Der Aufstieg der Menschheit von Charles Eisenstein
Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters
Als sich der abgetrennte menschliche Bereich um die Technologien von Feuer und Stein zusammenfügte, wuchs eine andere noch mächtigere Technologie mit den anderen heran – die Technologie des Geistes, die wir Sprache nennen. Bestehend aus Symbolen, die nur willkürlich verbunden sind mit den Objekten, Attributen und Prozessen, die sie benennen, ist die Sprache in der Tat ein abgetrenntes menschliches Reich, eine menschengemachte Landkarte oder Repräsentation der Realität.
Sprache liegt vor jeder Technologie, die die Anhäufung von Wissen und die Koordination menschlicher Aktivität erfordert. Alles, was menschliche Zivilisation je erschaffen hat, von den Pyramiden bis zu Raumstationen, ruht letztendlich auf einem Fundament von Symbolen. Könnte irgendwer ohne Baupläne, Instruktionen, Spezifikationen, Richtlinien, Computerprogramme, Geld, wissenschaftliche Texte, Gesetze, Verträge, Zeitpläne, Datenbasen einen Mikrochip, eine Wasserstoffbombe oder ein Radioteleskop bauen? Könnte irgendwer einen Flughafen oder ein Konzentrationslager betreiben?
Auf Technologie Bezug nehmend fragte ich in der Einleitung: „Kann das Geschenk vom Fluch getrennt werden?“ Wie das obige Beispiel zeigt, könnten wir das gleiche mit Bezug auf Sprache fragen. Sprache ist das Fundament des abgetrennten menschlichen Bereichs, und von Anfang an hat sie sowohl destruktive als auch konstruktive Kräfte hervorgebracht.
Das destruktive Potenzial der Sprache ist in der grundlegenden Natur der Repräsentation enthalten. Wörter, vor allem Nomen, zwingen eine Unendlichkeit einzigartiger Objekte und Prozesse in eine endliche Zahl von Kategorien. Wörter verneinen die Einzigartigkeit eines jeden Moments und einer jeden Erfahrung und reduzieren sie zu „diesem“ und „jenem“. Sie verleihen uns die Macht dazu, die Dinge, die sie benennen, durch Logik zu manipulieren und zu kontrollieren, allerdings zum Preis der Unmittelbarkeit. Etwas geht verloren, die Essenz des Dinges. Indem wir gesonderte Einzeldinge in Kategorien generalisieren, verwischen Wörter die Unterschiede zwischen ihnen. Indem wir beides, A und B, einen Baum nennen und uns selbst auf dieses Etikett konditionieren, werden wir blind für die Unterschiede zwischen A und B. Das Etikett beeinflusst unsere Wahrnehmung der Realität und die Art, wie wir mit ihr interagieren.
Jäger und Sammler, näher an einer Zeit vor den generischen Etiketten, waren Animisten, die an den einzigartig heiligen Geist in jedem einzelnen Tier, jeder Pflanze, jedem Objekt und jeder Handlung glaubten. Ich kann mir eine Zeit vorstellen, da ein Baum nicht ein Baum war, sondern etwas erkennbar Individuelles. Wenn es nur ein Baum ist, einer unter vielen im ganzen Wald von Bäumen, dann ist es keine große Sache, ihn zu fällen. Nichts einzigartiges wird aus der Welt entfernt. Aber wenn wir ihn als einzigartig individuell, heilig und unersetzlich ansehen, dann würden wir ihn nur mit großer Umsichtigkeit fällen. Wir würden, wie viele indigene Völker es tun, meditieren und beten, bevor wir einen Akt solcher Ungeheuerlichkeit ausführen. Es wäre eine Gelegenheit für ein feierliches Ritual. Nur ein sehr würdiger Zweck könnte diese Tat rechtfertigen. Nun aber, da alle diese einzigartigen, göttlichen Wesen bloß in soundsoviele Bäume umgewandelt sind, holzen wir ganze Wälder ab, ohne uns groß Gedanken darum zu machen.
