Der Aufstieg der Menschheit von Charles Eisenstein
Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters
Komm aus dem Kreis der Zeit in jenen der Liebe. |
Kapitel IV erläuterte, inwiefern die konzeptuelle Verdinglichung der Welt zu einer alles verschlingenden Herrschaft von Geld und Eigentum führt. Entsprechend wird die Umkehr dieser Verdinglichung das Wirtschaftsmodell zurückbringen, das dem gegenwärtigen Zwang zur Aneignung und zum Behalten voranging. Ich nenne dies die Geschenkgesellschaft.
Im Bereich menschlichen Austausches verkörpert das Schwundsystem ein Grundprinzip, das Lewis Hyde dem Geschenk zuschreibt: dass es weitergegeben werden muss - oder stecken bleibt und schließlich zum Fluch wird. Die Geisteshaltung des Geschenks erstreckt sich jedoch weit über den menschlichen Bereich hinaus. Sie beschreibt eine anders geartete Beziehung zur Natur und zur Welt allgemein.
Es ist kein Zufall, dass viele Rituale, die die Steinzeitkultur durchzogen, in Form von Geschenken konzipiert waren: Geschenke ans Land, ans Wasser, die Fische, die Bäume. Wenn kräuterkundige Indianer Kräuter sammeln gehen, bringen sie normalerweise ein bisschen Tabak oder Maismehl als Gabe, als zeremonielles Geschenk an die Pflanzen und das Land mit, von denen sie etwas erhalten haben. Auch unter Menschen werden Geschenke üblicherweise von Ritualen begleitet. Denk an Weichnachten. Instinktiv erkennen wir die Gabe von Geschenken als ein heiliges Ereignis, zu dem unausweichlich Rituale gehören.
Die kommende Verschmelzung von Wissenschaft und Religion, die so sehr mit der heiligen Bestimmung der menschlichen Art in Beziehung steht, kann auch in Sinne des Geists des Geschenks verstanden werden. Wenn Wissenschaft die Erfüllung unserer Rolle im größeren Ganzen erreichen soll, wie sollen wir jene Erfüllung dann anders verstehen als durch die Frage: „Was haben wir der Welt zu geben?“. Ökologie ist selbst ein Geschenknetzwerk, in dem jeder Organismus und jede Art weit mehr zur Umwelt beiträgt, als das darwinistische „Stärke“-Kalkül zulässt. Wenn wir die Natur nicht als Objekt sehen sollen, sondern an ihr als ökologische Wesen teilnehmen, dann müssen wir in das Geschenknetzwerk einsteigen. Keine Spezies ist austauschbar und keine Fähigkeit ist überflüssig. Sicher haben auch die menschlichen Fähigkeiten, die wir auf die Eroberung der Welt verwenden, ihren Zweck.
Ich frage mich, ob einige Leser vielleicht ungeduldig auf eine genauere Aussage bezüglich menschlicher Bestimmung warten. Ich habe eine Rolle und Funktion erwähnt, welche die Menschheit, nicht weniger als andere Spezies, beim Erhalt und der Entwicklung des planetaren Ökosystems spielt. Ich habe nicht näher bestimmt, worin diese Funktion bestehen könnte. Ich habe weniger ein Programm als eine andere Denkweise anzubieten. Wir werden unsere wahre Rolle durch das Spiel entdecken und gestalten. Es ist nicht nötig, gleich zu wissen, worin sie besteht; wichtig ist die Einstellung, die Bindung, die dem Eintauchen in Geschenkbewusstsein entspringt. Es ist wie das Einkaufen von Geschenken, ohne zu wissen was man kaufen soll; aber du weißt, dass du „genau das Richtige“ finden wirst und dass du es erkennen wirst, wenn du es siehst.
Der Aufstieg der Menschheit verliert seine Untertöne von Herrschaft und Trennung, wenn wir fragen: „Worin besteht unsere einzigartige Gabe an die Welt?“ Jene Frage wird bestimmend für die künftige Wissenschaft und Technik werden. Wie können wir an der sich entfaltenden Schönheit des Universums teilhaben? Wenn die Trennungsillusion geheilt ist, wird Schönheit unsere kollektive Bestimmung charakterisieren. So wie der Einzelne Arbeit im Geist der Kunst angehen wird, so werden wir auch neue Technologien nicht daran messen, ob sie Arbeit sparen, Kosten reduzieren oder Profit erwirtschaften, sondern ob sie zu einer schöneren Welt beitragen. Und das wird keine Gewissensberuhigung im Dienst des Profits sein; es wird die der Wissenschaft zugrundeliegenden Motivationen durchdringen.
