Der Aufstieg der Menschheit von Charles Eisenstein

Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters

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Inhaltsverzeichnis:


In die Welt verliebt

Der letzte Abschnitt beschreibt, wie eine neue Sprache der Wahrheit das menschliche Drama von einer unbewusst geschriebenen Tragikomödie in eine bewusste Aufführung verwandeln wird, ein Werk großartiger Erzählkunst. Durch Sprache wird die Menschheit ein bewusstes Agens der Entfaltung des Universums. Befreit von wirrem, überflüssigem Geschwätz, das ihren Sinn verschleiert, wird repräsentative Sprache ein reichhaltigerer und bedeutungsvollerer Bereich als heute sein. Trotzdem wird Sprache, und speziell Schriftsprache, in vielen wichtigen Lebensbereichen eine geringere Rolle spielen. Das liegt daran, dass diese Gabe genau wie Vernunft, lineare Technologie und Geld den ihr zustehenden Bereich überschritten hat. Wir benutzen für viele Dinge, die damit im Grunde nicht ausgedrückt werden können, Wörter, und die meisten Wörter bringen gar nichts zum Ausdruck.

Es gibt Anzeichen, dass das Schrumpfen der Sprachdomäne, welches das Zeitalter der Wiedervereinigung begleiten wird, bereits stattfindet. Ich denke, es ist eine Antwort auf die Sprachkrise, von der ich in Kapitel II geschrieben habe und im Zuge derer Wörter immer weniger zu bedeuten scheinen. Wir sind gezwungen, zunehmend übertriebene Rhetorik zu benutzen, um überhaupt kommunizieren zu können. Werbung ist allgegenwärtig und völlig unaufrichtig.geworden. Politiker lügen routinemäßig und kommen damit durch. Und wir tun alle öffentlichen Reden als PR, Schönrednerei und Schwindel ab. Weil wir in einer allgegenwärtigen Lügenmatrix leben, reagieren wir auf Gesprochenes natürlich mit Schulterzucken. Wegen seiner Allgegenwart, speziell des gedruckten Worts, blenden wir es aus; wegen seiner Unaufrichtigkeit tun wir es ab und zweifeln es an.

Angesichts dieser Krise tendieren speziell junge Leute zu anderen Kommunikationsformen. Das mag einer der tieferen Gründe für den erstaunlichen Verfall der Alphabetisierungsraten der letzten Generation sein. Frag einen pensionierten College-Professor! Als ich vor ein paar Jahren an der Penn State zu lehren begann, entdeckte ich schockiert, dass viele meiner Studenten nicht lesen konnten. Sie konnten eine Seite überfliegen und Antworten herausziehen, waren aber anscheinend unfähig, den Inhalt eines Absatzes zusammenzufassen; sie konnten auch nicht zusammenhängend schreiben. Verglichen mit der Norm von vor 100 Jahren sind Amerikaner schockierend ungebildet. Doch wir sind nicht weniger intelligent oder kommunikationshungrig geworden. In gewisser Weise zeigt der Bildungsverfall einen weiteren Raub spirituellen Kapitals, den Ausverkauf einer weiteren Geistesfähigkeit. Auch innere Abscheu angesichts der Nichtigkeit und Unglaubwürdigkeit einer Flut von Worten könnte dazugehören.