Das gleiche gilt natürlich auch für Menschen. Der distanzierende Effekt der Sprache erleichtert Ausbeutung, Grausamkeit, Mord und Genozid. Wenn das Gegenüber ein bloßes Mitglied einer generischen Kategorie ist, sei es „Kunde“, „Terrorist“ oder „Angestellter“, dann fällt Ausbeutung oder Mord sehr viel leichter. Rassistische Begriffe dienen dem gleichen Zweck: wir nennen es „Entmenschlichung des Opfers“. Damit soll nicht die Abschaffung der Nomen verfochten werden, sondern es soll lediglich die Sinne für ihre realtive Unwirklichkeit schärfen. Immer dann, wenn wir uns in menschengemachten Bereichen der Abstraktion verlieren – Statistiken, Namen von Ländern, Zahlen in Kontobüchern – und glauben, sie seien real, dann sind wir schon auf dem Wege, Gewalt zu verüben.
Als uns noch jedes Gesicht vertraut war, gab es keine Notwendigkeit, „Menschen“ zu generalisieren. Unsere Vorfahren erlebten eine Reichhaltigkeit an Initmität, die wir uns heute, da wir größtenteils unter Fremden leben, kaum mehr vorstellen können. Es ist nicht nur soziale Reichhaltigkeit, die sich unter unseren Worten abschwächt, es ist die Gesamtheit sinnlicher Wahrnehmung. Wie Margaret Mead einmal bemerkte, „Für jene, die im Glauben aufgewachsen sind, blau und grün seien unterschiedliche Farben, fällt selbst die Vorstellung schwer, wie jemand auf diese beiden Farben schauen würde, wären sie nicht voneinander abgegrenzt, oder wie es wäre, über Farben nur hinsichtlich der Intensität und nicht des Farbtons zu denken13.“ Und wenn wir überhaupt keine Wörter für Farben hätten, könnten wir dann nicht die Welt in die zig Millionen Farben getaucht sehen, die das menschliche Auge wahrzunehmen in der Lage ist? Wieviel reicher und lebendiger wäre eine solche Welt, jeder Moment ein Augenschmaus. Vielleicht ist es die wachsende Abstraktion unser selbst von der Welt, zu der die Sprache auch beiträgt, die erklärt, warum „vor fünfzehn Jahren die Menschen 300.000 Geräusche unterscheiden konnten; heute kommen viele Kinder nicht über 100.000 hinaus, und der Durchschnitt liegt bei 180.000. Vor zwanzig Jahren konnte eine durchschnittliche Versuchsperson 350 Nuancen einer bestimmten Farbe erkennen. Heute liegt die Zahl bei 13014.“ Indem wir die Welt benennen, sie abstrahieren und sie reduzieren, machen wir unsere Wahrnehmung von ihr ärmer. Sprache ist die Grundlage und das Modell für die Standardisierung, Generalisierung und Abstraktion, auf die sich die gegenwärtige Wissenschaft und Industrie stützt. In der Wissenschaft ist es die Annahme universeller Gesetze, die ganz allgemein auf ein eigenschaftsloses Trägermaterial basaler Bausteine anwendbar sind. In der Industrie ist es die Standardisierung der Teile und Prozesse. Und der Preis, den wir zahlen, ist ein Verlust der urspünglichen Reichhaltigkeit der Seinsgrundlage.
Gelegentlich hat man das Glück einen flüchtigen Blick auf die Wahrnehmung zu werfen, die noch unverstellt ist von der Sprache und anderen Repräsentationssystemen. Die Welt vibriert mit einem unaussprechlichen Reichtum von Geräusch und Farbe. Sobald wir versuchen diesen Zustand zu erklären, zu interpretieren oder zu verwerten, entfernen wir uns von der unmittelbaren Wirklichkeit und die Erfahrung entschwindet. Die Welt gewohnheitsmäßig aus zweiter Hand über symbolische Repräsentationen zu interpretieren, hält uns die ganze Zeit auf Abstand von der Herrlichkeit der Realität.
Die Erkenntnis, dass die Sprache uns von der Realität entfernen kann, geht schon tausende Jahre zurück, mindestens bis in die Zeit Lao-Tses, der das Tao Te King mit den Worten begann: „Das Tao, das ausgesprochen werden kann, ist nicht das wahre Tao; der Name der genannt werden kann, ist nicht der wahre Name15.“ Der allererste Satz eines der weltgrößten Klassiker spiritueller Schriften ist eine Art Haftungsausschluss, eine Ermahnung über die Unzulänglichkeit der Sprache für die Abbildung der Wahrheit.
Genauso finden wir im Herzsutra, einer der wichtigsten Arbeiten im Buddhistischen Kanon, eine ähnliche Warnung vor der „Leerheit aller Lehren“. Die Wahrheit kann nicht in den Worten der Unterweisungen gefunden werden; es ist ein Fehler anzunehmen, die Worte selbst enthielten die Wahrheit.
