Der Aufstieg der Menschheit von Charles Eisenstein

Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters

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Inhaltsverzeichnis:


Wiederhergestellte menschliche Natur

An einem Herbsttag, auf einer ländlichen Anhöhe, fragte mich eine Kräuterkundlerin herausfordernd, woher ich den Glauben hätte, ich sei böse. Denn trotz des ganzen, in diesem Buch präsentierten Gedankengebäudes war ich, wie viele von uns, von meiner angeborenen Unwürdigkeit überzeugt. „Wer hat dir zuerst erzählt, du seist böse?“, fragte sie.

Ich konnte ihr keine ehrliche Antwort geben. Wenn es einen Zeitpunkt gegeben hat, an dem man es mir „zuerst erzählt“ hat oder an dem ich diese furchtbare Behauptung zuerst akzeptiert habe, so kann ich mich nicht daran erinnern. Ich nehme an, ich könnte die Schuld Mutter, Vater oder einem Lehrer zuschieben. Aber tatsächlich war ihr Gebrauch von Scham, bedingtem Lob, Schuld und so weiter ein fast völlig hilfloses Übermitteln kultureller Kräfte in ihrer Umgebung. Unsere gesamte Zivilisation ist gesättigt mit der Botschaft „du bist böse“. Es wird uns von frühester Kindheit an eingebläut und gehört daher zu unseren grundlegendsten Vorstellungen über das Selbst und die Welt.

In der Wissenschaft manifestiert sich dieser Glaube im egoistischen Gen, dem eigenständigen und getrennten Selbst der Biologie, das Erfolg hat, indem es den Rest der Natur übertrumpft. In der Religion ist es die „völlige Verderbtheit des Menschen“ und jede andere Glaubenslehre, die auf der Trennung von Körper und Seele, Geist und Materie beruht. In der Ökonomie ist es der homo oeconomicus, der rational Handelnde, der von der Maximierung seines finanziellen „Interesses“ angetrieben wird. Das Ergebnis ist die Welt unter Kontrolle, die jenes Verhalten zu zügeln versucht, das dieser Glaube ausgelöst hat und das wir fälschlich für die menschliche Natur halten. Und die Maschinerie der Welt unter Kontrolle, die Willenskraft und der Zwang und die Regeln und die Anreize, impft uns diese Botschaft ein und bestärkt sie. Du bist böse.

Die Botschaft findet sich überall.

„Müll abladen bei Strafe verboten!“ - Man nimmt an, dass eine Bedrohung unserer eigennützigen Interessen unsere natürliche egoistische Nachlässigkeit im Zaum hält.

Lehrer: „Wie sollen wir die Schüler ohne Noten zum Lernen zwingen?“ - Ohne Zwang sind sie natürlich faul und mit ihrer Unwissenheit zufrieden.

Eltern: „Ich lasse dich hier so lange stehen, bis du sagst, dass es dir leid tut!“ - Man muss Menschen dazu zwingen, dass ihnen etwas leid tut.

Gesetz: „Eltern müssen bei krankheitsbedingtem Fehlen länger als sieben Tage ein schriftliches, durch einen Arzt unterschriebenes Attest vorlegen.“

„Johnny, wie kannst du nur!“

Du musst. Du kannst es dir nicht leisten. Du musst. Du solltest. Die Natur und die menschliche Natur sind feindselig, gleichgültig, weder heilig noch mit Bestimmung ausgestattet, und es liegt an uns, uns über sie zu erheben, sie zu meistern, zu kontrollieren. Wir üben mit Hilfe der Technik physische Kontrolle über die Natur aus, um sie sicherer, bequemer, reichhaltiger zu machen. Wir wenden psychologische Kontrolltechniken auf die menschliche Natur an, um sie freundlicher, weniger egoistisch, weniger brutal und viehisch zu machen. Dies sind die beiden Aspekte von Kontrolle, auf die sich unsere Zivilisation stützt.