Besonders junge Menschen haben die Lügen satt und wenden sich zunehmend Musik und anderen textfreien Ausdrucksformen zu. Ich glaube hier einen Trend zu sehen. Ein Anzeichen ist die explodierende Popularität von Websites wie MySpace, Facebook und Youtube, wo man dank Technik nicht nur Wörter, sondern auch Fotos, Musik, Stimmen und Videos transportieren kann. Derweil kämpfen die etablierten kommerziellen Interessen einen verzweifelten Kampf gegen eine Demokratisierung der Musikproduktion und -verbreitung, die durch Technik erst möglich wird. Beinahe jeder kann Musik und Videos unter geringen Kosten herstellen, speichern und verbreiten. Die technische Infrastruktur für eine Rückkehr zur Geschenkwirtschaft steht bereit und wartet nur noch auf das Ableben des schmarotzerischen, zentralisierenden, zinsbasierten Finanzsystems von heute. Die Textdominanz in der Telekommunikation könnte zu einem Ende kommen – eine bedeutsame Entwicklung, denn es könnte der Startschuss für das Ende einer Ära sein, die vor etwa 500 Jahren mit der Druckerpresse begann. Natürliche gibt es Zwecke, für die sich Text auf einzigartige Weise eignet und Bücher werden sicher in der einen oder anderen Form überleben. Aber das Monopol des geschriebenen Wortes bei der öffentlichen Kommunikation und über große Entfernungen wird enden; es erodierte bereits seit der Einführung des Radios. Worte werden nur noch in begrenztem Rahmen eine Rolle spielen. Auf dem Web könnten Podcasts und Videostreams bald das geschriebene Wort als dominantes Kommunikationsmedium überflügeln. Schon jetzt ziehen viele Menschen Audiobücher den gedruckten Versionen vor. Videofähige Handys haben das Briefeschreiben ersetzt, das inzwischen eine fast verloren gegangene Kunst ist. Ich frage mich, ob die Rate vollständiger Lese- und Schreibfähigkeit wieder auf die ungefähr 3% vormoderner Zeiten schrumpfen wird.

Bahnt sich hier, vermittels Technologie oder auch ohne, eine holprige Rückkehr zur lingua adamica von einst an? Oder wird die Herrschaft der Trennung neue Extreme erreichen? Eine Welt virtueller Realität, voller Avatare und Stimmsimulatoren, in der nichts real ist? Ich stelle mir ein Zukunft vor, in der wir in kommunikativen Dingen zur Stimme, zum Lied und zum Gesicht zurückkehren. Die Pirahã, deren Kommunikation hauptsächlich aus Singen und Summen besteht, zeigen uns Zukunft und Vergangenheit. Zumindest zeigen sie uns eine mögliche Zukunft. Ich könnte trotzdem falsch liegen; das Zeitalter der Wiedervereinigung wird vielleicht nie kommen, weder jetzt noch in 1000 Jahren. Oder beide Welten werden nebeneinander bestehen und wir müssen jeweils wählen, in welcher wir leben möchten. Jedenfalls sind Direktheit und Individualität die wichtigsten Dimensionen einer Rückkehr zu unmittelbarer Kommunikation. Auch dafür gibt es Anzeichen; transformative Technologien wie Authentic Movement, Contact Improvisation und ContinuumTM, die dabei helfen, das körperliche und stimmliche Vokabular der Ursprache wiederzuerlangen. Ich empfehle dir, das einmal auszuprobieren. Die tatsächliche Erfahrung von wortloser kommunikativer Intimität wird weit wirkungsvoller und überzeugender sein als dieses Buch, dass ein Zeitalter der Wiedervereinigung möglich ist oder nahe bevorsteht. Lediglich unsere Ängste, Gewohnheiten und Vorstellungen machen es unsichtbar.

Die lingua adamica , die mythische Ursprache der Menschheit, lässt keine Lüge und keine Trennung zwischen Subjekt und Objekt zu. Es gibt keinen Anlass, auf den Zustand des Sprechers zurückschließen zu wollen, denn seine Lautäußerungen sind Aspekte dieses Zustands. Die wahre Stimme einer anderen Person verstehen zu können, braucht und fördert eine so tiefe Intimität, dass sie die Grenzen zwischen Selbst und Anderem auflöst; solche eine Intimität gibt es heutzutage normalerweise nur zwischen Mutter und Kind, manchmal zwischen Vater und Kind und im Einzelfall zwischen den vertrauensseligsten Liebenden in besonderen Momenten. Ich glaube, dass früher, vor dem Zeitalter der Trennung, solche Intimität die Regel bei den zwischenmenschlichen Beziehungen steinzeitlicher Sippen war. Sprache unserer Art war unnötig. Es wimmelt von Berichten, unter anderem von anerkannten Anthropologen, die die Kommunikationsfähigkeiten Eingeborener als beinahe telepathisch beschreiben. Diese Kommunikation war jedoch nicht auf zwischenmenschliche Beziehungen beschränkt, denn damals genossen die Leute eine tiefgreifende Intimität mit der Natur, die es ihnen, soweit ich weiß, erlaubte, die Sprachen der Tiere, Pflanzen, Wälder, Winde und Wolken zu verstehen.