Auf der anderen Seite erkannten die Menschen des Altertums aber auch einen kreativen Aspekt der Sprache, der mit ihrer Tendenz zu distanzieren und zu verwässern einhergeht. Es gibt eine mythologische Spur, die in die Richtung einer Ursprünglichen Sprache deutet, einer wahren Sprache, die auf irgendeine Weise die Wirklichkeit nicht symbolisiert und abstrahiert, sondern die selbst Teil der Wirklichkeit war. Vielleicht ist diese Sprache, die von Derrick Jensen als „Sprache älter als Worte“ bezeichnete, verwandt mit den Vokalisationen der wilden Tiere. Diese Sprache haben wir heute fast gänzlich verloren, außer in einigen wenigen überlebenden Ausrufen, die einen ursprünglichen Widerhall in Körper und Psyche haben – Wörter wie „Juhu!“, „Wow!“, „Amen!“, „Aha!“ und „Oh!“. Einige dieser Wörter lassen sich direkt aus dem Sanskrit ableiten. In der Tat gibt es jene, die behaupten, Sanskrit habe einen speziellen Status, indem es näher an der ursprünglichen Sprache der Wirklichkeit sei als jede andere. Wer schon einmal Hindugesänge erlebt hat, kann bezeugen, dass Wörter und Ausdrücke in Sanskrit oft eine emotionale Resonanz erzeugen, die teils von ihrer semantischen Bedeutung sehr verschieden sein kann. Auf Hörer ohne Kenntnisse des Sanskrit wirkt sich das oft stark aus. Wörter wie „Om“, „Ah“, „Ram“ und andere werden nicht betrachtet, als repräsentierten sie das Göttliche, sondern als seinen sie tatsächlich Aspekte des Göttlichen. Dieser Punkt ist im dualistischen Geist nur sehr schwer zu begreifen.
Die gleiche Resonanz findet sich in anderen alten Sprachen. Im Taoismus wie im Hinduismus sind bestimmte Laute mit psychospiritueller Kraft aufgeladen, die sich von ihrer semantischen Bedeutung unterscheidet16. Die korrekte Betonung dieser Worte wird in bestimmten Chi Gong Übungen als sehr wichtig angesehen. Es ist nicht genug, ihre Bedeutung zu kennen, wenn die Laute im konventionellen Sinne überhaupt eine Bedeutung haben. So wie bei „Jippie!“ oder „Wow!“ ist der Laut die Bedeutung. Im Judaismus nimmt man ebenso an, dass die heilige Kraft bestimmter Wörter aus ihrem Klang entsteht. Sie bloß zu hören, auch wenn man ihre Bedeutung nicht versteht, sei genug, so wird behauptet, um psychische Veränderungen im Hörer zu bewirken.
Ähnliche Aussagen wurden auch für indigene Sprachen Nordamerikas getroffen. Joseph Epes Brown stellte fest, „Es gibt unter allen eingeborenen amerikanischen und Inuitsprachen eine Mischung reichhaltiger verbaler und nonverbaler Ausdrücke17.“ Das heißt, die Unterscheidung zwischen Laut und Wort ist nicht so klar abzugrenzen wie in modernen Sprachen. Darüber hinaus „sind gesprochene Worte oder Namen nicht symbolisch oder dualistisch zu verstehen, wie etwa im Deutschen. (...) Eine solche Abtrennung [zwischen Laut und Bedeutung] ist in den indianischen Sprachen, in denen eine mysteriöse Einheit zwischen Laut und Bedeutung besteht, nicht möglich18.“ Weil sie nicht bloß Etiketten sind, bilden Namen oder Hauptwörter in einer solchen Sprache einen wesentlichen und untrennbaren Aspekt des Benannten: „Ein Wesen zu benennen oder irgendeinen Aspekt oder eine Funktion der Schöpfung, verwirklicht die Realität19.“
Traditionelle Ureinwohner Amerikas verwenden deshalb die echten Namen der Dinge nur mit großer Umsicht, da beispielsweise der Name Bär tatsächlich seine Anwesenheit beschwört. Die kreative Kraft der Sprache ist für den dualistisch ausgerichteten Geist wieder schwer zu verstehen – nur über etwas zu reden, wird doch nichts tatsächlich verändern, oder? – aber wir können verkümmerte Spuren eines solchen Verständnisses von bestimmten „Aberglauben“ sehen, die bis auf den heutigen Tag überlebt haben. Die chinesische Kultur hat sehr starke Tabus, die das Reden über finstere Möglichkeiten betreffen, um diese nicht in die Wirklichkeit zu bringen. Selbst in westlichen Kulturen klopfen wir in solchen Situationen noch auf Holz.
