Der Aufstieg der Menschheit von Charles Eisenstein
Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters
Ich hoffe, in den letzten beiden Abschnitten etwas vom Ausmaß des Wandels beleuchtet zu haben, der dem Übergang ins Zeitalter der Wiedervereinigung folgen wird. Ich habe wohl eher untertrieben. Das Ende der Getrenntheit wird viel größere Auswirkungen haben, als nur auf Geld und Besitz, Technik und Medizin, Arbeit und Bildung, sondern wird schließlich sogar die psychologische Infrastruktur des selbständigen und getrennten Selbst transformieren: die symbolische Sprache, Zahlen und Maße, die lineare Zeit und den dualistischen Glauben. Wir wissen bereits, dass das Spiel sich der linearen Zeitmessung und der Trennung in selbständige Subjekte und Objekte verweigert. Wir verlieren uns selbst in der Zeitlosigkeit des Spiels und werden „ein natürliches Agens der kreativen Prozesse des Universums“.
Nun mag es aufgrund der Argumente in Kapitel II scheinen, dass repräsentative Sprache uns unausweichlich von der Welt des Spiels trennt und uns in einen Bereich der Aufteilung in Objekt und Etikett, Selbst und Anderes verbannt. Wir könnten vielleicht zu einer lingua adamica51 zurückkehren, die Sprache aufgeben und ebenso alle Technologie, die darauf beruht. Denn geben wir uns keiner Täuschung hin: Sprache ist älter und mächtiger als jede andere Technologie. Fast alles, was wir heutzutage vollbringen, geschieht durch Sprache. Wir präsentieren Ideen, wir stellen Anfragen, wir beschreiben Möglichkeiten, wir warnen vor Konsequenzen, wir rufen andere zum Handeln auf. Natürlich gibt es einige Dinge, die sich ohne Sprache tun lassen, etwa ein Tipi zu bauen; nichts jedoch, was die Koordination menschlicher Aktivitäten verlangt. Aktivitäten wie der Betrieb eines Flughafens oder die Produktion eines Mikrochips benötigen unbedingt arbiträre Symbol-, Zahlen- und Zeitsysteme.
Ich habe jedoch in diesem Kapitel dargelegt, dass Technologie nicht unnatürlich zu sein braucht oder auf der fruchtlosen Erhaltung eines getrennten menschlichen Bereichs basieren muss. Das Schicksal der Menschheit im nächsten Zeitalter ist die Ausweitung der Natur auf einen neuen Bereich. Wir müssen nicht in die Steinzeit zurückkehren. Solange Abfall Nahrung bedeutet, solange er die Kreisläufe der Natur verkörpert, statt Linearität vorzutäuschen, solange er der Dynamik des Geschenks statt des Programms der Kontrolle zur Umsetzung verhilft, wird der nun nicht mehr getrennte menschliche Bereich selbst in jedem Sinn des Wortes natürlich sein. Und das Kommunikationssystem dieses neuen Bereichs ist die Technologie des Symbols. In ihm ist die Rolle der Sprache eng verwandt mit der Rolle, den Hormone, Neurotransmitter und andere Botenmoleküle im Körper spielen. Dieser Abschnitt wird das Auftreten einer neuen Sprachkonzeption beschreiben, die uns, obschon repräsentativer Natur, zu ihrem wahren Ursprung und ihrer eigentlichen Bestimmung zurückführt. Sprache kann ein Instrument zum gemeinsamen schöpferischen Spiel mit dem Universum sein.
Der Wandel in der Anwendung von Sprache hat Parallelen im weiter oben beschriebenen Wandel der Rolle von Technologie in unserer Beziehung zur Erde. Ziemlich oft ist der Zweck unserer Worte offenbar keine echte Kommunikation, sondern Kontrolle. Ich konnte mich selbst in Situationen beobachten, in denen anscheinend jeder von mir gesprochene Satz Teil einer verschlagenen List war, mein Image zu manipulieren, etwas Gewünschtes zu bekommen, ihre Versuche mich zu kontrollieren abzublocken, meine Identität hervorzuheben, meinen Besitzstand zu schützen oder eine Welt zu zeichnen, in der ich mich selbst als gut und rechtschaffen sehen konnte. Jeder dahingehend entworfene Satz war im Grund eine Lüge; wenn nicht dem Inhalt, dann sicher seiner unbewussten Absicht nach.