In diesem Buch habe ich den unvermeidlichen Zusammenbruch des Kontrollprogramms beschrieben. Unvermeidlich deshalb, weil es schließlich auf Unwahrheiten aufbaut. In Kapitel VII habe ich außerdem die Welt beschrieben, die entstehen könnte, nachdem die Zuspitzungen der Krisen das Programm zu Fall gebracht haben. In diesem, dem letzten Kapitel werde ich Alternativen zum Versuch demonstrieren, sich mehr um das Gutsein (also weniger egoistisches, ethischeres, weniger gieriges Verhalten) zu bemühen. Es basiert auf Vertrauen in die Natur und die menschliche Natur. Um solches Vertrauen angesichts des immensen, durch Getrenntheit verursachten Leids aufzubauen und zu erhalten, werde ich auch die Dynamik der Trennung und Wiedervereinigung beschreiben, so dass wir die kosmische Notwendigkeit und Bestimmung unserer langen Reise in die Getrenntheit sehen – als Einzelne wie auch gemeinsam – und uns nicht gegen den nächsten Entwicklungsschritt wehren.

Wenn unsere ruinöse Zivilisation auf dem Kampf zwischen Gut und Böse gründet, dann verlangt ihre Heilung das Gegenteil: Selbstakzeptanz, Selbstliebe und Selbstvertrauen. Entgegen unserer besten Absichten werden wir das Böse und Gewalttätige in unserer Zivilisation niemals besiegen, indem wir uns mehr anstrengen, die von uns für böse befundene menschliche Natur zu überwinden, zu regulieren und zu kontrollieren. Denn der Krieg gegen die menschliche Natur erzeugt, genau wie der Krieg gegen die Natur, nur mehr Trennung, mehr Gewalt, mehr Hass. „Du kannst die Hassenden töten“, sagte Martin Luther King, „aber den Hass kannst du nicht töten.“ Die Werkzeuge des Meisters können nie des Meisters Haus einreißen. Das Gleiche gilt innerlich. Du kannst gegen Teile deiner selbst, von denen du glaubst, sie seien schlecht, in den Krieg ziehen. Doch selbst wenn du gewinnst wie die Bolschewiken und die Maoisten, so wird der Sieger zum neuen Bösewicht. Zuletzt wird die Distanzierung vom Selbst, die der Feldzug der Willenskraft nach sich zieht, zwangsweise in irgendeiner Weise auf die Außenwelt projiziert.

Ja, sicher, Selbstakzeptanz... das Konzept ist heute bloß noch ein Klischee. Voll zum Ausdruck gebracht ist jedoch der Pfad zur Wiedervereinigung mit Selbstakzeptanz, Selbstliebe und Selbstvertrauen zutiefst radikal. Er bedroht wohlgehegte Glaubenssätze darüber, wie man ein guter Mensch ist. Lass mich das so klar ausdrücken, wie ich nur kann: Der Pfad zur Erlösung besteht für uns als Einzelne und als Gesellschaft darin, mehr eigennützig zu sein, nicht weniger.

Wie kann das sein? Sind es nicht gerade Eigennutz und Gier, die uns den Schlamassel eingebrockt haben?

Nein. Was wir als Eigennutz oder Selbstsucht ansehen, beruht auf einem falschen Bild vom Selbst. Unsere kulturellen Annahmen darüber, wer wir sind, haben uns um unser Geburtsrecht betrogen und uns unter das Joch einer übersteigerten Illusion gebracht. Wenn ein neues Selbst-Verständnis entsteht, wird Selbstbezogenheit etwas völlig anderes bedeuten.

