzeugt Gesundheitsprobleme.

Dass Ganzheitlichkeit ein Synonym für Gesundheit ist und dass Heilung bedeutet, ganz zu werden, ist schon fast zum Klischee geworden. Ich habe behauptet, dass die Schwierigkeiten unserer Zivilisation letztlich von unserem fehlerhaften Selbstbild herrühren. Das zieht sich durch das ganze Buch. Sowohl psychologisch als auch biologisch sehen wir uns selbst als viel weniger, als wir tatsächlich sind. Mit anderen Worten haben wir uns als weniger als unsere Ganzheit definiert. Oder man könnte auch sagen, wir haben uns als ungesund definiert. Krankheit ist in unsere Selbst-Definition eingebaut.

Die neue Biologie erkennt, dass kein Wesen getrennt und verschieden vom Rest des Lebens ist; dass alle über die gegenseitige Stützung hinaus ein gemeinsames Wesen (Orig.: inter-beingness) teilen, das sich keinem einzelnen, getrennten Element des Lebens beugt. Zellen leben, Organe leben, Organismen leben, Erdboden lebt, Ökosysteme leben, der Planet lebt... vielleicht lebt sogar der Kosmos; und sie alle sind nicht bloß von einander abhängig, sondern existieren nur in Beziehung zu einander. Wer gegen Keime einen medizinischen Krieg führt und wer allgemein gegen die Natur einen technologischen Krieg führt, der führt folglich auch einen Krieg gegen Teile seiner selbst.

Dieser Krieg gegen uns selbst hat dramatische Folgen in unserem Körper. Fast alle neuen epidemischen Krankheiten der postmodernen Zeit haben mit einer Fehlfunktion des Immunsystems zu tun. Ein gesundes Funktionieren des Immunsystems hängt grundlegend von der Fähigkeit des Körpers ab, zwischen Selbst und nicht-Selbst zu unterscheiden. Anderfalls werden wichtige Teile des Selbst als Anderes zurückgewiesen, ein Zustand, den man Autoimmunität nennt. Krankheiten wie Autismus, Diabetes, Fibromyalgie, MS, Alzheimer, Lupus, Asthma, Arthritis und sogar Arteriosklerose, von denen einige um zehn oder gar zwanzig Prozent im Jahr anwachsen, sind teilweise oder ganz Autoimmunerkrankungen. Eine andere Fehlfunktion besteht, wenn das Immunsystem etwas übersieht, was es abweisen sollte, es als freundlich einstuft und ihm erlaubt sich zu vermehren, wie beispielsweise bei Krebs- und Pilzwucherung. Im Fall von Allergien reagiert das Immunsystem extrem auf etwas, das eigentlich harmlos ist. Bei AIDS ist es das Immunsystem selbst, das unter Beschuss gerät.44

Diese Krankheiten haben in den vergangenen zwei Dekaden epidemische Ausmaße angenommen und zeigen – nicht zufällig – Resistenz gegen alle uns zur Verfügung stehenden Kontrolltechniken. Die Ideologie des Technologischen Programms besagt, dass wir diese Krankheiten mit Erkenntnissen, die detailliert genug sind – möglicherweise auf molekularer Ebene – schließlich ebenfalls „unter Kontrolle“ bekommen müssten. Das offensichtliche Versagen dieses Programms, exemplarisch sichtbar am dreißigjährigen „Kampf gegen den Krebs“, stellt die gesamte theoretische Grundlage der Kontrolle in Frage und weist auf ein völlig anderes Medizinverständnis hin: eines, das alte Wurzeln, aber auch eine aktuelle Basis in den ökologischen und teleologischen Paradigmen hat, welche die Wissenschaft transformieren.

Bei der Betrachtung der modernen Immun-Epidemien wird die Ursache jeweils woanders gesehen: Manche können auf Umweltgifte zurückgeführt werden, andere auf Stress, Auslaugung der Darmökologie, Ernährung oder medikamentöse Behandlungen. Alle diese direkt-kausalen Faktoren haben jedoch eine gemeinsame Wurzel: unsere Trennung von der Natur, die uns dazu treibt, sie als manipulierbare, verbesserungsfähige, kontrollierbare Objekte zu behandeln. Die herkömmliche Lösung, mehr Kontrolle, verschlimmert nur die Ursache unserer heutigen Krankheiten, während jede wahre Heilung auf die eine oder andere Weise die Ursachen der Trennung berücksichtigen muss.