Nun gut, klingt wie eine schöne Zukunft; aber was ist mit jetzt? Ist es heute möglich, während man in einer Gesellschaft lebt, die auf aneignen und behalten basiert, im Geist des Geschenks zu handeln, welcher der Geist der Fülle ist, was letztlich die Auflösung von Grenzen innerhalb des Geschenkkreises bedeutet?
Denk daran: Trennung ist eine Illusion. Wir können wählen, ob wir nach jener Illusion leben oder sie zurückweisen wollen, aber die grundlegende Tatsache, dass das Leben und das Universum zutiefst fürsorglich sind, ändert das nicht. Das Leben selbst – unser menschliches Leben – ist ein Geschenk. Unser Leben, unsere Talente, unsere Fähigkeiten, unser Privileg, Menschen zu sein, sind uns gegeben; und wie alle Gaben kann man sie nicht horten. Man kann sie nicht wie das Kapital klassischer Ökonomie zur unbegrenzten Steigerung von Mir und Meinem verwenden, sondern muss sie weitergeben, damit sie nicht stehenbleiben und verfallen. In früheren Geschenkzirkeln bedeutete dies eine Identität, die größer war, als das in Haut eingeschlossene Ego. Jeder Einzelne wusste, dass sein Geschenk eines Tages auf irgend eine Weise erwidert werden würde. Der Kreis – eigentlich ein Geschenknetzwerk – reguliert sich selbst, genau wie das natürliche ökologische Netz jede darin enthaltene Spezies trägt. Mit anderen Worten findet jedes Geschenk, wenn auch üblicherweise in veränderter Form, schließlich seinen Weg zurück zum Geber. „Unsere Freigiebigkeit mag uns mit leeren Händen zurücklassen, aber dies zieht sanft am Ganzen, bis das in Bewegung befindliche Ding zurückkehrt, um sie wieder zu füllen.“
Wer ist dann der Geber des Geschenks unseres eigenen Lebens, von Gesundheit und Glück? Und wie können wir uns revanchieren? Wozu sind unsere Gaben, wenn es nicht um das Überleben und Vermehren geht, die dem Untergang geweihte Vergrößerung des illusionären Selbst? Die christliche Antwort darauf ist die „Verherrlichung Gottes“; unglücklicherweise wird die Verherrlichung Gottes heutzutage im Sinne des Singens von Liedern über Jesus verstanden.
Nein. Gott zu verherrlichen heißt, Gottes prächtigste Manifestation zu ehren und zu teilen. Gott ist schließlich als Schöpfer bekannt; daher besteht die Verherrlichung Gottes in der Verehrung und Teilnahme an jener Schöpfung. Unsere Gaben sind schöpferische Geschenke. Die Gaben des Geistes und der Hand, die uns zu Menschen machen, das Geschenk des Lebens selbst, ermöglichen es uns auf einzigartige Weise, am fortschreitenden Schöpfungsprozess teilzunehmen. Unglücklicherweise haben wir sie seit langer Zeit in gegenteiliger Absicht verwendet: zur Bekämpfung der Schöpfung, zur Erzwingung von Uniformität und Linearität in einer Welt, der keines von beidem zueigen ist. Jener Kampf, der seit seinen prähistorischen Ursprüngen in Sprache, Zahl und Zeit einen immer höher steigenden Preis verlangt hat, ist beinahe vorüber. Die Ressourcen zu seiner Aufrechterhaltung sind fast erschöpft. Bald werden wir dazu übergehen, einfach die Gaben der Natur zu akzeptieren, statt sie an uns zu reißen, sie weiterzugeben, statt zu versuchen, sie zu horten.
Ob man nun Gott oder das Universum als Schenkenden betrachtet (wo wäre in einem voll vom Geist durchdrungenen Universum überhaupt der Unterschied?), ist unser Leben ein Geschenk, und das Geschenk weiterzugeben heißt, sein Leben so schön wie möglich zu leben. Es ist egal, dass die moderne Wissenschaft sich vom Geschenknetzwerk abgetrennt zu haben scheint. Diese Trennung ist eine Illusion. Trotz der logisch erscheinenden Vorzüge des Behaltens und Hortens sehen wir in Wirklichkeit unsere Gaben wachsen, nicht schrumpfen, wenn wir Schönheit der Hässlichkeit vorziehen.
