Der Aufstieg der Menschheit von Charles Eisenstein
Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters
Ich habe ein Bild der Trennung von uns selbst, von der Natur und von einander gezeichnet, das einen Motor des Leids und die Ursache der vielfachen Krisen zeigt, denen der Planet gegenübersteht. Deshalb, und weil die Getrenntheit durch die gesamte Geschichte hindurch ständig gewachsen ist, und auch, weil sie in vielerlei Hinsicht eine Illusion ist, haben viele sie als Fehler, als Fehltritt oder eine Sünde verstanden, ja als die Sünde. Daher das uralte Motiv der Rückkehr zu früheren Zeiten, das Abschütteln der Getrenntheitsillusionen und die Rückkehr zu ursprünglichem Einssein.
Doch anderswo im Buch habe ich auf die Unvermeidlichkeit des uralten Trennungsverlaufs hingewiesen, die Weise, wie er auf sich selbst aufbaut, sein unvermeidliches Fortschreiten, das auf vormenschliche und sogar vor-biologische Bedingungen zurückgeht. Und intuitiv möchte man ihm im Hinblick auf die phantastisch komplexen Strukturen unserer Gesellschaft eine Bestimmung, eine kosmische Bewandtnis zuschreiben, die mehr ist als ein Fehler, den man ausmerzen sollte. Ja, der Aufstieg unserer Selbstdefinition als eigenständige und getrennte Wesen hat endlose Zerstörung, Greueltaten und Entfremdung mit sich gebracht, aber auch unerwartete Blickwinkel, Arten des kreativen Ausdrucks und Formen von Schönheit. Das Ödland moderner Gesellschaft, ihre endlosen Einkaufsmeilen und verheerten Ökosysteme und aussterbenden Sprachen und suizidale Jugend und leeren Konsum und einsamen Menschen... war das alles umsonst?
Wenn Trennung die Wurzel allen Übels ist, dann führt uns die Frage nach dem Zweck der Trennung zu einem alten theologischen Rätsel: dem Zweck des Bösen. Warum, so fragen Theologen, hat Gott das Leid in die Welt gelassen? Sicher, es waren Adam und Eva, die die Trennung von Gott gewählt haben, indem sie die Frucht (das Wissen) von Gut und Böse aßen, aber es war Gott, der sie überhaupt erst vor diese Wahl stellte und der vorausgesehen haben musste, wie diese Wahl ausfallen würde. Warum also schuf Gott den Teufel? Warum hat Gott überhaupt etwas erschaffen, weshalb bewahrte er nicht die All-Einheit? Die selbe Frage lässt sich auch anderen Religionen stellen. Dem Taoismus: Warum hat der undifferenzierte Hun Dun, die ursprüngliche Formlosigkeit, sich in Ying und Yang unterschieden und dann in die „10.000 Dinge“? Dem Buddhismus: Warum hat sich der nichtdualistische Urgeist geteilt und die Illusion vom Selbst und dem Anderen erschaffen?
Durch eine mythologische Untersuchung dieser Fragen können wir sie vielleicht auch in moderner Form stellen: Was ist letztendlich der Grund für den Abstieg der Menschheit „von einem Ort der Entrücktheit, des Verstehens und der Ganzheitlichkeit“ zur heutigen Getrenntheit, Entfremdung und Zerrüttung?
In den theistischen Religionen ist die archetypische Trennungsgeschichte, oft noch vor dem Garten Eden, der Fall Luzifers. Dies war die ursprüngliche Trennung, das Muster und die Essenz aller darauf folgenden Trennung. Der Teufel wird normalerweise als Inbegriff alles Bösen gesehen, eine Gleichsetzung, die Sinn ergibt, wenn wir Trennung, die Illusion vom eigenständigen und getrennten Selbst, als Quelle unserer heutigen Krisen verstehen.