Der Zweck einer Lüge ist im Grunde derselbe, wie der Zweck der Technologie der Trennung: Manipulation und Kontrolle. Und wie wir in Kapitel II gesehen haben, sind heute die meisten Wörter eine Art Lüge. Können wir uns dann einen Wandel der Sprachtechnologie entsprechend dem Wandel materieller Technologien vorstellen, wie sie in diesem Kapitel beschrieben wurden? Die Technologie der Wiedervereinigung strebt volle Beteiligung an der Entfaltung einer höheren natürlichen Ordnung an. Sie strebt nicht die Kontrolle der Natur an, sondern ihre Erfüllung; nicht die Aufhebung natürlicher Kreisläufe, sondern ihre Erweiterung. Sie bringt den getrennten menschlichen Bereich wieder in Harmonie mit der restlichen Wirklichkeit. Wie lassen sich diese Qualitäten auf die Sprachtechnologie übertragen? Können wir uns einen menschlichen Repräsentationsbereich vorstellen, der mit den Naturgesetzen harmoniert? Das Zeitalter der Wiedervereinigung wird nicht den Untergang repräsentativer Sprache markieren, sondern lediglich deren Rückkehr an den ihr zustehenden Platz als bewusstes Spiel, ein Hilfsmittel für wunderbar kreative Aktivitäten.
Elemente einer eben solchen Technologie tauchen heute aus verschiedenen Quellen auf. Ideen wie Brad Blantons Radikalehrlichkeit, Tamarack Songs Wahres Sprechen, Marshall Rosenbergs Gewaltfreie Kommunikation, die Neurolinguistische Programmierung und Haim Ginotts Prinzipien der Eltern-Kind-Kommunikation sammeln sich, um eine neue Sprache der Wahrheit zu erschaffen. Der Schlüssel zum Verständnis der Rolle von Sprache bei der Gestaltung einer schöneren Welt, einer Welt, welche die lange getrennten menschlichen und natürlichen Bereiche wiedervereint, ist die Rückkehr zu ihrem Ursprung und ihrer wahren Bestimmung. Ich habe es in Kapitel II kurz erwähnt, als ich sagte, dass Ursprung und wahre Bestimmung der Sprache vielleicht das Geschichtenerzählen seien. Ich möchte nun näher auf diese Aussage eingehen, um ihre volle Bedeutung zu enthüllen.
Sprache ist das Instrument, mit dem Menschen mit Zeit spielen. Die lingua adamica dagegen ist eine Sprache des Augenblicks. Sie dreht sich um dich und mich, hier und jetzt. Sie kann nicht urteilen, auslegen, planen oder spekulieren. Sie kennt weder Vergangenheit noch Zukunft und kann auch menschliche Aktivität über einen geringen Grad hinaus nicht koordinieren. Sprache ist anders. Sprache vermag all diese Dinge, denn sie zeichnet eine eigene Landkarte der Wirklichkeit, die wir manipulieren und mit der wir spielen können. Wir schaffen Geschichten; dann leben wir sie aus. Wenn diese Geschichten öffentlich sind, dann koordinieren sie unsere Handlungen und erlauben die Übertragung des in den Geschichten enthaltenen Bilds auf die materielle Welt. Hierin liegt die schöpferische Kraft der Sprache.
Unterschätzen wir nicht die Macht einer neuen Sprachtechnologie. Wir mögen versucht sein, sie angesichts des zerstörerischen Molochs, welcher Natur, Kultur, Schönheit, Güte und Planet auffrisst, als bloße Spielereien anzusehen – bis wir uns daran erinnern, dass Genozid und Ökozid letztlich gleichermaßen Produkte der Wahrnehmung und Kommunikation sind. Kein Mensch hat allein die körperliche Kraft, ganze Wälder in Sägemehl zu verwandeln und ganze Völker zu versklaven. Er kann dies nur durch Sprache. Unsere Geschichten aus dem sozialen Bereich werden zu Erfahrungen im materiellen Bereich. Wir verursachen unsere Zerstörung nur, weil wir nicht wissen, was wir tun. Sprache hat uns von der Wirklichkeit getrennt und unsere Liebe von ihrem Gegenstand abgeschnitten.