Das Vertrauen des Jägers und Sammlers in die Fürsorglichkeit des Waldes steht uns noch immer zur Verfügung. „Lasst uns ein Fest aus allem machen, was wir heute haben. Morgen essen wir, was der morgige Tag uns bringt.“ Daran hängen eine ganze Reihe weiterer Glaubensfragen. Zu glauben, dass die Welt grundlegend vorausschauend ist; anzunehmen, dass die Welt ein Geschenknetzwerk ist; und dass die Teilnahme an diesem Netz bedeutet, die Grenzen des Selbst zu öffnen. Es bedeutet, die Illusion von uns selbst als selbständige und getrennte Wesen zu durchschauen. Es bedeutet auch, dass man vertrauen muss, nicht kontrollieren. In vollem Umfang beschenkt zu werden heißt, auf Kontrolle zu verzichten; sonst ist es kein Beschenktwerden, sondern bloße Manipulation des Gebenden, also Nehmen. Im Geist des Geschenks liegt die Aufhebung aller Erscheinungsformen der Herrschaft der Trennung. Wenn Geldtransaktionen Geschenktransaktionen ersetzen, dann schrumpft der Kreis des Selbst, um schließlich zur einsamen, gewinnsüchtigen Domäne nach John Calvin und Adam Smith zu werden. Im Geist des Geschenks zu leben kehrt diesen Prozess um und sprengt die Fesseln des selbständigen, getrennten Selbst und all dessen, was damit einher geht. Im Geist des Geschenks zu leben heißt, den Zwang zur Kontrolle, das Programm zur Benennung und Zählung der Welt, die Jagd nach reduktionistischer Sicherheit, den Trieb zur Umwandlung der Welt in Geld und Eigentum preiszugeben.
Weil Getrenntheit eine Illusion ist, können wir hier und jetzt „im Geschenk leben“, genau so einfach wie unsere steinzeitlichen Vorfahren. Das einzige Hindernis sind unsere Vorstellungen. Die Auffassung, dass wir es „uns nicht leisten können“, so zu leben, die Auffassung, dass das nicht sicher ist, ist nicht mehr und nicht weniger wahr, als sie immer gewesen ist. Zweifellos waren Jäger und Sammler manchmal am nächsten Tag unnötigerweise hungrig, weil sie nicht mit ihrer Nahrung haushielten oder Reserven zurücklegten, weil sie sich nicht mehr von der Welt angeeignet haben. Ich behaupte nicht, dass die Welt sicher ist. Die Vorstellung jedoch, dass wir die Welt sicherer machen, indem wir Dinge behalten und horten, ist gleichfalls eine Illusion. Wir sind kein bisschen sicherer, und es geht uns nicht besser als vor 10.000 Jahren. Damals genau wie heute war und ist eine Haltung des Vertrauens nötig.
Wir täuschen uns gleichermaßen, wenn wir denken: „Ach, wenn wir nur eine Jäger-und-Sammler-Gesellschaft wären, dann würde ich im Geschenk leben. Aber in der modernen Gesellschaft ist das nicht machbar.“ Es war nie „machbar“, nicht im Sinne der Sicherheitsmaximierung nach der Vorstellung des getrennten Selbst.
Der Glaube, „dass für mich gesorgt ist“, ist Teil der Geschenkmentalität. Für mich ist gesorgt; daher ist es sicher, meinerseits etwas zu geben. Diese Einstellung der Jäger und Sammler zur Fülle passt auch heute, sobald wir uns für den Geist des Geschenks entscheiden, egal ob im materiellen, sozialen oder kulturellen Bereich. Im Geschenk zu leben verlangt nicht, dass wir zunächst die Welt um uns herum ändern. Die Welt durch eine andere Brille zu sehen ist alles, was wir tun müssen. Wir sind so sehr daran gewöhnt, in Kategorien dessen zu denken, was wir bekommen oder wie wir von einer bestimmten Situation profitieren können. Im Geist des Geschenks zu leben bedeutet, jeder Person und jeder Entscheidung mit der Einstellung zu begegnen: „Was kann ich machen? Was kann ich geben?“ Der mit Existenzangst geimpfte moderne Mensch protestiert sofort: „Und was ist mit mir?“ Wenn wir tatsächlich im Geiste des Geschenks zu leben beginnen, dann finden wir heraus, dass dieser Widerstand auf einer Täuschung beruht. Wir finden heraus, dass sich das Universum erkenntlich zeigt. Beispielsweise dränge ich meine Studenten, ihre Karriereentscheidungen nicht darauf zu gründen, welche Laufbahn am meisten Geld, Sicherheit und Status abwirft, was der Nehmer-Mentalität entspricht (also letztlich wie in der Landwirtschaft), sondern darauf, was man der Welt gerne geben würde. Baue eine Karriere darauf auf, und du wirst auf eine Weise erfolgreich sein, die du dir kaum vorstellen kannst.