Bezeichnenderweise wird der Teufel als Luzifer mit Licht in Verbindung gebracht, also mit Feuer, und daher mit der Urtechnologie, die den „häuslichen Kreis“ definierte, den ich in einem früheren Kapitel beschrieben habe. Die selbe Funktion hat der Prometheus-Charakter der griechischen Mythologie. Die Götter straften ihn, weil er den Menschen die Macht gegeben hat, wie sie zu sein, das heißt durch die Feuertechnologie zu „Herren und Besitzern der Natur“ zu werden und sich anzueignen, was einmal Aufgabe der Götter war. Die Voraussicht der griechischen Mythenerzähler war wirklich erstaunlich. Woher konnten sie wissen, wie nahe wir einmal den olympischen Kräften kommen würden, den Flug, die Herrschaft über natürliche Prozesse, vielleicht sogar ewige Jugend und Unsterblichkeit zu erreichen? So wie in der judäo-christlichen Überlieferung die Rolle des Feuerbringers mit Gottes Feind verbunden ist, verstanden auch die Griechen das im Feuer enthaltene Verhängnis; ein Verhängnis, das wir heute durchmachen: „Prometheus, du hattest Glück mich überlistet und das Feuer gestohlen zu haben... Aber ich werde den Menschen als Preis für das Feuer ein Übel geben, nämlich dass sie alle frohen Mutes sein werden, während sie ihre eigene Zerstörung willkommen heißen.“2 Dieses Übel war die Büchse der Pandora, die – wie eine Droge, wie Technik – so begehrenswert erschien und doch mit Unfrieden, Krankheit und Zerstörung gefüllt war, wie wir sie seit der ersten Technologie kennen.
Luzifers Fall steht für den Anbeginn der Trennung von Gott, so wie die Feuertechnologie die erste Aufhebung und Aneignung des natürlichen Energiekreislaufs durch den Menschen war, was auch den Beginn unserer Trennung von der Natur markiert. Im Satan-Charakter haben wir dann die Legende vom Krieg des Teufels gegen den Himmel oder seine versuchte Selbsterhöhung über Gott; ein Thema, das in der Babylon-Geschichte, dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse und zahllosen anderen Mythen widerhallt. Sie stehen für unseren Feldzug, uns zu Herren und Meistern über die Natur zu machen, also die Zähmung des Wilden, das Technologische Programm, die Welt unter Kontrolle. Und genau wie im Mythos ist der Krieg gegen den Himmel letztlich zum Scheitern verurteilt und der durchgemachte Schmerz dieses verlorenen Feldzugs steht im Verhältnis zur Heftigkeit, mit dem er geführt wird. Dem Versagen technologischer Verbesserung, dem Versagen des Programms, die ganze Welt unter Kontrolle zu bekommen, begegnen wir mit einer Verstärkung der Kontrollbemühungen und opfern so immer mehr Leben dem Krieg. Und so haben wir in moderner Zeit unser Leben in die Zeit- und Geldsklaverei verkauft.
Jedoch können wir Trost in der Aussicht finden, dass der Krieg gegen den Himmel nicht außerhalb des göttlichen Plans stattfindet, sondern Teil davon ist. Analog dazu ist der Aufstieg der Menschheit, der Aufstieg von Technologie und Trennung, kein falscher Schachzug, kein Fehltritt, sondern notwendiger Teil des Prozesses. In der Tat stützt der Glaube, er sei ein zweckloser, falscher Schritt gewesen, genau die Annahmen, welche ihn erst ermöglichten; als wären wir eine Ausnahme von den Naturgesetzen (s. Kapitel VI). Doch kein Merkmal entwickelt sich zufällig, sondern ausschließlich in Erfüllung einer ökologischen Bestimmung. Unsere Trennung von der Natur, unser Krieg gegen sie, unsere Ambitionen, sie für immer zu überwinden, ist eigentlich in Einklang mit den natürlichen Bestimmungen, ein evolutionärer Schritt nicht nur der menschlichen Art, sondern des Planeten insgesamt. Unsere scheinbare Trennung ist in Wirklichkeit ein Schritt hin zur Ganzheitlichkeit auf einer höheren Komplexitätsebene, eine Stufe der Ausweitung der Natur in einen neuen Bereich. Mythologische Erzählungen können dabei helfen, diesen Vorgang zu illustrieren.