Alles, was uns mehr zu dem macht, was wir sind, bringt uns per Definition in die Nähe von Ganzheitlichkeit und damit Gesundheit. Besonders die Autoimmunerkrankungen unserer Zeit können nur durch Medizin geheilt werden, die den Krieg gegen uns selbst beendet, welcher sich als Programm der Kontrolle verkleidet. Ein direktes Beispiel ist der Körperökologie-Ansatz, den Donna Gates zur Behandlung von Autismus vorantreibt. Ihre Methode kombiniert probiotische Präparate, fermentierte Nahrung und eine restriktive Diät, um das Ökosystem des Darms wieder herzustellen und Pilzwucherungen im Körper auszumerzen. Dies zeigt außerordentliche Ergebnisse. Entgegen der verbreiteten Auffassung, dass Autismus nicht heilbar sei, haben Donna und die von ihr unterwiesenen Leute tausenden von Kindern geholfen, von dieser schwächenden Autoimmunerkrankung zu genesen. Wenn die Behandlung früh genug beginnt, vor dem fünften Lebensjahr, ist eine vollständige Heilung möglich. Und selbst ältere Kinder und junge Erwachsene erfahren spürbare Besserung.

Donna Gates’ Ansatz ist holistisch. Eine reduktionistische Behandlung würde jene Teile des Immunsystems ausschalten, die das Myelin angreifen (und dann die Nebenwirkungen der Immunschwächung mit anderen Medikamenten behandeln). Ein gleichermaßen reduktionistischer Ansatz zum Umgang mit Waldsterben ist der chemische oder genetische Schutz von Bäumen vor unmittelbaren Ursachen, z.B. Pilzen, und der reduktionistische Ansatz gegen Ernteeinbußen ist die Tötung von Insekten, die sie erzeugen.

Statt des Versuchs, eine kaputte oder unfähige Natur zu reparieren, sähe ein ökologischer Ansatz das Problem als Symptom einer Störung latenter Ganzheitlichkeit. Was Reduktionismus als Ursache betrachtet, sieht Holismus als Symptom. Schädlingsbefall auf einem Bauernhof ist das Symptom einer verbrauchten Bodenökologie sowie abgereicherter Pflanzenvielfalt und dem damit verbundenen Verlust an Insekten- und Vogelarten, welche die Plage eindämmen könnten; dies schwächt die Fruchtspezies. Die reduktionistische Lösung der Anwendung von Insektiziden ist lediglich eine technische Reparatur und verstärkt somit das unharmonische Muster, dessen Symptom Schädlingsbefall ist. Eine holistische Lösung bestünde darin, vom Modell der Fabrikfarm Abstand zu nehmen, um ein ökologisches Modell anzustreben, das Hecken, Mischkulturen und Bodenerholung einbezieht. Die zwischen Erntepflanzen, Hoftieren, Insekten, wilden Pflanzen, Mikroorganismen, Vögeln, der Bauernfamilie und schließlich der zu ernährenden Gemeinschaft gedeihenden Beziehungen stellen gemeinsam ein Ökosystem dar, ein unreduzierbares Ganzes. Die ökologische Lösung ist das Gegenteil der reduktionistischen: Statt einzelne Variablen in einem vereinfachten, linearen System zu isolieren zu versuchen, unterstützt es Komplexität und Rückkopplung, verzichtet auf Linearität und die von ihr ausgehende Kontrolle. Eine ökologische Farm hat man genau so wenig wie einen ökologischen Körper unter Kontrolle.