Eine mögliche Lösung ist natürlich, die repräsentative Sprache vollständig aufzugeben, so wie manche zur Steinzeit zurückkehren möchten; man könnte stattdessen nur die lingua adamica benutzen, die uns nicht von der Wirklichkeit entfernt und in der man unmöglich lügen kann. Ich weise diese Lösung jedoch aus den selben Gründen zurück, wie ich das pauschale Aufgeben von Technologie ablehne. Die manuellen und Geistesgaben, die uns zu Menschen machen, gibt es aus einem bestimmten Grund, genau wie bei den Tieren. Sprache kann ein Heilmittel sein. Ich sagte, dass kein Mensch die Körperkraft besitzt, ganze Wälder in Sägemehl zu verwandeln und ganze Völker zu versklaven – außer durch Sprache. Das ist wahr. Doch es ist gleichermaßen wahr, dass kein Mensch ganze Ökosysteme heilen oder ganze Völker befreien kann, außer wiederum durch Sprache. Hatte Gandhi übermenschliche Kräfte, die ihn befähigten, Indien zu befreien? Hat Rachel Carson eine Umweltbewegung mit etwas anderem gegründet, als der Macht des Wortes?
Entgegen den Phantasien der Techno-Utopisten braucht es keine neue Technologie, um uns in ein Zeitalter des Friedens und der Fülle zu führen. Mangel und Krieg sind Ergebnisse unserer Art der Beziehung zu einander. Das Zeitalter der Trennung ist das Ergebnis der Geschichte, die wir erfunden haben, einer Geschichte, die wir uns über uns selbst erzählen. Kann es irgendeinen Zweifel an der schöpferischen Kraft des Wortes geben? Es braucht kein mystisches Prinzip, um das zu sehen. Dieses Buch hat den „getrennten menschlichen Bereich“ erkundet, den wir durch unsere Technik und unsere Symbole geschaffen haben. Der gesamte heutige Erfahrungsbereich des Menschen baut auf einer Geschichte auf. So groß ist die Macht des Wortes. Was ist beispielsweise Eigentum, wenn nicht eine Übereinkunft? Was ist Geld anderes, als eine weitere Übereinkunft über die Bedeutung von Symbolen, Papierstücken und Computerbits? Was ist Zeit anderes, als gleichfalls eine Übereinkunft, dass eines unserer Konstrukte etwas zu bedeuten hat? Die Koordinierung menschlicher Aktivitäten, die man für jede Technologie oberhalb des neolithischen Niveaus braucht, beruht auf der übereinkommenden Auslegung von Symbolen. Sie beruht auf Bedeutung, und diese Bedeutungen ergeben zusammen unsere Geschichte über die Welt.
Gegenstände fantastisch unnatürlicher Komplexität, wie beispielsweise die Skyline New Yorks oder ein integrierter Schaltkreis, tauchten in einem kurzen Moment geologischer Zeit aus einer vollständig natürlichen Matrix auf. Es ist hauptsächlich auf Sprache zurückzuführen – Übereinkünften zu Bedeutungssystemen – dass wir diese Wunder erschaffen konnten. Wie ich festgestellt habe, wird es nun ein Wunder brauchen, um die menschliche Zivilisation zu retten. Die nahezu sichere Zukunft des Planeten ist klar in Sicht. Nur ein ebenso großartiges Wunder wie der Mikrochip kann unseren düsteren Kurs ändern. Und die einzige mir bekannte Weise, wie man ein solches Wunder schaffen kann, ist jene, auf die wir auch den Mikrochip erschaffen haben: durch die Einführung einer neuen Geschichte. Wir haben die Geschichte der Trennung erzählt und wieder erzählt und endlos ausbuchstabiert. Nun ist es Zeit für eine andere Geschichte.