Diese Sprachen sind so wenig mit den abstrakten Zeichensystemen unserer heutigen Sprache vergleichbar, dass wir sie vielleicht nicht einmal so nennen sollten. Heutige Sprachen sind eine korrumpierte, degenerierte und manchmal imitierte, im Allgemeinen aber vernebelte Version der ursprünglichen lingua adamica . Sich in der Ursprache zu verständigen, erfordert eine vorübergehende Verschmelzung von Selbst und Anderem; man muss das sprechende Andere sein, das Andere so gut verstehen, dass sein Wesen unverhüllt Klang, Geruch und Bewegung wird. In der lingua adamica kann man genau so wenig lügen, wie man einen Geruch vortäuschen kann. Wir können ihn verstecken, maskieren oder unterdrücken, aber er ist trotzdem vorhanden.

Wenn wir einander unsere wahre Stimme offenbaren und sie wirklich hinter den Worten heraushören, dann zerfließen Grenzen zu einer unbeschreiblich süßen Intimität. Das verlangt völliges Vertrauen, was nicht möglich ist, solange wir die Welt als konkurrierendes Anderes betrachten. Daher gibt es das heute sehr selten. Im Zeitalter der Wiedervereinigung werden wir uns schrittweise weniger an diese Grenzen klammern. Wir werden uns nicht fürchten, sie bei Bedarf aufzugeben, damit wir in tiefem Beziehungsreichtum leben können. Für Menschen, die in solcher Intimität mit anderen Menschen und mit allem Anderen stehen, ist jeder Augenblick des Lebens mit tiefer Bedeutung durchflutet; wir können uns das heute kaum vorstellen. Einfach zu sitzen und nichts zu tun kann eine überwältigend sinnliche Erfahrung sein. Das Glück solch eines Zustands ist so intensiv, dass man kaum einen Grund hat, irgend etwas zu tun, als nur zu sein. Sprache oder sonstige Konzeptualisierungen entfernen uns von diesem Zustand und nehmen der Welt ihre Bedeutung. (Oder gibt es doch eine Möglichkeit, gleichzeitig sowohl auf das Wort als auch auf die Stimme eingestellt zu sein? Wieso haben wir uns, beginnend mit der Sprache, auf den Pfad der Trennung begeben?)

Das tief in uns allen vorhandene Verlangen nach diesem Glückszustand veranlasst uns, nie mit der minderen Welt der Trennung zufrieden zu sein, die wir geschaffen haben. Ich weiß dies, weil ich das Glück hatte, die lingua adamica , wenn auch nur wenige Male, am eigenen Leib zu erfahren. Getrennt durch eine Telefonleitung verschmolzen ich und die andere Person durch unsere Stimmen so vollständig, dass es keinen Unterschied mehr zwischen Ich und Du gab. In jedem Ton war mir ihr ganzes Wesen gegenwärtig, und meines ihr. Sprache ist völlig unzureichend für den Transport dieser Einheit: Worte wie „mein“ und „sie“ enthalten eine Trennung, die es nicht gab.

Jenseits unserer Namen, Nummern, Worte und physischen Getrenntheit erwartet uns eine Heimkehr; du hast dein ganzes Leben lang darauf gewartet. Manchmal bricht es hervor, und wir laufen vor ihm davon, um unser Selbst zu retten, aber seine Spur verbleibt als Versprechen und Erinnerung an das, was das Leben sein sollte, könnte und sein wird.

Kommunikation in der lingua adamica ist ein Augenblick tiefer Intimität zwischen den Partnern und völlig individuell. Es gibt so viele Ursprachen, wie es Kommunikationspaare gibt. Für einen Dritten, der ihre Intimität nicht teilt, hätte die lingua adamica nicht mehr Bedeutung als irgendwelches Vogelgezwitscher. Lediglich gröbste Gefühlslagen wären ersichtlich.52 Für den Vertrauten jedoch übermittelt ein einziges Geräusch unbegrenzte Nuancen. Nicht nur sind keine zwei linguae adamicae identisch, auch keine zwei Wörter zwischen den selben Menschen sind es je. Jede Kommunikation ist einzigartig, gerade so wie jeder Augenblick einzigartig ist. Es gibt keine Reduktion einer grenzenlosen Erfahrung. In der Ursprache zu sprechen, ist wie Liebe machen; tatsächlich ist es kein Zufall, dass die Vokalisierungen sexueller Leidenschaft zu den wenigen Ausbrüchen von lingua adamica bei modernen Erwachsenen gehören. Eines Tages jedoch werden wir die Welt lieben.