Diese Denkweise folgt wie selbstverständlich auf die Erkenntnis über das Geschenk all unserer Begabungen, unseres Glücks und tatsächlich des Lebens selbst; sie wird eine Haltung der Dankbarkeit fördern, die uns dazu treibt, diese Gaben in jeder Form weiterzureichen, zu der wir fähig sind. So wie mir gegeben wurde, so werde ich der Welt geben. Im Gegensatz dazu ermutigt uns die moderne Ideologie, all unsere Ressourcen nicht als Geschenk zu sehen, sondern als Besitztümer, Dinge, die frei von jeglicher Verpflichtung grundsätzlich uns gehören. Denk daran, dass Geschenke Verbindlichkeiten erzeugen, egal ob wir von traditionellen Gesschenknetzwerken oder dem Geschenk des Lebens, des Glücks und der Begabungen sprechen. Wenn wir diese Geschenke anders verwenden, spüren wir Unruhe, eine unterschwellige Furcht, die den Teufelskreis schließt, indem sie noch mehr erwirbt, nimmt und besitzt. Uneingestandene Verpflichtungen belasten den Geist.
Die Psychodynamik des Lebens im Geschenk wird besonders im Bereich von Kunst und Musik offenbar. Der Pionier des Improvisationstheaters Keith Johnstone bemerkt, dass die Quelle künstlerischer Kreativität nicht im kontrollierenden, logischen, planenden Ego-Selbst liegt. Um im Improvisationstheater zu spielen und eine Geschichte aufzubauen oder herumzualbern, muss jener Teil von uns aus dem Weg gehen, so dass wir ein durchlässiger Kanal für das Geschenk werden.
Wir hegen die Vorstellung, dass Kunst Selbstdarstellung sei – was aus historischer Sicht Unsinn ist. Ein Künstler wurde gewöhnlich als Medium gesehen, durch das etwas anderes agierte. Er war ein Diener Gottes. Ein Maskenschnitzer fastete und betete vielleicht eine Woche lang, bevor er eine Vision der Maske hatte, die er fertigen sollte, denn niemand wollte seine Maske sehen, sondern jene Gottes. Als die Eskimos noch glaubten, dass jeder Knochen nur eine einzige Form in sich trug, musste sich der Künstler keine Idee „ausdenken“. Er musste warten, bis er wusste, was sich da drin verbarg – und das ist das Entscheidende. Als er mit Schnitzen fertig war, konnten seine Freunde nicht sagen: „Ich wundere mich ein wenig über den Nanuk am dritten Iglu“, sondern nur: „Er hat ein ziemliches Durcheinander dabei angerichtet, es herauszubekommen!“ oder „Es gibt heutzutage ein paar ziemlich merkwürdige Knochen.“49
Wir stellen fest, dass der Fluss von Geschenken versiegt, wenn wir sie festhalten und besitzen wollen. Um zu bekommen, müssen wir auch gewillt sein zu geben. Hyde schreibt: „Wir stehen im Licht, wenn unsere Gaben aus Quellen auftauchen, die wir nicht ergründen können. Dann erkennen wir, dass sie nicht einsame Ichbezogenheit sind, sondern unerschöpflich. Alles Begrenzte verbraucht sich irgendwann.“50 Wunderschön!
Nach mittelalterlicher Überlieferung versiegt Zauberkraft, wenn sie für eigennützige oder böse Zwecke eingesetzt wird; der brasilianische Trance-Heiler João de Deus nennt die selben Gründe für seine Ablehnung, Geld für die Behandlung anzunehmen. Wenn wir eigennützig handeln, verschärfen wir die Trennung vom Universum, aus dem unsere Gaben eigentlich kommen. Das Gleiche geschieht mit Künstlern, die „ausverkaufen“. Weil sie die Früchte der Gabe innerhalb der begrenzten Welt egoistischen Nutzens halten wollen, schließen sie aus dieser Welt die Quelle ihrer Gabe aus.