Das Zeitalter der Wiedervereinigung umfasst jedoch mehr als ein Auswechseln der Geschichten. Das hat es bereits früher gegeben. Ich habe behauptet, dass der getrennte menschliche Bereich niemals wirklich getrennt war. Wir waren niemals wirklich unabhängig von der Natur, und unser linearer Konsum war niemals wirklich linear. Wir haben unbewusst in einer Scheinwelt gelebt. Ähnlich verhält es sich mit der Sprache im Zeitalter der Trennung. Das Problem ist, dass das Geschichtenerzählen unbewusst ablief. Weil wir verwirrt waren, haben wir den getrennten Bereich des Wortes mit jener Wirklichkeit verwechselt, den dieser abbilden sollte. Als wir vergaßen, dass unsere Geschichten tatsächlich nur Geschichten waren, belogen wir am Ende uns selbst und die Welt, denn eine Landkarte ist stets eine Verzerrung der kartierten Landschaft. Worte sind aufgrund ihrer abstrahierenden Natur ungenau, graduell verschieden von den jeweiligen Objekten, Prozessen und Gefühlen, auf die sie sich beziehen, so dass wir erst erschließen müssen, was der Andere wirklich meint; und das öffnet Missverständnissen Tür und Tor. Des weiteren ist der Charakter dieser Abstraktionen und Verzerrungen nicht unschuldiger Art, sondern impft unsere gesamte Kommunikation mit unbewusster Verlogenheit, die dem Regime der Trennung Vorschub leistet.
Wir sollten also nicht überrascht sein, dass das Ausleben unserer Geschichten – die Übertragung ihres Abbilds auf die materielle Welt – in der Folge das Gegenteil dessen hervorbringt, was wir beabsichtigten. So schaffen die Geschichten der Ökonomen über Wirtschaftswachstum und Marktentwicklung, die alle in der Sprache des Wortes und der Zahl erzählt werden, durch ihre Realisierung in Wirklichkeit Elend und Armut. Politiker in ihren Kommandozentralen schaffen mit ihrem ganzen Gerede von feindlichen Kämpfern und Kollateralschäden als Preis für Freiheit, Sicherheit und das Gute in Wahrheit Gewalt und Schrecken. Wir haben das Unwirkliche zur Wirklichkeit gemacht und uns dann mit aller Kraft bemüht, in der von uns geschaffenen Unwirklichkeit zu leben. Die Wirklichkeit drückt nun jedoch mit einer Kraft herein, die kein Leugnen mehr duldet. Unsere Geschichten zerfallen zu Staub.
Die Geschichte vom Zeitalter der Wiedervereinigung ist nicht nur eine weitere Story, die die alte Symboltechnik benutzt. Der grundlegende Unterschied ist, dass der Akt des Erzählens bewusst geschieht. Statt sie mit der Wirklichkeit zu verwechseln, werden wir Sprache bewusst anwenden, um Wirklichkeit zu gestalten; um Geschichten zu erfinden und sie auszuleben. Um das bewusst zu tun, müssen wir die versteckten Annahmen in den von uns gewählten Wörtern aktiv wahrnehmen. Wir mögen weiterhin Wörter wie „Umwelt“ verwenden, tun dies jedoch in der vollen Erkenntnis, dass ein solches Ding in Wahrheit nicht getrennt von uns existiert. Das selbe gilt für andere Wörter, deren versteckte Annahmen ich in diesem Buch gezeigt habe: die Gleichsetzung durch das Wort „ist“, die besagt, dass zwei Dinge dasselbe wären; das Wort „existieren“, das eine absolute, cartesische Wirklichkeit impliziert; Unterscheidungen wie „Materie und Geist“ oder „Mensch und Natur“, welche die Wirklichkeit künstlich zerteilen. Tatsächlich verschlüsseln alle Wörter eine Lüge, und alle Repräsentationen sind Fehlrepräsentationen. Dennoch werden wir im Zeitalter der Wiedervereinigung weiterhin Wörter und andere Darstellungsformen benutzen. Wir werden uns jedoch nicht mehr selbst über ihren Wahrheitsgehalt täuschen, um eine Lüge zu leben. Wir werden uns niemals mehr in einer Geschichte verlieren. Wir werden Wörter vorsichtig und bewusst verwenden und uns nur lose an ihre Bedeutung klammern.