Einen Hauch lingua adamica können wir in der Poesie und Musik finden. Dichter und zu Poesie neigende Prosaschreiber wissen, dass „in der Dichtkunst der melodische Aufbau vor der Textstruktur kommt und diese teilweise bestimmt.“53 Wir können uns nur vorstellen, wie Dichtung ohne Worte aussähe; sie könnte ein Lied sein, ein Geheul bezugsloser und doch bedeutungsschwangerer Töne, vielleicht vergleichbar mit spontanem Scatting bei Jazzvokalisten oder den Geistliedern, die indianischen Sehern geschenkt werden. Der Schlüssel zu dieser Art Kommunikation ist Spontaneität. Keine Kolonisation des Anderen, kein Überstülpen der eigenen Kategorien, keine Reduzierung der Welt auf eine begrenzte Anzahl von Etiketten. Laut Joseph Epes Brown bestehen die Indianer darauf, dass die bei ihren Zeremonien aufgeführten Lieder nicht komponiert, sondern von den Geistern geschenkt sind.54

Die lingua adamica ist nicht nur unser fernes Erbe, sondern auch unser Geburtsrecht und unsere Zukunft. Der Prozess zu ihrem Erlernen ist völlig verschieden vom Erlernen einer jeden anderen Sprache. Während eine Symbolsprache eine Gleichsetzung von A und B, also Trennung und Entfremdung erfordert, bringt die lingua adamica die Einzigartigkeit sowohl von A als auch von B zum Ausdruck, die beide Teil der Gesamtheit und jedes Augenblicks der Zeit sind. Und sie erfordert Zusammenkunft, nicht Trennung. Das Erlernen der lingua adamica erzwingt das Fallen künstlicher Grenzen, die uns trennen, das Fallen des gewohnten „ich“ und „mein“. Sie mit einem anderen zu sprechen, bedeutet, sich in jenen anderen so sehr zu verlieben, dass er kein Anderes mehr ist.55 Je intimer und vertraulicher die Liebe, desto freier kann man die Schranken des Selbst öffnen, desto höher ist das Verständnis der gemeinsamen lingua adamica entwickelt und desto weniger werden gewöhnliche Worte nötig.

Wenn das Sprechen in der lingua adamica heißt, sich in jenen Anderen zu verlieben, dann bedeutet die Sprachen der Pflanzen, Tiere und nichtbiologischen Prozesse zu verstehen, dass man sich in die Welt verliebt. Die lingua adamica geht aus dem Zerfließen von Schranken zwischen Selbst und Welt hervor. Wenn die Zwecklosigkeit und Künstlichkeit dieser Schranken mit dem Zusammenbruch der modernen Gesellschaft zunehmend sichtbar wird, werden wir von selbst weniger sprechen und auf natürliche Weise zu unserem Geburtsrecht kommen.

Die Sprache der Welt zu lernen – welch schöne und fruchtbare Definition von Wissenschaft wäre das! Wissenschaft, um die Sprache der Welt zu lernen, damit man sich noch mehr in sie verlieben kann. Wie verschieden das vom Denkmuster des Meisterns und Kontrollierens ist, vom Baconschen Verhör der Natur. Sie beginnt mit der Ehrfurcht des Wissenschaftlers, der die Zelle, die Sterne, die Komplexität eines Ökosystems oder des Stoffwechsels, des Wunders des Lebens begreift. Sie bedeutet die Rückkehr zur Anwesenheit des Göttlichen in der Natur. Sie ist der Höhepunkt der wissenschaftlichen Reise, welche die Natur in Stücke gehackt, isoliert und gefiltert, gereinigt und reduziert hat – nur um bei jedem Schritt neue Reiche der Schönheit, des Staunens und der Wunder zu entdecken.