Bereits jetzt ist die Illusion sehr abgenutzt. Schon sehen wir den Bankrott des Programms für Sicherheit und Erfolg, das die Gewinner in unserer Gesellschaft auszeichnet. Schon sehen wir etwa, wie finanzielle Unabhängigkeit uns von menschlicher Gemeinschaft und wie technologische Abschirmung gegenüber der Natur uns von der Gemeinschaft des Lebens abgeschnitten hat. In zunehmendem Maße nützt das Programm der Kontrolle nicht einmal mehr dem begrenzten eigenständigen und getrennten Selbst aus unserer Illusionen, weil Gesundheit, Gemeinwesen und Umwelt verfallen. Das ist in der Tat ironisch angesichts der vorgeblichen Ziele von Eigennutz: Sicherheit, Freude und Wohlstand. Darum ist der Weg in eine goldene Zukunft, die uns sowohl als Gemeinschaft wie auch als Einzelne offensteht, kein Pfad der Opfer und Mühen, sondern ganz einfach das Erwachen zu einer Wahrheit, die uns schon immer begleitet hat. In meinem Buch The Yoga of Eating habe ich in Anwendung dieser Idee auf Ernährung geschrieben:

Wenn wir genau untersuchen, was wir normalerweise als Eigennutz definieren, finden wir einen traurigen Wahn. Ich stelle mir einen großen Obstgarten vor, die Bäume beladen mit reifen Früchten, und ich mittendrin, ein kleines Häufchen schrundiger Äpfel sorgfältig bewachend. Wahrer Eigennutz wäre nicht, einen größeren Haufen noch sorgfältiger zu bewachen; er bestünde darin, aufzuhören sich um den Haufen zu sorgen, um sich stattdessen der Fülle darum herum zu öffnen. Ohne das bleiben wir für immer in der Hölle und in dem Glauben, dass unser 500m2-Haus uns nur deshalb nicht glücklich macht, weil wir eigentlich 1000m2 bräuchten. Andererseits muss man oft erst etwas erlangen, um zu entdecken, dass es letzten Endes doch nicht glücklich macht. Darum ist selbst in die Irre geführter Eigennutz ein möglicher Weg zur Befreiung und deshalb empfehle ich dir, nach Kräften eigennützig zu sein. Du wirst es nicht glauben, aber aufrichtig eigennützig zu sein braucht Mut. Wenn eine Investition nur groß genug ist, wagen wir uns nicht zu fragen, ob es uns glücklich gemacht hat, denn wir fürchten die Antwort. Nachdem du auf Highschool und College die ganze Zeit unter Auslassung all dessen, was Spaß macht, gelernt hast, dann all die Jahre des Medizinstudiums und all die schlaflosen Nächte als Assistenzarzt... kannst du nach all jenen Opfern zugeben, dass du es hasst, ein Arzt zu sein? Eigennützig zu sein ist nicht leicht. Wie viele von uns sind im Grunde ihres Herzens wirklich gut zu sich selbst?
 
Die Ernährung ist ein Weg, auf praktische Weise gut zu sich selbst zu sein. Denk an den gierigen Esser, der mehr als seinen Anteil aufisst und sich vollstopft. Das ist ein Beispiel für irregeführten Eigennutz, von Nicht-gut-zu-sich-selbst-sein. Der Völler bekommt tatsächlich mehr Essen. Mehr, mehr, mehr! Aber er schadet sich selbst. Wäre er eigennütziger, würde er das Gut-zu-sich-selbst-sein zu seiner obersten Priorität machen, so würde er vielleicht nicht so viel essen. Es ist eine Ironie und ein Wunder. Wenn du dich dazu entschließt, beim Essen wirklich gut zu dir selbst zu sein, ist das Endergebnis eine gesündere, nicht eine schädlichere Ernährung, selbst wenn diese Diät womöglich mit Hilfe einer Extraportion Eiscreme beginnt!