Nennen wir diesen Ansatz „das Bewusstsein des Geschichtenerzählers“. Statt zu versuchen, eine bereits bestehende Realität da draußen zu beschreiben, werden wir uns bewusst sein, dass wir sie durch das Erzählen einer Geschichte über sie erschaffen. In der Wissenschaft heißt Geschichtenerzählerbewusstsein, sich über den schöpferischen Charakter von Theorien und Experimenten klar zu sein, deren Sprache an sich schon Annahmen über das Selbst und das Universum enthält. In der Technik bedeutet es, unsere Entscheidungen als einen Weg zu sehen, wie wir unsere Beziehung zu einander und allem anderen Leben definieren können. Wir stellen die Frage: „Als wen erschaffen wir uns selbst?“
Am radikalsten werden sich Gestalt und Institutionen der Politik und Regierung ändern, sobald wir aufhören, an Etiketten, Kategorien und Abstraktionen zu glauben, um stattdessen in Kontakt mit der menschlichen Wirklichkeit zu kommen. Alle diese Ausdrucksformen und Einrichtungen sind selbst Geschichten. Amerika ist eine Geschichte. Frankreich ist eine Geschichte. Das Rechtswesen ist eine Geschichte. Worte und Symbole besitzen keine andere Bedeutung als jene, die wir ihnen zuschreiben. Unser Fehler war nicht, dass wir Geschichten erzählt, sondern sie für wahr gehalten haben. Wenn wir uns davon lösen, werden wir zum bewussten Spiel mit ihnen fähig sein und sie fallenlassen können, wenn sie uns nicht länger dienlich sind. Ich glaube, es gibt weit nützlichere Geschichten als unsere gegenwärtigen. Ich überlasse es jedoch anderen, jene Geschichten zukünftiger Politik und Regierung zu erzählen, die zu dem von mir beschriebenen Zeitalter der Wiedervereinigung passen.
Über die Jahrtausende lief das kreative Spiel des Geschichtenerzählens auf unsere Versklavung hinaus; wir hatten das Geschichtenerzählerbewusstsein verloren. Nun erwachen wir endlich, weil die Mühe zur Aufrechterhaltung der Illusion uns überwältigt. Die Geschichte ist untragbar geworden. Die Geschichte über Linearität, über Trennung, über das einsame, selbständige, in einer Welt des Anderen ausgesetzte Selbst. Dass wir keine Geschichtenerzähler, keine Autoren seien, sondern bloße Berichterstatter, die beschreiben, was ist, die bloß reagieren, bewältigen, kontrollieren. Wir erwachen gerade aus dieser Geschichte, der Geschichte, dass wir nicht die Verfasser unserer Welt und unseres Lebens seien.
Am verheerendsten war die Versklavung durch unbewusste Geschichten für unser persönliches Leben. Wir leben in einer Fabelwelt der Interpretationen, die wir mit der Wirklichkeit verwechseln. Wir leben in einer Welt der Beurteilung und aufgezwungener Bedeutung. Vielleicht hat mich mein Vater oft angeschrien, und da ich erst drei war, dachte ich, das heißt, dass ich böse bin. Sie hat dich verlassen, und du hast das als Verrat ausgelegt und hast daraus geschlossen, du seist nicht liebenswert. Daher manipulierst und kontrollierst du andere ständig. Wir leben in unseren Geschichten, die dann Ereignisse hervorrufen, die sie selbst bestätigen und unsere Versklavung verstärken.