Viele große Künstler haben festgestellt, dass ihre Arbeit aus einer Quelle jenseits ihrer selbst kommt. Die alten Griechen personifizierten diese Quelle als die Muse. Das Märchen von den Elfen und dem Schuhmacher haut in die selbe Kerbe: Während der Schuhmacher schläft (also sein Bewusstsein beiseite tritt) kommen Zauberelfen, um Schuhe zu machen, die weit schöner sind, als sie der Schuhmacher fertigen könnte. Sogar das Wort „Inspiration“ enthält die selbe Erkenntnis in verschlüsselter Form, denn es meint buchstäblich die Aufnahme eines Geistes. Denk auch an die Geistgesänge der Indianer, die alle von einer externen Quelle stammen sollen. Ein ähnliches Prinzip gibt es in den östlichen Überlieferungen. Bestimmte Arten von Kampfkunst sollen den Menschen aus einer nichtmenschlichen Quelle übermittelt werden, etwas, das ich in einem Tao-Zentrum in Taiwan erlebt habe. Dort haben Collegeschüler, Hausfrauen und andere bisweilen spontan perfekte Sequenzen obskurer Kampfkunst ausgeführt, die sie noch nie zuvor gesehen hatten.
Interessanterweise treten Leute mit Kampfkunstausbildung selten in einen solchen empfänglichen Zustand ein, als ob ihr Training im Weg stünde. Das selbe Phänomen ist in der Yoga-Überlieferung keine Seltenheit. Die Gründer zweier Yogaschulen in den USA, Kripalu und Kali Ray TriYoga, behaupten, den Yoga eher durch ihre Körper fließen zu lassen, als bewusst bestimmte Haltungen einzunehmen, und dieser spontane Haltungsfluss wird als weit perfekter aufgefasst, als jede bewusste Annäherung daran. Schließlich erfahren auch Musiker diesen Zustand, wenn „die Musik die Band spielt“, um es im Sinne der Greatful Dead auszudrücken.
Für den Mystiker und den Künstler durchfließt uns etwas, das größer ist, als wir selbst. Atem durchfließt uns, Nahrung durchfließt uns, Materie fließt durch uns, und sie ersetzen im Lauf eines Lebens mehrfach jede Zelle und jedes Atom unseres Körpers. Leben durchfließt uns. Das Leben lebt uns trotz der falschen Vorstellung, dass es anders herum wäre. Dies zu akzeptieren, nicht zu bekämpfen, bedeutet die Rückkehr zum ursprünglichen Reichtum des Jägers und Sammlers.
Der Eintritt ins Zeitalter der Wiedervereinigung bedeutet auf persönlicher Ebene den Beginn eines Lebens im Geschenk. Dann lösen sich Grenzen auf – soziale Grenzen, um genau zu sein; aber noch wichtiger, die Absolutheit der Grenze zwischen Selbst und Anderem, die uns von der Welt trennt. Genau so geschieht auch die Wiedervereinigung auf kollektiver Ebene. Unsere Spezies tritt in den Geist des Geschenks ein und stoppt die zwecklose Anstrengung, sich über die Natur zu erheben, wenn wir kollektiv fragen: „Was ist die uns angemessene Rolle und Funktion im Ganzen Gaias?“ Ein Individuum vereinigt sich gleichermaßen wieder mit der Welt, wenn es nicht mehr über sie triumphieren oder sie zu kontrollieren sucht, sondern sie beschenkt und ihre Geschenke voller Dankbarkeit entgegennimmt. Das ist es, was ich mit „im Geschenk leben“ meine. Hört man auf Jäger und Sammler, so ist es ein Zustand unkontrollierten Überflusses, ein Zustand ungezügelter Schöpferkraft und des Wachstums, ein Zustand der Ungezwungenheit, der dennoch eine besondere Aufmerksamkeit hervorbringt. Er ist hier und jetzt erreichbar. Warte nicht, bis eine Zuspitzung persönlicher Krisen das Nehmen und Kontrollieren unhaltbar macht.
Der individuelle Eintritt ins Zeitalter der Wiedervereinigung ist untrennbar mit dem kollektiven Eintritt verbunden. Wenn mehr von uns tiefer in jenen Geist des Geschenks eintauchen und das Leben, wie auch die Welt, mit Dankbarkeit behandeln, werden wir nicht länger die Herabwürdigung durch sinnlose Arbeit hinnehmen und die Welt nicht länger zu einem hässlichen Ort machen wollen. Die Auswirkungen dieser Entscheidung werden schließlich in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft Resonanz finden. Früher oder später ist es unvermeidlich, dass wir wieder in den Geist des Geschenks eintauchen, auch wenn das vielleicht erst stattfindet, wenn Katastrophen uns dazu zwingen, denn das liegt in der Natur der Wirklichkeit. Die Wahrheit wird sich zeigen. Hören wir auf, die Wahrheit zu bekämpfen, bevor es uns umbringt.
49 Keith Johnstone: Impro. Improvisation and the Theatre. Routledge, New York, 1979. S. 78f.
50 Hyde, S. 20
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