Wenn ich vor Publikum über radikales Selbstvertrauen rede, beobachte ich eine Bandbreite von Reaktionen, die von dankbarer Zustimmung („Ich habe schon immer darauf gewartet. Ich wusste es die ganze Zeit, konnte es aber nicht glauben.“) bis zu wütendem Protest reichen („Das würde die heutige Zivilisation zugrunde richten.“). Beide Reaktionen sind zutreffend. Was würde mit der Zivilisation geschehen, wenn jeder beispielsweise seinem inneren Widerwillen gegen Jobs vertraute, die ihn selbst und andere herabsetzen? Ich vermute, dass viele Menschen beide Reaktionen – Dankbarkeit und Protest – gleichzeitig spüren. Das konditionierte Selbst fürchtet genau jene Freiheit, die es sich so sehr wünscht. Wie auf kollektiver, so heißt auch auf individueller Ebene ein Leben in Selbstvertrauen zu führen, dass man das Ende des uns bekannten Lebens hinnimmt. Alles kann geschehen, und alles kann sich ändern: Arbeit, Umwelt, Beziehungen und mehr. Im Tausch gegen Freiheit müssen wir Vorhersagbarkeit und Kontrolle aufgeben.

Die Kontrollideologie durchtränkt jeden Aspekt politischen und religiösen Glaubens. Genau wie konservative Gläubige meinen, wir müssten rigoros gegen unsere sündige Natur durchgreifen, sagen uns auch Umweltschützer, wir müssten unsere Gier und Selbstsucht in den Griff bekommen, um die Welt nicht noch mehr zu verschmutzen und uns mehr als unseren Anteil an den Ressourcen anzueignen. Und praktisch jeder hat den Spruch „erst die Arbeit, dann das Vergnügen“ verinnerlicht. Wir erlauben uns nicht das zu tun, was wir wirklich möchten, bis wir das getan haben, was wir müssen. Das bäuerliche Denkmuster. Wut und Schuld durchziehen die Schriften der Prediger zur Linken und zur Rechten; Ideologen so gegensätzlich wie Derrick Jensen und Ann Coulter, John Robbins und Michael Shermer. Doch es sind nur Varianten ein und des selben Themas.

Beide Seiten bringen die Leitideologie unserer Zivilisation zum Ausdruck, nur auf leicht unterschiedliche Weise. Darum ändert sich nie viel, wenn eine Seite gegen die andere gewinnt. Selbst der Kommunismus hat die Versklavung und Ausbeutung des Menschen durch den Menschen nicht beendet, geschweige denn der Frau durch den Mann oder der Natur durch den Menschen. Dieses Buch ruft zu einer Revolution völlig anderer Art auf: einer Revolution unserer Selbstwahrnehmung und in der Folge unserer Beziehung zur Welt und einander. Dies kann und wird nicht durch gewaltsamen Umsturz des gegenwärtigen Regimes geschehen, sondern nur, wenn dieses seinen Wert verliert und wir über es hinauswachsen.

Jeder, der uns sagt, wir müssten uns mehr anstrengen, gut zu sein, geht von den selben falschen Annahmen über die menschliche Natur aus. Selbstvertrauen ergibt nur Sinn, wenn wir im Grunde gut sind. Mit Hinblick auf menschliche Gewalt und unser eigenes Versagen schließen wir, wir seien es nicht. Es scheint, dass die Ursache der Gewalt und des Bösen die ungezügelte menschliche Natur ist; aber das ist ein Irrtum. Die Ursache ist im Gegenteil die Verleugnung der menschlichen Natur. Die Ursache unsere Abtrennung von unserer wahren Natur.