Kontrolle ist in der Tat ein Feind der Gesundheit, denn sie rührt von der Reduzierung nicht-linearer Ganzheiten her. Das ist letztendlich der Grund, weshalb wir immer kranker werden, während unsere Kontrolle der Körperphysiologie, Pflanzengene und Bodenchemie immer präziser wird. Wir reduzieren die Wirklichkeit und machen die Natur kleiner. Dieser Trend begann vor langer Zeit mit der Entwicklung der Symbolkultur, welche die direkte Wahrnehmung der Wirklichkeit durch ein abstraktes Abbild ersetzte. Seither hat sich der Abfall von der Ganzheitlichkeit bis zu dem Punkt beschleunigt, an dem die ganze Welt auf allen Ebenen voller Krankheit ist: planetar, sozial, körperlich. Das Zeitalter der Wiedervereinigung, das eine Rückkehr zur Gesundheit ist, bringt ein Lösen der Kontrolle und das Vertrauen in eine Ganzheitlichkeit, die größer ist als wir. Wir sind so an das technologische Kontrollparadigma gewöhnt, dass wir uns nur schwer etwas anderes vorstellen können. Das ganze Technologiekonzept scheint Kontrolle zu verkörpern. Darum folgern viele Radikale, dass eine Gesellschaft nur dann gesund sein kann, wenn sie die Technologie aufgibt und zu einer primitiven Lebensweise zurückkehrt.

Doch es gibt holistische und ökologische Arten der Technik; sie streben nicht nach Reduzierung der Natur, sondern führen uns zu ihr hin. Denn, wie wir gesehen haben, ist die Natur nicht statisch, sondern entwickelt sich zu immer größerer Komplexität. Möglicherweise ist das Auftreten des Menschen Teil des nächsten Komplexitätssprungs. Deshalb vertrete ich keine Rückkehr zur Vergangenheit, sondern möchte, dass wir aus unserer kulturellen Erinnerung nicht-reduktionistische, nicht-lineare Technologien als Modell für die Zukunft schöpfen.

Im Gesundheitsbereich sind wir glücklicherwiese im Besitz wenigstens zweier solcher holistischen Technologiemodelle, die sich gut erhalten haben: Ayurveda und Traditionelle Chinesische Medizin (TCM). Diese beiden Systeme haben ihr Augenmerk nicht auf die Linderung von Symptomen gerichtet (dieses Kraut gegen Kopfschmerz, jenes gegen Verstopfung), sondern auf Muster körperlicher Ungleichgewichte, die sich in Symptomen äußern. Man fragt nicht: „Welches X erzeugt Y?“, sondern: „Welche Beziehung besteht zwischen X und Y?“45 Ursache und Wirkung sind nicht linear, sondern in ein ganzheitliches Muster verwoben, das sich nicht von irgendeinem Aspekt des Körpers des Patienten isolieren lässt, sei er persönlich, familiär, mit der Arbeit oder der Umgebung verbunden. Kaptchuk schreibt:

„Für die westliche Medizin bedeutet, eine Krankheit zu verstehen, dass man ein individuelles Objekt aufdeckt, das vom Wesen des Patienten verschieden ist; für die chinesische Medizin bedeutet verstehen, dass man die Beziehungen zwischen allen Anzeichen und Symptomen des Patienten erkennt... Die chinesische Methode ist damit holistisch und basiert auf der Vorstellung, dass kein Einzelteil außerhalb seiner Beziehung zum Ganzen verstanden werden kann. Ein Symptom wird deshalb nicht zu einer Ursache zurück verfolgt, sondern wird als Teil der Gesamtheit betrachtet.“46

Wie sehr dies doch den neuen biologischen Paradigmen ähnelt, die Gene und Organismen nicht als selbständige und getrennte Einheiten versteht, sondern in Hinblick auf ihre Beziehungen zu einander und der Umwelt. Erinnere dich an die autokatalytischen Mengen und die emergenten Phänomene der Mandelbrot-Menge, bei denen die Eigenschaften des Ganzen sich nicht aufteilen lassen. In der TCM ist ein Muster wie „feuchte Wärme, die die Milz beeinflusst“ keine isolierbare Ursache wie ein Bakterium oder Virus, sondern eine Eigenschaft der Gesamtperson. Es ist der Beziehung zwischen den Teilen zu eigen, kann aber in keinem der Teile selbst lokalisiert werden. Die Behandlung bemüht sich daher um die Änderung des Gesamtmusters.