Der Verlust des Individuellen, der mit der generischen Kategorisierung durch Etikett und Zahl einher geht, ist Ursache und Symptom unseres nicht-Verliebtseins mit der Welt. Umgekehrt sehen wir unseren Liebsten als ein wirkliches, einzigartiges, unersetzliches Individuum, wenn wir uns verlieben. Das Zeitalter der Wiedervereinigung ist nicht mehr und nicht weniger als ein Sich-wieder-verlieben in die Welt. Nichts, nicht einmal ein Elektron, ist austauschbar. Alles ist einzigartig individuell, etwas Besonderes, und darum heilig. Das vier Jahrhunderte dauernde Streben der Physik, eine komplexe Wirklichkeit auf allgemeine Gesetze zu reduzieren, die auf generische Grundbausteine einwirken, bricht zusammen, während sich die Anzahl der „Grundbausteine“ vervielfacht, bekannte physikalische Kräfte sich stur der Vereinheitlichung widersetzen und wir der Tatsache der nicht-Determiniertheit ins Auge sehen müssen. Selbst ein Elektron besitzt unreduzierbare Individualität, eine Unvorhersagbarkeit des Verhaltens, die nicht bloß auf unsere anscheinende Unkenntnis der exakteren Ursachen zurückzuführen ist. Weil es kein Sklave von Ursachen ist, kann es selbständig entscheiden. Das Elektron, das Proton, das Neutron und alles, was aus ihnen besteht. Individualität ist außerdem keine getrennt existierende Eigenschaft, sondern nur verständlich in Bezug zum restlichen Universum. In der Teilchenphysik sehen wir es anhand von „Messungen“; dabei handelt es sich eigentlich nur um sichtbar gemachte Verhältnisse. In der Biologie sehen wir es anhand wechselseitiger Beziehungen, die einen Organismus ausmachen und erhalten. In der menschlichen Psychologie gewährt uns das selbe Prinzip eine Stellung als absolut einzigartige Individuen, deren Individualität in einer unbegrenzten Menge von Beziehungen zum Rest der Welt besteht.

Wenn wir uns in die Welt verlieben, werden wir alles als heilig wahrnehmen und auch so behandeln. Klassische Religion sieht manche Dinge als heilig an, andere als profane, inaktive und austauschbare Massen. Heilig zu sein bedeutet, vom Besonderen, Einzigartigen und göttlicher Bestimmung durchdrungen zu sein. Es so zu sehen heißt, sich zu verlieben.

Das Zeitalter der Wiedervereinigung stellt eine Rückkehr zur animistischen Urreligion dar. Wir werden die Welt nicht mehr in das Heilige und das Profane, das Spirituelle und das Banale teilen. Alles wird heilig sein, denn wir werden wissen, dass alles einzigartig ist, sogar ein Elektron, ein Tropfen Wasser und selbstverständlich auch jeder Mensch. Wir wissen dies natürlich bereits. Wir wissen es seit langem, haben es aber in Mr. Roger’s Neighborhood56 verbannt, oder in die Zeilen bloß halb verstandener Schriften, während wir fortgesetzt Menschen und Gruppen be- und verurteilen. Stellen wir uns eine Welt vor, in der es die Grundlage des Lebens ist. Diese schönere, von so vielen Mythen verkündete Welt wird kommen. Eine vom Spirit belebte Welt und eine Spiritualität, die in der Welt lebendig ist. Die Kernaussage der New-Age-Spiritualität lautet: „Du bist göttlich“. Von Deepak Chopra bis zum Thomas-Evangelium, von Louise Hay bis zur Bhagavad Gita prophezeit die Lehre von der allen Dingen innewohnenden Göttlichkeit die Spiritualität des Zeitalters der Wiedervereinigung. Statt die materielle Welt wegen höherer Dinge zu verschmähen, wird sie sie lieben und umarmen und alles als heilig behandeln.

In der ganzheitlichen Medizin werden wir unsere Patienten lieben. Ganzheitliche Wirtschaft wird aus Liebe zu Menschen und ihrer Arbeit erwachsen, und ganzheitliche Wissenschaft wird die Prozesse des Universums an sich lieben. Die ganze Zeit war dies unser angeborenes Verlangen: einfach zu lieben und geliebt zu werden. Wir fühlen seine Regungen, fürchten uns aber, sie auszuleben, so sehr haben uns Existenzangst und Maschinenlogik versklavt. Erstere entspricht dem Gefühl, es „sich nicht leisten zu können“, menschlich zu handeln; und so reagieren wir darauf mit dem Programm der Kontrolle. Letztere entspricht der Kategorisierung jeder Person und jedes Objekts als austauschbares Exemplar des einen oder anderen Typs, dem man mit professioneller, unleidenschaftlicher und objektiver Anwendung einer Methode begegnen kann.