Die Ursprünge und unzähligen Varianten dieser Geschichten sind nicht Thema dieses Buches; oft sind sie extrem subtil, und weil sie sich in größere, kulturelle Geschichten vom Selbst einfügen, völlig unsichtbar. Sie versklaven uns wie die größeren, kulturellen Geschichten nur in dem Maß, als sie unbewusst sind. Ich befürworte die Ausleuchtung, nicht das Verbot unserer Geschichten. Ja, wir können auf den gegenwärtigen Moment zurückkommen und alles Urteil ablegen, wenn wir wollen, genau wie wir zur lingua adamica zurückkehren könnten. Es gelingt uns jedoch nicht, dort zu verweilen. Wir sind dafür geschaffen, in der dreidimensionalen Wirklichkeit, Raum und linearer Zeit herumzustreifen und mit deren Werkzeugen Schönheit hervorzubringen. Ich rede nicht davon, unser Dasein als zeitgebundene physische Wesen aufzugeben, wie ich auch nicht vorschlage, dass wir der Gaben der Kultur und Technik entsagen, die uns zu Menschen machen. Wir brauchen uns jedoch nicht länger von diesen Bedeutungen, Geschichten und Technologien versklaven zu lassen. Der Eintritt ins Zeitalter der Wiedervereinigung ist ein Erwachen zu unserer bewussten Schöpferkraft.
Obwohl ich nicht für mich in Anspruch nehme, sie gemeistert zu haben, würde ich gern einige Prinzipien mit dir teilen, die mir persönlich nützlich waren, der bewusste Gestalter meiner Geschichten zu werden. Immerhin wird der kollektive Wandel, von dem ich spreche, nur durch eine Bündelung vieler persönlicher Transformationen eintreten. In diesem Buch habe ich drei kulturelle Geschichten genannt, die viele von uns verinnerlicht haben. Die erste ist Newtons Welt der Kräfte und Massen, die sich in unserem Leben als ein Gefühl des Getriebenseins und der Machtlosigkeit niederschlägt. In der Sprache tauchen sie in Phrasen wie „muss“, „geht nicht“, „sollte“, „ich will es versuchen“ und „du hast mich gezwungen“ auf. Die zweite Geschichte ist die Cartesische Spaltung in Körper und Seele, einen guten und einen schlechten Teil. Im Leben zeigt sich das als ständiger Kampf, Selbstverleugnung und fortgesetzte Opferung der Gegenwart für die Zukunft; das führt zum Kampf gegen Gelüste und zur Aufzwingung des Zivilisierten und Trainierten gegenüber dem Natürlichen und Wilden. In der Sprache wiederum manifestiert sich dies als „sollte“ und „sollte nicht“. Die dritte Geschichte ist die von der Trennung und Knappheit. Man erkennt sie an Phrasen wie „sich etwas leisten können“; sie glaubt nicht an unsere Verbundenheit mit dem Universum und allem Leben und dass unsere Gaben unvermeidlich zu uns zurückkehren, was Kontrolle und Herrschaft unnötig machen würde.
Schon das Benennen dieser Geschichten und die Beobachtung ihrer Wirkweisen nimmt ihnen ihre Kraft. Ich empfinde es jedoch als nützlich, sie vorsätzlich durch die Art, wie ich mit mir und anderen spreche, aufzuheben. Wir können Wörter auf eine Weise benutzen, welche die uns versklavenden Geschichten zurückweisen und können so unsere Befreiung beschleunigen. Zum Beispiel schlägt Marshall Rosenberg vor, jeden Satz mit „muss“ mit „Ich tue dies, weil...“ zu paraphrasieren. Hier ist ein persönliches Beispiel. Ich sagte oft: „Obwohl ich es hasse, muss ich Noten verteilen.“ Als ich dies in „Ich verteile Noten, weil ich fürchte, sonst meinen Job zu verlieren“ umformulierte, ist alles viel deutlicher geworden. Mir wurde klar, dass mir meine Stelle weit weniger wichtig war, als mein Integritätsgefühl, das in meinem Fall durch die Notenvergabe verletzt wurde; daher entschied ich mich, den Universitätsbetrieb zu verlassen. Wenn wir in Kategorien des „Müssens“ denken, geben wir uns geschlagen. Die Wörter selbst tragen in sich die Annahme, wir seien machtlos.