Vor langer Zeit gab es einmal Einheit: Gott. Aber keine Schöpfung. Im Taoismus der undifferenzierte Hun Dun, die ursprüngliche Formlosigkeit. Im Buddhismus der nichtdualistische Urgeist. Dann, nach einer ewigen Zeit, beschloss diese Einheit, Getrenntheit von sich selbst zu erfahren. Mit anderen Worten hat Gott das göttliche Selbst in Billionen kleiner Stücke gespalten, die immer mehr vergaßen, wer sie waren. Weil er wissen wollte, wie das ist, um sich schließlich auf höherer Bewusstseinsstufe wieder zu sammeln. Wir könnten Luzifer sogar als ersten freiwilligen Helden betrachten: „Wer soll ich werden?“, donnerte eine Stimme sich selbst an. Schließlich spaltete sich ein Teil dieser Stimme ab, trennte sich und stieg deshalb in die Hölle hinab, in Vorwegnahme der sich verschlimmernden Hölle, in der wir uns finden, wenn wir unsere Trennung von der Natur, anderen Menschen und dem Göttlichen aufrechterhalten und ausweiten. Die sich auftürmenden Krisen der heutigen Welt sind genau das.
Vielleicht ist Trennung kein Übel, sondern eher ein Abenteuer der Selbstentdeckung. Vielleicht ist Technologie eine Erkundung der Trennungsillusion, so dass das All sich selbst besser verstehen lernt und ja, auch Wiedervereinigung erlangt, jedoch auf höherer Stufe als zuvor. Anders ausgedrückt hat der Fall einen Zweck und daher auch der ganze Verlauf der Trennung, der jetzt seinen Gipfel erreicht. Um diesen Zweck zu erfüllen, muss die Trennung bis zum Ende durchlaufen, bis zu dem Extrem, das wir heute erleben.
Denn was könnte der ultimative Grad an Trennung anderes sein, als seine göttliche Natur so vollständig vergessen zu haben, dass man das Göttliche selbst bezweifelt, also an keine Ordnung glaubt, keine Bestimmung und kein Schicksal als jenes, das wir der Wirklichkeit aufzwingen. Das Uhrwerk-Universum, das unserer gegenwärtigen Weltanschauung zugrunde liegt, repräsentiert den fortgeschrittensten Stand der Trennung. Eine Welt, in der es keinen Sinn, keine Bestimmung und nichts Heiliges ist oder gar denkbar wäre. Heute erkunden wir diese fernen Bereiche der Hölle, die Rudolph Steiner als Zustand eines „Krieges aller gegen alle“ vorhersah. Wie sehr das doch der neodarwinistischen Theorie vom „egoistischen Gen“ gleicht.
Die gegenwärtige Erforschung der fernsten Bereiche der Trennung ist daher eine kosmische Notwendigkeit, die bis zu ihrer schließlichen Lösung durchgespielt werden muss. Trotz der beinahe einhelligen Auffassung der Wissenschaftler, dass wir die Grundlagen menschlichen Lebens auf Erden rapide zerstören, schreitet der Prozess rasch voran, als wären wir machtlos, ihn zu stoppen. Und machtlos sind wir tatsächlich. Selbstverständlich gibt es Einzelsiege: gestoppten Straßenbau, geschlossene Verbrennungsanlagen, gerettete Wälder, abgetragene Dämme. Aber insgesamt geht die Entwicklung hin zur Minderung der „Umwelt“. Das selbe trifft auf diverse soziale, politische und medizinische Trends zu. Als ob ein kollektiver Wille uns zum vollständigen Erlebnis der Hölle drängte. Als ob wir wie ein Drogenabhängiger „ganz unten ankommen“ müssten, offensichtlich ohne Hoffnung auf den Feldzug zur Lebensbewältigung und Realitätskontrolle. Erst dann werden wir uns der „höheren Macht“ fügen, die nichts anderes ist, als die Natur selbst, das unkontrollierte Wilde. Dann wird der Krieg gegen den Himmel vorüber sein. Wenn wir uns nicht mehr selbst vom Himmel fernhalten, wird er uns, fast mühelos, von allein wieder an sich ziehen.
Die Notwendigkeit, die fernsten Ecken der Trennung zu erforschen, bringt es mit sich, dass nichts in ihrer langen Geschichte ein Fehler war. Selbst die wissenschaftliche Revolution von Galileo, Newton, Descartes und allen anderen, die unsere gegenwärtige Extrem-Entfremdung vom Universum verursacht haben, war eine Notwendigkeit. Wir mussten sie durchmachen; das war in allem enthalten, was vorausgegangen war. Der einzige Fehler wäre, nicht aus dieser Erfahrung zu lernen.