Weil das Gesamtmuster alle Teile einbezieht, kann die richtige Therapie einen Wandel des Ganzen bewirken, wenn sie auf eines der Teile angewendet wird. Das ist die Grundlehre der Chiropraktik. Üblicherweise wird gespottet, sie behaupte, „Fehlstellung der Wirbelsäule sei die Ursache aller Krankheiten“; in Wirklichkeit sagt die Chiropraktik, dass eine Fehlstellung der Wirbelsäule Teil jedes Krankheitsbildes sei. Genau wie bei den „Zeichen und Symptomen“ chinesischer Medizin ist die Fehlstellung der Wirbelsäule sowohl Ursache als auch Symptom von Krankheit, doch ist es nicht nur die Wirbelsäule, an welcher sich die Krankheit zeigt. Ein Chiropraktiker sagte mir, dass wir heilen könnten, indem wir eine einzelne Zelle behandeln, wenn wir nur wüssten wie; und zwar eine beliebige Zelle, denn das disharmonische Muster spiegelt sich nicht nur in der Wirbelsäule, sondern in jeder Zelle, jedem Gewebe und jedem Organ des Körpers. Die Chiropraktik konzentriert sich jedoch auf die Wirbelsäule, weil diese einfacher als eine einzelne Zelle zu behandeln ist. Andere Disziplinen erzielen das selbe Ergebnis, indem sie sich auf andere Körperteile und Systeme konzentrieren. Fußreflexologie benutzt eine auf den Fuß projezierte „Karte“ des Körpers, Ohrakupunktur entsprechend beim Ohr, Iridologie diagnostiziert Krankheiten aufgrund ihrer Projektion auf die Iris. Traditionelle chinesische Diagnose basiert auf empirischen Verknüpfungen zwischen verschiedenen Krankheitsbildern und entsprechenden Eigenschaften des Pulses und der Zunge. Dabei handelt es sich nicht um „Ursachen“; all dies ist Teil eines Gesamtmusters. Ändere irgend etwas und die Integrität des Musters wird gestört, was das Auftreten eines neuen Musters ermöglicht.

Dass jeder Körperteil eine (verzerrte, aber vollständige) Karte des Körpers enthält, korrespondiert mit einer holographischen Betrachtungsweise des Universums und findet im Auftreten von Selbstähnlichkeit bei Fraktalen eine treffende Metapher. Die Mandelbrot-Menge ist ein solches Fraktal: Schau dir einen der kleinen Zacken oder Punkte näher an, und du wirst häufig eine verzerrte Kopie der Gesamtmenge finden, die genau so Komplex ist wie das Original. Die Vorstellung, dass jeder Teil alle Informationen des Ganzen enthält, stellt den Reduktionismus zutiefst in Frage und lässt ein völlig anderes Heilkonzept geraten erscheinen. Holistische Behandlungsmethoden betreffen immer noch den einen oder anderen Teil, aber sie sind nicht reduktionistisch; ein Teil bietet lediglich Zugang zum Ganzen.

Die Effektivität eines gegebenen Heilmittels hängt davon ab, wie gut es das disharmonische Muster auflösen kann und ob es eine zum spezifschen Muster passende Abhilfe darstellt. In der Pflanzenheilkunde, besonders bei TCM und Ayurveda, findet man mit einem systematischen Ansatz allgemeine Ungleichgewichte heraus, etwa Hitze und Kälte, Wärme und Trockenheit, Bewegung und Stillstand – das zugrundeliegende Krankheitsklima – und modifiziert diese Basisfaktoren so, dass ein neues Muster entstehen kann. Alternativ dazu findet ein spezifischer Ansatz ein einzelnes Kraut mit einem bestimmten Muster und verabreicht dieses als „spezifisches Heilmittel“, eine „einfache“ bzw. in der Ayurveda eine prabhava oder „spezielle Kraft“. Klassische Homöopathie geht den selben Weg, denn sie verwendet ein einzelnes Mittel, das zum Krankheitsbild passt.