Führt Selbstvertrauen tatsächlich in eine Abwärtsspirale aus Trägheit und Gier? Manchmal mag es scheinen, dass wir unsere Kinder anschreien, uns mit Junkfood vollstopfen, den ganzen Tag schlafen, unsere Schularbeiten sein lassen, ausschweifenden Sex haben, uns nicht mehr um Recycling scheren, uns jeder Laune hingeben und das am leichtesten erreichbare Vergnügen ohne Rücksicht auf andere maximieren würden, wenn wir die Selbstkontrolle lockern würden. Aber in Wirklichkeit sind all diese Verhaltensweisen Symptome der Getrenntheit von unserem wahren Selbst, nicht entfesseltes wahres Selbst. Wir verlieren die Geduld mit unseren Kindern wegen unserer eigenen Zeitsklaverei – Fristen und Termine – die mit den Rhythmen der Kindheit (sowie allen menschlichen Rhythmen) kollidiert. Wir stopfen uns mit Junkfood voll, weil wir Ersatz für eine vollwertige Mahlzeiten brauchen, die industriell gefertigtes Essen und anonyme Existenz nicht bieten. Wir wollen lange wach bleiben und durchschlafen, weil wir den von anderen für uns verplanten Tag, ja das Leben nicht ertragen; oder vielleicht haben wir den nervenbelastenden Stress im Sperrfeuer eines auf Angst basierten Lebens satt. Wir identifizieren uns mit Berufssportlern, deren Siege als Ersatz für unsere eigene unverwirklichte Größe herhalten müssen. Wir begehren finanziellen Wohlstand als Ersatz für den verlorenen Reichtum der Verbundenheit mit der Gemeinschaft und der Natur. Vielleicht sind unsere ganze Gewalttätigkeit und Sündigkeit das versuchte Zurückrudern zu unserer wahren Natur.

Mit anderen Worten, die Übel der menschlichen Natur sind eigentlich das Ergebnis von Verleugnung der menschlichen Natur. Wir sind sowohl Opfer als auch Täter eines teuflischen Betrugs, der behauptet, wir müssten uns vor der Natur und der menschlichen Natur schützen und uns über beide erheben. Doch wo diese Illusion sich abzunutzen beginnt, begegnen uns großartige Menschen, die uns zeigen, was Akzeptanz, Liebe und Vertrauen gegenüber unserem Selbst bewirken. Immer, wenn ich einem begegne, werde ich an den Grad meiner eigenen Begrenztheit und Unsicherheit erinnert. Es gibt Leute, die sich inmitten der modernen Gesellschaft eine Jäger-Sammler-Mentalität der Fülle erhalten; wenn ich ihnen begegne, erinnert mich meine eigene Verklemmtheit an den Jesuitenforscher LeJeune:

„Ich habe ihnen gesagt, es liefe nicht gut bei ihnen, und dass es besser wäre, sich diese Feste für künftige Tage aufzusparen und dass sie dadurch nicht mehr so sehr von Hunger geplagt wären. Sie lachten mich aus. ’Morgen’, sagten sie, ’werden wir ein weiteres Fest mit dem abhalten, was wir dann fangen’.“1

Solche Menschen sind niemals davon eingeengt, ob sie „es sich leisten können“. Sie haben eine offene Hand und ein offenes Herz und manchmal scheint es, dass immer für sie gesorgt ist. Neulich traf ich einen Mann, einen Schamanen und Künstler, der für seine Dienste nichts verlangt. Sein ganzes Haus ist mit Geschenken von Schülern und Freunden eingerichtet. Sogar wenn man nicht auf das Entstehen der Restaurativen Ökonomie warten will, kann man sie auf sein eigenes Leben anwenden, indem man sich einfach der Geschenkwirtschaft (und Geschenkökologie) öffnet, welche die Geldwirtschaft ersetzen wird. Dafür brauchen wir lediglich zu geben und zu empfangen. Frei zu geben und zu empfangen benötigt den Glauben, dass alles gut sein wird. Es wird gut sein. Die Welt wird sich darum kümmern. Und das wird geschehen, sobald wir die Welt nicht mehr als von uns getrenntes und feindseliges Anderes betrachten. Dies ist die derzeit zusammenbrechende Illusion, die uns in furchtsamen Gegensatz zur Welt stellt.