Des Weiteren ersetze ich „du solltest“ mit „du könntest“, und „ich sollte“ mit „ich kann“ oder „ich möchte“. Man kann auch damit experimentieren, „ich werde versuchen...“ aus dem Wörterbuch seiner inneren Gespräche zu verbannen, um es einfach mit „ich möchte...“ zu ersetzen. Wenn du den Wortlaut ernst nimmst, wirst du intensiv darüber nachdenken, bevor du irgend einer Sache zustimmst. „Ich werde versuchen“ kann eine Ausflucht sein, eine freundliche Art zu sagen, dass du es nicht ernsthaft tust. Es ist auch ein Zeichen gefühlter Hilflosigkeit gegenüber einer Welt externer Kräfte, die unserer Kreativität scheinbar in die Quere kommen. All das verdient eine viel tiefer gehende Diskussion als diese hier, doch das bleibt einem späteren Buch vorbehalten. Für den Augenblick genügt die Beobachtung, dass „ich kann“, „ich wähle“ und „ich möchte“ eine völlig andere Denkweise zugrunde liegt. Die Geschichte über Machtlosigkeit kann man mit ihnen nicht erzählen.
Hier ist eine weitere Bestärkung, die mit der zweiten verinnerlichten Geschichte zu tun hat, die ich erwähnt habe: Um meinem persönlichen Zeitalter der Vernunft (s. Kapitel III) entgegenzutreten, versuche ich nicht mehr alles, was ich tue, mit Gründen zu rechtfertigen. Stattdessen sage ich: „Weil ich es so wollte“ Wie bitte? Seit wann ist das erlaubt? Wir können doch nicht einfach unseren Wünschen folgen, oder? Dieser Widerstand gegen Wünsche ist wiederum eine Manifestation der Trennung von Körper und Geist. Der gute Teil, der höherstehende Teil, der spirituelle Teil – der Geist und der Wille – müssen den schlechten Teil, die Versuchungen des Fleisches beherrschen. Opfere heute, um Belohnung in der Zukunft zu erhalten. Das ist lediglich eine weitere Variante landwirtschaftlichen Denkens, das durch Religion und Bildung eingeschleust wurde und das uns auch heute noch beherrscht. Doch der Himmel bleibt stets außerhalb unserer Reichweite.
Traditionelle Kulturen erkannten in Geschichten eine Bedeutung, die über bloße Berichterstattung oder Kinderunterhaltung hinausging. Das Geschichtenerzählen war auch eine heilige Handlung, die den Geist der Menschen in sich trug und ihre Welt formte. Nicht nur die Laute der lingua adamica haben eine heilige schöpferische Kraft; auch unsere Geschichten. Heute benutzen wir diese Kraft unbewusst und erzeugen so unbeabsichtigte Folgen. Wir kennen unsere eigene Macht nicht, die Macht des Wortes. Auf gewisse Weise ist jede Rede eine Geschichte, denn sie fügt der repräsentativen Welt etwas hinzu. Jede Rede besitzt daher Schöpfungskraft, genau wie die Indianer glaubten, denn wir verleihen der repräsentativen Welt Macht. Wir leben unsere Geschichte, wir prägen sie der Welt auf. Warum erscheinen uns dann Worte heute so ohnmächtig? - Weil wir uns der Wörter nicht bewusst sind, wie auch die großen, alles durchdringenden Geschichten und Ideologien für uns unsichtbar sind.
Nicht die bewusste Lüge ist schwach, sondern die unbewusste. Eine vorsätzliche Lüge ist immer noch ein bewusster Akt der Weltschöpfung. Viele der oben beschriebenen, vielleicht alle entkräftenden Sprachformen sind unbewusste Lügen. Wenn du deinen Worten ihre schöpferische Kraft zurückgeben möchtest, musst du sie wie Kostbarkeiten behandeln. Fluchen ist eine entkräftende Sprachform. „Fuck.“ Was sagen wir wirklich, wenn wir ein heiliges, Leben spendendes Vergnügen in einen vulgären Ausdruck von Missbilligung verwandeln? „Verdammt.“ Wünschen wir jemandem wirklich ewige Qual? Nein, wir sprechen unbewusst. Weitere schwächende Sprachformen sind Klatsch, Smalltalk und diverse Formen von Negativität. Ich werde hier nicht ins Detail gehen, lade dich jedoch zum Nachdenken darüber ein, welche Geschichte über die Gestaltung der Welt wir erzählen, wenn wir so reden. Wenn Worte wahrlich mächtig sein sollen, dann müssen sie mit unserer schöpferischen Absicht harmonieren. Nur dann können wir unsere Lebensgeschichte gestalten.