All diese Systeme erwachsen einer völlig anderen Beziehung zur Welt, als sie der westlichen „Allopathie“ zugrunde liegen. Die westliche Medizin basiert auf Kontrolle: der Unterdrückung natürlicher Körperreaktionen, die unangenehm (oder lebensbedrohlich) sind; etwas für den Körper zu tun, das er nicht allein kann (Nierendialyse etwa); der Verbesserung fehlerhafter Funktionen (Entfernung der Schilddrüse und Thyroxin-Regulierung); oder dem Umbau des Körpers (Erweiterung von Blutgefäßen zur Behandlung von Bluthochdruck, Senkung des Cholesterinspiegels mit Statin, herausschneiden von Organen). Der herkömmliche biomedizinische Ansatz versucht das Unvermögen des Körpers durch Verabreichung einer Droge zu kompensieren, die den Körper zwingt, das zu tun, was er sollte. Der holistische Ansatz ist anders. Statt den Körper zu zwingen, das zu tun, was wir von ihm möchten, versucht man ihn wieder in einen gesunden Zustand zu bringen, in dem er für sich selbst sorgen kann.47 Der holistische Ansatz geht also davon aus, dass die Natur sich tatsächlich „um sich selbst kümmern“ kann und dass es in ihr eine Tendenz zur Ganzheitlichkeit gibt. Die in Kapitel VI beschriebenen, von allein entstehenden, sich selbst regulierenden Eigenschaften komplexer Systeme verleihen dieser Sichtweise neue wissenschaftliche Glaubwürdigkeit. Mittlerweile ist die Idee, „den Körper zu zwingen, sich nach unseren Wünschen zu richten“ der Inbegriff des Technologischen Programms in seiner Anwendung auf den menschlichen Körper. Es ist ein diktatorischer Umgang mit Medizin, ein Fehler, der von alternativen Heilmethoden immer dann mitgemacht wird, wenn sie versuchen, sich auf herkömmlicher biomedizinischer Grundlage zu rechtfertigen. Mit Matthew Woods Worten „äffen sie den Mainstream nach“. Er merkt an:

„Kräuter können in künstlicher, unterdrückerischer Manier verwendet werden, beispielsweise ist die Abtötung von Bakterien durch Berberin (aus Berberitzen, Mahonien und Orangenwurzel) ein äußerer Zwang. Bakterien sind Lumpensammler, die Probleme des Gewebezustands nutzen. Wenn die Extreme von Hitze oder Kälte, Feuchtigkeit oder Trockenheit, Spannung oder Entspannung beendet werden, wird auch jener Zustand aufgehoben, von dem sich die Bakterien ernähren. Man kann auch Echinacea benutzen, um die körpereigene Methode zur Bakterienabwehr – Produktion weißer Blutzellen – zu stärken. Weiß der Arzt, dass der Körper wirklich vermehrte Produktion weißer Blutzellen braucht? Oder ist das nur eine bequeme Vorstellung, ein unbedeutendes Faktum, das aus dem natürlichen Gesamtzusammenhang herausgeklaubt wurde? Wendet es der Arzt entsprechend seiner Stellung als Außenseiter, Pfuscher und Eroberer deshalb an, weil er keine Ahnung hat, wie der Organismus wirklich funktioniert und was er braucht? Diese aufgezwungenen Handlungen mögen vorübergehend oder vielleicht auch dauerhaft akute Zustände beenden, aber solange sie nicht mit dem Körper zusammenarbeiten, um ihn entsprechend seinen eigenen Bedürfnissen zu stimulieren oder zu beruhigen, zwingen sie ihm einen künstlichen Zustand auf, der niemals gesund ist. Das Abtöten von Bakterien ist oftmals unnatürlich und schädlich.48

Die Medizin im Zeitalter der Wiedervereinigung ist nicht bloß eine oberflächliche Ersetzung pharmazeutischer Medikamente durch pflanzliche; sie verkörpert ein tiefgreifend anderes Verständnis von Natur und Gesundheit. In Kapitel VI habe ich über einen neuen Ansatz bei Wissenschaft und Technologie geschrieben, bei dem es nicht um Verdrängung und Unterwerfung der Natur geht, sondern darum, unsere Rolle und Funktion in der Natur zu finden. Medizin im Zeitalter der Wiedervereinigung ersetzt also das diktatorische Modell mit einem neuen Paradigma: Medizin als Ressource, Lehrer oder Freund. Auf allgemene Weise angewendet können Kräuter jene Ressourcen liefern, die der Körper braucht, um sein energetisches und biochemisches Ökosystem auszurichten. Auf spezifische Weise angewendet können sie den Körper lehren sich wohlzufühlen, selbst bei verschwindend geringen homöopathischen Dosen. Ein einziges Molekül könnte dem Körper genügen, um sagen zu können: „Ah, so geht das“. Über eine Rückkopplungsschleife könnte das Molekül Prozesse zu dessen Vermehrung oder der von ähnlichen Stoffen anregen.