Man sieht die großartigen Ergebnisse von Selbstvertrauen auch bei den Genies unserer Gesellschaft, Leute, die so sehr an sich selbst glauben, dass sie Jahre in verrückte Leidenschaften stecken. Ich stelle mir Albert Einstein vor, wie er von seinem Chef im Schweizer Patentamt belehrt wird: „Albert, du wirst es mit deiner Kritzelei nie zu etwas bringen. Du müsstest dir eine bessere Arbeitseinstellung zulegen, so wie Müller da drüben. Komm, konzentrier dich!“ Und vielleicht dachte Einstein: „Wahrscheinlich hat er recht. Ich werde heute Abend nicht über Relativität nachdenken und stattdessen eine Ausgabe der Patentzeitung mit nach Hause nehmen, um aufzuholen. Wenn ich mich sehr anstrenge, werde ich vielleicht sogar befördert.“ Doch stattdessen fühlte er sich zu seinen Gleichungen hingezogen, und die Zeitung blieb ungelesen. Sein schöpferischer Genius rührte nicht von selbstdiszipliniertem, umsichtigem, praktischem und sichererem Handeln, sondern von furchtloser Hingabe an seine Leidenschaft. So ist das bei uns allen. Ich habe bereits gezeigt, inwiefern es irrational ist, etwas besser als nötig (für den Abschluss, den Chef, den Absatz) zu erledigen, wobei ’rational’ sich auf den ökonomischen Nutzen für das getrennte Selbst bezieht. Nur wenn wir uns vom Zwang der Notwendigkeiten befreien, können wir uns voll der Erschaffung von Schönheit widmen. Niemand wird jemals irgendetwas Großartiges erreichen, wenn er Dinge wegen angstbasierter Termin- und Energiezwänge gerade gut genug erledigt, um wirtschaftlichen Zwecken zu genügen oder einer Autoritätsperson zu gefallen, die Macht über ihn hat. Gut genug ist nicht gut genug für unser Glück und unsere Erfüllung. Etwas für jemanden zu tun, weil dieser Jemand Macht über dich besitzt – die Macht, dein Überleben zu bedrohen – ist eine passende Beschreibung für Sklaverei.

Selbstvertrauen akzeptiert keine Bedingungen. Wir sind daran gewöhnt, unsere Selbstbestimmung in sichere, folgenfreie oder scharf abgegrenzte Bereiche des Lebens zu lenken. „Ich werde meine Integrität wahren – es sei denn, ich würde deswegen gefeuert.“ „Ich werde auf meinen Körper hören – außer er will Zucker.“ „Ich werde dem wahren Ruf meines Herzens folgen – aber nicht, wenn es sich darum handelt, reich zu werden.“ Ich verlange nicht, wir sollten ohne die Dinge auskommen, die wir wollen; ich behaupte, dass das, was wir wirklich wollen, oft nicht das ist, was wir meinen. Unglücklicherweise ist manchmal der einzige Weg, das herauszufinden, es zu bekommen. Wie viele Menschen haben erfahren, dass Ruhm und Reichtum, welchen sie endlich errungen haben, sich nicht als das entpuppte, was sie eigentlich gewollt haben? Aber sie hätten es nicht anders herausfinden können. Irregeleiteter Eigennutz kann ein Pfad zu authentischem Eigennutz sein.

Vielleicht gilt dasselbe für die gesamte Zivilisation. Vielleicht wird nichts weniger als der Kollaps unserer Zivilisation ausreichen, uns zu unserem wahren Selbst zu erwecken. Vielleicht müssen wir ihre großen Ambitionen erfüllen, um deren Leere zu erkennen. Natürlich kann das Technologische Programm niemals vollständig abgeschlossen werden, aber bestimmte Probleme beugen sich tatsächlich Kontrollmethoden und technologischer Verbesserung. In einigen Details ist das Technologische Programm ein großer Erfolg. Wir haben ein Reich der Zauberei und Wunder erreicht. Wir besitzen gottgleiche Kräfte. Und doch fällt irgendwie die Welt um uns herum auseinander. Unser Vertrauen in Technik schwindet andererseits nur langsam, weil ihre Erfolge innerhalb ihrer engen Grenzen unabstreitbar sind. Vielleicht kann als Einziges ihr endgültiges, unleugbares, systematisches Versagen auf breitester Basis den Betrug enthüllen.