Unbewusstes Lügen beschädigt unsere Glaubwürdigkeit vor uns selbst und anderen. Wenn wir den Gebrauch wahrhaften Sprechens kultivieren und unsere Worte wie Schätze behandeln, dann werden große Dinge geschehen, wenn wir sie aussprechen. Je mehr wir die Macht unserer Worte erkennen, desto bewusster wird unsere Sprache werden; und desto größer wird dadurch die Macht unserer Worte werden. Wir trainieren die Wahrwerdung aller unserer Worte und pflegen ein tiefes Vertrauen in die magische Schöpfungskraft unserer Rede.
Ob auf kollektiver oder persönlicher Ebene – das Bewusstsein des Geschichtenerzählers ist untrennbar mit der neuen Selbstwahrnehmung verbunden, die das Zeitalter der Wiedervereinigung charakterisiert. Es hängt vom Verschwimmen der für das Zeitalter der Trennung bezeichnenden Unterscheidung zwischen dem Beobachter hier drin und der objektiven Welt da draußen ab. Es wird spontan auftreten, zusammen mit der krisenerzeugten Auflösung der Trennungsillusion. Die Geschichte über Machtlosigkeit und Trennung wird ganz einfach nicht mehr ziehen! An ihrer Stelle werden wir eine Geschichte über Verbundenheit, über gemeinsame Seiendheit, über Teilhabe am allumfassenden Geschenkzirkel haben. Und Teil dieser Geschichte wird eine Meta-Story sein, eine Geschichte über Geschichten, die all unsere Geschichten mit schöpferischer Kraft ausstattet und dazu motiviert, sie bewusst zu erzählen.
Meine Darstellung, wie das in der Zukunft aussehen wird, ist vage; das liegt wahrscheinlich daran, dass die vielleicht in künftigen Jahrhunderten um das Geschichtenerzählerbewusstsein herum aufgebaute Gesellschaft uns sehr fremd wäre; so fremd, dass ich mich kaum traue, sie niederzuschreiben. Statt der gegenwärtigen Abgrenzung von Drama und wirklichem Leben wird die Zukunftsgesellschaft aus Geschichten innerhalb Geschichten innerhalb Geschichten bestehen, aus Spiel innerhalb Spiel innerhalb Spiel, ohne das Gefühl, eins davon sei „real“ und das andere nicht. Das Leben wird völlig Spiel sein, und alles Spiel wird ernst sein. Wir mögen an einige dieser Geschichten so tief gebunden sein, wie es einem Menschen nur möglich ist, so leidenschaftlich, wie der größte Künstler sich um sein größtes Meisterwerk bemüht. Jedes Leben wird ein Meisterwerk sein, und einige unserer kollektiven Projekte werden Generationen überspannen und das Gewebe dessen verändern, was wir Realität nennen. Das wird schließlich die Vollendung des Zeitalters der Wiedervereinigung sein, wenn wir die vollständig bewusste schöpferische Partnerschaft mit dem Universum selbst erreichen. Bis dahin, im kommenden Jahrhundert oder so, werden große Geschichtenerzähler auftreten, die uns mit schönen und glaubhaften Geschichten darüber inspirieren, wie das Leben sein kann, Visionen der Welt, die wir gestalten können. Diese Geschichten werden für jeden von uns Rollen bereit halten, die sich auf unsere Gaben stützen und unser Potential entwickeln. Es geschieht bereits. Hast du den Ruf gehört? Ein schönes Leben bietet sich, wenn wir nur den Mut dazu haben.
51 Falls du Kapitel II nicht gelesen hast: die lingua adamica ist die menschliche Ursprache, die „Sprache Adams“. Genau genommen ist sie eigentlich keine Sprache, sondern die Schreie des menschlichen Tiers.
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