Das Leben floriert nicht in steriler Isolation. Keine Lebensform ist von den anderen unabhängig. Wir brauchen einen kontinuierlichen Informationszufluss vom restlichen Leben, einschließlich Bakterien und Pflanzen, um gesund zu bleiben, denn unsere Ganzheitlichkeit schließt diese ein. Wenn wir die unendlich vielen Eigenschaften einer lebenden Pflanzen auf eine Handvoll „aktiver Substanzen“ reduzieren, schneiden wir uns selbst von unseren Mitlebewesen ab - und daher von uns selbst. Wir verschlimmern die Gegnerschaft zum Anderen, was sich in Autoimmunerkrankungen, Allergien und Krebs äußert. Ähnlich ist es, wenn wir uns in Isolation von der Mikrobenwelt impfen und sterilisieren; wir schneiden uns vom genetischen Plenum ab, das uns jene genetischen und biochemischen Informationen bietet, die wir für ein dynamisches Gleichgewicht mit unseren Mitlebewesen brauchen.

Medizin als Lehrer oder Auslöser für ein neues Muster zu sehen, passt auch zum aufblühenden Feld der „Energiemedizin“. Wir haben gesehen, dass die gegenwärtig akzeptierten biologischen Informationswege nur einen kleinen Teil dessen umfassen, was es gibt. So wie Chiropraktik und Kräuterheilkunde andere Wege zur Erreichung ganzheitlicher Muster erkennen und anwenden, wirken die verschiedenen Energieheilwege über Zugänge, die der herkömmlichen Wissenschaft kaum sichtbar sind. Und genau wie bei der Pflanzenheilkunde infiziert reduktionistisches Denken manchmal auch die Energiemedizin, beispielsweise beim „Reparieren beschädigter Chakren“ mit Psycho-Chirurgie. Ich verlange nicht, dass talentierte Leute wie Barbara Ann Brennan nicht beschädigte Chakren reparieren sollten! Es geht darum, dass etwas völlig anderes geschieht, als die Ausübung von Kontrolle über ein wiederentdecktes, immaterielles Organsystem.

Ein verbreitetes Fehlverständnis von „Energie“ in der Alternativmedizin ist, dass diese ledliglich ein weiterer Bestandteil der Person sei; nur eben einer, den die Mainstream-Medizin nicht anerkennt. Doch wie Geist, Bestimmung und Bewusstsein sind die „Energiefelder“, auf die sich manche Heiler einstimmen können, Eigenschaften des Gesamtorganismus. Die Auren, die sie sehen, sind letztlich keine objektiv existierenden Gegenstände, sondern subjektive Repräsentanten von Mustern. Sie sind eine Methode, mit welcher der Heiler Informationen auslegt und versteht. Sie mögen insofern inter-subjektiv sein, als manche Aspekte des „menschlichen Energiefelds“ mit gewissen elektromagnetischen Eigenschaften korrespondieren und als es zwischen Heilern oft beachtliche Übereinstimmung bezüglich der grundlegenden energetischen Anatomie gibt. Anders ausgedrückt sind sie nicht bloß Ausgeburten der Phantasie des Heilers.

Die unvermeidliche Subjektivität der Energieheilung macht sie für das Programm der Normierung, Mechanisierung und die damit verbundenen Erziehungs- und Bildungsparadigmen unzugänglich, welche die heutige Medizin beherrschen. Während herkömmliche Medizin Krankheiten in Kategorien gliedert, erkennt holistische Medizin die Einzigartigkeit des Zustands jedes Patienten und jeder Beziehung zwischen Heiler und Patient. Daher gibt es bei jeder Begegnung unausweichlich ein unsicheres Element, ein Element der Neuheit. Jedesmal, wenn wir die Individualität eines Patienten auf eine Menge kategorisierter Zustände reduzieren, die formelhafter Behandlung unterliegen, wird immer etwas fehlen, wird Heilung stets unvollständig bleiben. Mit anderen Worten wird holistische Medizin niemals eine „Wissenschaft“ im üblichen analytischen bzw. Baconschen Sinne der methodischen Anwendung objektiver Prinzipien sein. Sicher gibt es Gemeinsamkeiten quer über ein breites Spektrum an Leuten, auch sich wiederholende Muster, aber kein Vergleichspaar ist jemals identisch. Darum wird die Medizin der Wiedervereinigung, wie in „Die Ursprünge der Trennung“ (Kapitel II) beschrieben, eine Abkehr vom Verlust des Besonderen (der Verschleierung der absoluten Einzigartigkeit jedes Gegenstands durch Etiketten und Zahlen) bewirken.