Erinnere dich an die Metapher von der Drogenabhängigkeit in Kapitel I. Drogen sind nicht unfähig, das akute Problem zu lösen. Der Schuss hilft! Ich fühle mich gelangweilt, unbehaglich, deprimiert, einsam, und die Droge beseitigt diese Gefühle (für eine Weile), indem sie die Lüge stützt, dass Schmerz grundsätzlich vermeidbar ist, auch wenn seine Ursache nicht angegangen wird. Bei der Technologie besteht die Lüge darin, dass wir den Konsequenzen der Naturzerstörung aus dem Weg gehen können; dass wir uns immer weiter vom Gleichgewicht entfernen und den angerichteten Schaden im Griff behalten können, statt die Balance wiederherzustellen. Es geht um die Lüge, dass Schulden nicht zurückgezahlt werden müssen. Es geht um die Lüge, dass die Welt keine ihr innewohnende Bestimmung jenseits menschlicher Zwecke besitzt und dass ihre Zerstörung deshalb keine Konsequenzen hat. Es geht um den Irrtum, dass nichts heilig ist, so dass wir straflos alles zugrunde richten dürfen. Sowohl Drogen als auch Technologie funktionieren für ein Weilchen; daher die Verführung, die so mächtig ist, dass wir glauben, die verursachten Probleme und zusätzlichen Schmerzen könnten auf gleiche Weise mit den selben Mitteln unbegrenzt vermieden werden, bis zur ’Endgültigen Lösung’.

Im Falle der Drogen endet die Sucht oft erst, wenn die von ihr verursachten Probleme ihre Fähigkeit übersteigen, den mit ihr verbundenen Schmerz zu überdecken. Wenn sich der Schmerz eines von Drogen ruinierten Lebens auftürmt, schwindet die schmerzbetäubende Macht der Droge; jeder Aktivposten, jede Zuflucht zur Kontrolle der sich ansammelnden Probleme ist verbraucht; das Leben ist nicht mehr beherrschbar und all die aufgeschobenen Konsequenzen treten zutage, um als Zuspitzung von Krisen erlebt zu werden. Der Süchtige ist am absoluten Tiefpunkt angelangt und das Leben fällt auseinander.

Das Technologische Programm, das auf die völlige Eliminierung des Leids hinausläuft und von dem manche Träumer glauben, es sei möglich mit Hilfe von Kohlekraft, ich meine Elektrizität, ähm, Nuklearkraft, ich meine durch den Computer, ähm, Nanotechnologie... ist gleichbedeutend mit der Vorstellung, dass Alkohol oder Kokain eines Tages den zumeist durch seinen bisherigen Missbrauch verursachten Schmerz nicht nur vorübergehend stillt, sondern auch alle Probleme lösen wird, die den Schmerz auslösen. In der Tat eine absurde Wahnvorstellung.

In jedem Stadium der Sucht gibt es eine Gelegenheit, die Lüge zu durchschauen, und zwar nicht nur mit dem Verstand, sondern mit dem Herz, so dass man das Kontrollprogramm aufgeben kann. Es ist keine dauerhafte Lösung, das Kontrollprogramm auf die Sucht selbst anzuwenden, sie also mit selbstverleugnender Einstellung anzugehen. Ausstieg funktioniert nur mit der tief empfundenen Erkenntnis, dass die Besserung eine Lüge war, dass man sich etwas verwehrt, was man nicht möchte, nicht etwas, das man möchte. Andernfalls ist ein Rückfall am Ende unvermeidlich.

Ein Ziel dieses Buches ist es, solch einen Rückfall zu verhindern. Wenn sich Krisen zuspitzen und die Dinge auseinanderfallen, wird sich eine neue Wahrnehmung des individuellen und kollektiven Selbst eröffnen. Lasst es uns begreifen und darauf aufbauen, wenn die Zeit reif ist!