Auch auf individueller Ebene geht jedem Durchbruch bei unserer spirituellen Entwicklung eine Trennung voran, eine Tiefnacht der Seele, die so vollständig sein kann, dass wir, ähnlich wie Newtons Weltmaschine, nicht nur die Existenz Gottes verneinen, sondern sogar seine Relevanz und die bloße Möglichkeit seiner Existenz. Wenn wir zu unserem wahren Selbst zurückkehren, wieder in Einheit leben, geschieht dies mit größerer Erfahrung und Weisheit. Es ist fast unvermeidlich, dass die meisten unter uns in ihrem Leben eine Glaubenskrise erleben, die religiöser Natur sein kann oder auch nicht. Es ist nicht wichtig, in welcher Religion wir erzogen wurden, denn die Krise wird jede Ordnung, jeden Zweck und Sinn finden und auslöschen, welche wir dem Universum zugeschrieben haben, damit wir in ein neues Verständnis von Bestimmung hineingeboren werden können, welches das alte enthält und ersetzt. Selbst wenn wir zur Religion unserer Kindheit zurückkehren, geschieht dies mit einem völlig neuen Grad des Verständnisses.
Wir halten die Glaubenskrise so erfolgreich in der Schwebe, dass sie oft nicht vor dem hohen Alter zuschlägt, wenn der nahe Tod lange geglaubte Täuschungen durchsichtig macht. Wer mit einer Religion oder nicht-Religion aufgewachsen ist und deren tiefste Fundamente nie völlig in Frage gestellt hat, hat so wenig Grund zur Selbstgefälligkeit, wie eine vorindustrielle Gesellschaft, die erst noch die Verwerfungen des Industrialismus durchmachen muss; nicht weil sie überholt wurde, sondern weil sie noch nicht so weit ist. Entwicklung braucht Erfahrung. Nochmal: Der einzige Fehler wäre, nicht aus Erfahrung zu lernen, sie nicht einzubeziehen, sondern sich an die Einstellungen und Ansichten zu klammern, die sie überhaupt erst erzeugt haben. Es liegt an jedem Einzelnen von uns, ob er die Geburt in ein neues Seinskonzept unterstützt oder diesen Vorgang bis zur letzten Konsequenz bekämpft.
Hoffen wir, dass wir nicht die letzte Konsequenz abwarten; das wäre der völlige Ruin des Lebens und der Welt. Hässlichkeit und Verkehrtheit müssen bis dahin unannehmbar geworden sein. Alles was du zur Verbreitung des Wissens tust, dass das Leben schön und bedeutungsvoll sein soll und alles was du tust, um Menschen davon zu überzeugen, sich nicht mit weniger zufrieden zu geben, wird unsere Toleranz gegenüber Zerstörungen senken und den Ausgangspunkt verbessern, von dem sich unsere süchtige Gesellschaft nach ihrem Fall erheben muss.
Ich glaube, der beste Weg zur Verbreitung dieser Nachricht ist es, sich selbst nicht mit weniger zufrieden zu geben. Ich bin oft von jenen inspiriert worden, die, wie Gandhi anordnete, „sich weigern, an etwas Entwürdigendem teilzunehmen“, oder von jenen, die ihr Leben der Schaffung schöner Dinge widmen, oder von jenen, die völlig auf Pflanzen und Tiere eingestellt sind, oder von jenen, die frei von einer Denkweise leben, ob sie sich etwas leisten können, oder jene, die mit der Kraft ihrer Liebe Menschen zusammenführen; die mühelos und uneingeschränkt freigiebig sind; die mich durchschauen und mich doch lieben, weil sie wissen, dass ich gut bin. Diese Menschen zeigen uns unser Geburtsrecht: wie das Leben sein soll. Wenn wir ihre Freude, Leidenschaft, Liebe, Freigiebigkeit und Kreativität sehen, tolerieren wir kein System und keine Ideologie mehr, die das Gegenteil erzeugen. Das Leben kann besser sein als das hier!
2 Worte des Zeus, in: Hesiod, Werke und Tage.
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