Nach dem Denkmuster der Newtonschen Weltmaschine kann man zwei Elemente zu praktischen Zwecken als gleich erachten. In einer Industriemaschine entsprechen ersetzbare Teile dem Normierungsprinzip. In der Wissenschaft entspricht es der Vorstellung, dass wir Variablen kontrollieren können, um „kontrollierte Bedingungen“ zu erzeugen, unter denen Normmethoden funktionieren. Es entspricht der Vorstellung, dass Abweichungen lediglich Illusionen sind, die von einer anderen Anordnung identischer Teile herrühren. Kein Elektron unterscheidet sich von anderen Elektronen. Es entspricht einer Weltanschauung, nach der man jeden beliebigen Aspekt der Welt auf einen Datensatz reduzieren kann. Ein Mensch ist für medizinische Zwecke nur ein Satz physiologischer Daten. Das Wissenschaftliche Programm besagt, dass, wenn dieser Datensatz vollständig ist, wenn er jeden relevanten Körperzustand erfasst, auch unsere Medizin vollständig sein wird, denn wir werden die Ursachen für alle Krankheiten kennen. Bis zu jenem Tag müssen sich Ärzte auf Erfahrung und Intuition verlassen, aber letztlich wird sie ein Computer ersetzen. Der Zusammenbruch des Wissenschaftlichen Programms bringt daher auch den Zusammenbruch eines tiefer liegenden Programms mit sich: die Abstraktion der Welt durch Namen, Zahlen und Symbolkultur.

Ich könnte mir vorstellen, dass diverse Praktiken der Schulmedizin weiterbestehen, besonders im Bereich der Lebensrettungstechniken. Hierin brilliert die westliche Medizin. Manchmal entwickeln sich Krankheiten (oder Verletzungen) über einen Punkt hinaus, an dem sich der Körper selbst heilen kann. Die Art, wie man diese Techniken anwendet, wird sich jedoch dramatisch ändern, wenn sie in ein holistisches Paradigma eingebettet werden. Das Skalpell wie auch die Hand des Heilers könnte man als Kanal für die Übermittlung von Mustern zwischen Kosmos und Individuum betrachten. Erleuchtete Heiler aller Traditionen sehen sich häufig selbst als Medium oder Agens für eine höhere Kraft, die durch sie hindurchfließt und ihre Fähigkeiten steuert. Das heißt nicht, dass Training, Praxis und Ausbildung unnötig sind, sondern dass diese ein Mittel zur Einstimmung auf eine Heilkraft darstellen. Diese Kraft ist eine dem intelligenten, immer höhere Ebenen der Erfüllung anstrebenden Universum innewohnende Bestimmung. Sie ist die emergente Ordnung, die aus organischer Komplexität entsteht und nur in Beziehung zum Anderen, zur Umwelt, zum Planeten, zum Kosmos erreicht werden kann.

44 Damit meine ich einen Angriff auf sich selbst, nicht durch das HI-Virus. Es sammeln sich unzurückweisbare Belege, dass HIV ein Symptom und nicht die Ursache von AIDS ist. Eine erschöpfende Darlegung liefert Henry Bauers Serie in The Journal of Scientific Exploration, Frühjahr 2005 bis Sommer 2006.

45 Ted J.Kaptchuk: The Web that Has no Weaver. Contemporary Books, 2000. S. 4

46 Kaptchuk, S. 6-7

47 Matthew Wood: The Practice of Traditional Western Herbalism. North Atlantic Books, 2004. S.

48 Wood, S. 116

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1998-2011 Charles Eisenstein