Ein weiteres Anliegen dieses Buches ist der Aufruf, den Wandel nicht zu bekämpfen. Darum ist die Beschreibung des Wandels so wichtig. In Kapitel V schrieb ich: „Noch schlimmer als die Auflösung des geordneten, stabilen, dauerhaft erscheinenden Lebens ’unter Kontrolle’ ist es, wenn es reibungslos voranschreitet, bis Zeit und Jugend verbraucht sind.“ Je länger wir durchhalten, desto größer sind die sich auftürmenden Folgen. Schon jetzt ist der von Menschen in den letzten paar tausend Jahren angerichtete Schaden schwer genug für ein sechstes großes Ausrottungsereignis der Erdgeschichte sowie den Kriegs-, Hunger- und Seuchentod von Milliarden Menschen im Lauf des nächsten Jahrhunderts. Wenn wir weiterhin unser soziales, spirituelles und natürliches Kapital für hoffnungslose Manöver zur Kontrolle der Folgen von Kontrolle mit noch mehr Kontrolle verbraten, dann wird die schließlich fällige Rechnung noch schlimmer ausfallen.

Darum muss die Botschaft „sei so gut zu dir selbst wie du kannst“ von neuer Einsicht darin begleitet sein, was es heißt, gut zu sich selbst zu sein. Das Erfolgsrezept unserer Gesellschaft ist ein Katastrophenrezept. Nicht nur auf kollektiver Ebene, sondern auch individuell, führt die Verpfändung unserer Lebensbestimmung an die Anforderungen von Sicherheit und Bequemlichkeit schlussendlich zum Bankrott; wir schauen verlassen, einsam und krank auf Jahre zurück, die wir an die Jagd nach einer Fata Morgana verschwendet haben.

Doch brauchen jene Jahre – ich habe selbst viele davon verschwendet – nicht völlig fruchtlos gewesen zu sein; nicht, wenn wir daraus lernen, wofür die Ersatzobjekte unseres Strebens wirklich standen. Alles, was ich wirklich wollte, war Nähe. Alles, was ich wirklich wollte, war Nahrung. Alles, was ich wirklich wollte, war Trost. Alles, was ich wirklich wollte, war Liebe. Alles, was ich wirklich wollte, war, meine Größe zum Ausdruck zu bringen. Nun ist die Frage, welches der wahre Gegenstand ist, nach dem die Menschheit, die technologische Spezies, strebt. Denn es scheint, dass der Aufstieg der Menschheit in Wirklichkeit ein Abstieg ist, eine Reduzierung des unmittelbaren Reichtums der Realität, ein Aufgeben des ursprünglichen Überflusses der Nahrungssuche. Aber vielleicht ist da mehr; vielleicht tasten wir uns an etwas heran, eine kollektive Bestimmung oder ein Schicksal, und haben stattdessen bei unserem Streben nach einem Ersatz, einem Schein, einer Täuschung endlose Schäden angerichtet. Vielleicht war es nötig, dass unsere Suche uns ganz in die extreme Trennung geführt hat; vielleicht wird die kommende Wiedervereinigung nicht eine Rückkehr in eine unverfälschte Vergangenheit sein, sondern eine Wiedervereinigung auf einer höheren Bewusstseinsebene. Durchlaufen wir eine Spirale statt eines Kreises?

Was soll ein Wandlungsprozess, der solch eine extreme Trennung benötigt? Wohin könnte er uns führen? Könnte die ansteigende Gewalt, die den Planeten nun überschwemmt, einen Zweck, eine Bedeutung für die Transformation besitzen?

1 Le Jeune, le Pere Paul. 1897: Relation of What Occured in New France in the Year 1634”, in R. G. Thwaites (Hrsg.): The Jesuit Relations and Allied Documents. Vol. 6. Cleveland, Burrows. (frz. Erstausgabe 1635) Zitiert nach Marshall Sahlins.

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1998-2011 Charles Eisenstein