Die Zuspitzung der Krisen wird die betrügerische Maschinenlogik offenbaren, genau wie die Zwecklosigkeit des Programms zur Kontrolle. Furcht oder Glaube werden uns nicht länger davon abhalten, uns wieder in die Welt zu verlieben. Im Ergebnis werden alle alten Gegensätze fallen. Es wird keine Unterscheidung zwischen persönlicher und wirtschaftlicher Beziehung geben: Eine wirtschaftliche Beziehung wird persönlicher Natur sein. Es wird keine Unterscheidung zwischen Arbeit und Spiel geben: Alle Arbeit wird spielerisch stattfinden. Es wird keine Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Religion geben: Beide werden uns anleiten, die Welt zu lieben und unsere Rolle bei der Entfaltung der kosmischen Struktur besser zu verstehen. Es wird keine Unterscheidung zwischen Arbeit und Kunst geben: Beide werden nach Teilhabe an der Erschaffung von Schönheit trachten.

All dies und mehr wird der Auflösung des größten aller Dualismen entspringen: dem zwischen Selbst und Anderem. Das soll nicht heißen, wir würden alle in undifferenziertem Einssein aufgehen. Die Natur funktioniert nicht so, und auch wir nicht. Das eigenständige und getrennte Selbst wird nicht verschwinden, sondern flüssiger werden, verspielter; kein festes, unumstößliches Element unserer Wirklichkeit. Wir werden unsere Individualität aufgrund unserer Beziehungen zu allem Anderen spüren und definieren; wir werden von Beziehungen nicht mehr glauben, dass wir sie haben, sondern dass wir sie sind. Wir werden, genau wie unsere Beziehungen, wachsen und uns wandeln. So haben wir am Wachstum des Ganzen teil und tragen dazu bei.

Ein Medium hat mir einmal von der Vision einem „Jahrmillion des Träumens“ erzählt, das dem Zusammenbruch der gegenwärtigen Welt folgen soll. Im Traum kann der Geist die Welt neu formen; der Unterschied zwischen Subjekt und Objekt zerfließt. Eine Interpretation wäre die Erfüllung des Technologischen Programms, wobei Nanotechnik die Wirklichkeit auf jede unserer Launen hin umformt. Vielleicht aber bedeutet der Traum etwas völlig anderes. Im Traum erlaubt uns das perspektivische Fließen zunächst eine Person zu „sein“, dann eine andere; sich dann alles von außen anzusehen, dann selbst der Traum zu sein, der schließlich (unseren Annahmen nach) sowieso nur in unserem Kopf stattfindet. Die Jahrmillion des Träumens ist kein Erzwingen unserer Herrschaftsträume, sondern unsere Teilnahme am Traum des Universums von sich selbst. Wenn wir lieben, identifizieren wir uns miteinander, sehen und empfinden die Welt aus ihrer Perspektive und erkennen so unsere Wesenseinheit. Gleichfalls im Traum. Wenn wir uns wieder in die Welt verlieben, betreten wir den kosmischen Traum; wenn wir unser eigenständiges und getrenntes Selbst loslassen, werden wir zu dem, der wir sind.

52 Die Gesänge der Vögel tragen selbstverständlich mehr Bedeutung, als die meisten von uns meinen, und sind in der Tat Teil der Ursprache der Natur. Die Metapher bezieht sich auf den modernen Hörer.

53 Ivan Fonágy: Languages within Language, John Benjamins Publishing, 2001. S. 181

54 Joseph Epes Brown: Teaching Spirits, Oxford University Press, 2001. S. 35

55 Erzwungenes, gekünsteltes, verfrühtes Öffnen der Grenzen ohne Liebe bringt einen nicht der lingua adamica näher, sondern führt nur zu Verletzungen.

56 Amerikanische TV-Serie für Kinder, worin der Satz ”You are special”(Du bist etwas Besonderes) fällt [Anm. d. Übers.]

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1998-2011 Charles Eisenstein