Dass Worte keine willkürlichen Etiketten für eine objektive Realität sind, sondern dass sie eine schöpferische Kraft haben, findet Widerhall in der hinduistischen Verbindung bestimmter Laute mit göttlichen Mächten, der biblischen Gleichsetzung von Wort und Gott als auch der fast universellen Gleichsetzung von Atem und Geist20. Doch was ist ein Wort anderes als eine spezielle Art von Atem? Wort ist beabsichtigter Atem, ein bedeutungstragender Atem, ein schöpferischer Atem, weil er Bedeutung in eine Welt einflößt, die andernfalls einfach ist. Aus dem Rohmaterial der Natur sprechen wir einen menschlichen Bereich in seine Existenz, so wie Gott im Buch der Genesis die materielle Welt in ihre Existenz sprach. Wie Gott, nach dessen Ebenbild wir, wie es dort heisst, geschaffen wären, sprechen wir Welten in ihre Existenz.
Warum dann erscheint die heutige Sprache so ohmächtig, so unwirksam? Warum ist Reden heute nur noch Silber? Was ist aus der Originalsprache mit all ihrer Schöpfungskraft geworden? Wie konnte der schöpferische Atem in dieses allumgebende Netz von Lügen degenerieren, in dem wir uns heute befinden?
Am Anfang gab es keine Wörter, wie wir sie heute kennen, keine referenziellen Laute, nur die Vokalisationen des menschlichen Tiers. Wie war diese Originalsprache? Darauf können wir in der Tat heute noch zugreifen. Da sie nicht konventionell sondern Teil der Wirklichkeit ist, kann die Originalsprache niemals unwiederbringlich verloren gehen, sie kann nur vorübergehend vergessen werden. Sie ist tief in uns allen verborgen, immer bereit hervorzutreten, sobald wir die Hemmnisse der Zivilisation abstreifen. Eine solche Gelegenheit ist natürlich die körperliche Liebe. Die Vokalisationen des leidenschaftlichen sexuellen Loslassens sind nichts anderes als die Erinnerung der Originalsprache. Diese Äußerungen haben keine Bedeutung in Sinne gewöhnlicher Worte, doch können sie genauso wenig als bedeutungslos angesehen werden; sie sind sehr viel ehrlichere und intimere Träger von Kommunikation, als jeder semantische Austausch. Taoistische und Tantrische Traditionen haben diese Lautäußerungen offenbar studiert, allerdings kenne ich kaum mehr als beiläufige Referenzen und oberflächliche Beschreibungen in der verfügbaren Literatur. Jedoch hat der zeitgenössische Psychologe Jack Johnston ein wirkungsvolles System sexueller Heilung durch höherwertige Orgasmen entwickelt, die einen Schlüssellaut verwenden, der schwer zu transkribieren ist, der aber ungefähr so geht: ahhh-ahhh mit einer rollenden Qualität im Mittelteil. Bezeichnenderweise entdeckte Johnston diesen Laut durch „intuitive Suche“; er hat ihn nicht erfunden, sondern hat eine verborgene, dem Menschsein innewohnende Fähigkeit ans Licht gebracht.21 Dies ist ein perfektes Beispiel für eine Technologie oder eine Anti-Technologie des Zeitalters der Wiedervereinigung, die nicht auf Kontrolle oder Trennung aufbaut.
Jede intensive emotionale Erfahrung kann ebenfalls Äußerungen der Originalsprache hervorbringen – spontane Vokalisationen der Ekstase, Wehklage, Freude, Angst, Wut und so weiter, als auch die vielfältigen Laute der Säuglinge. Sie kommen hervor, wenn Worte einfach ungenügend sind, um uns auszudrücken und wenn unsere Gefühle die kulturellen Hemmungen übermannen; das heißt, wenn wir außer uns geraten. Es sind keine richtigen Worte, es sind Laute, Schreie, die Rufe des menschlichen Tiers. Sie beziehen ihre Bedeutung weder aus einer Grammatik, noch sind sie Konventionen unterworfen.
Auch ist die Originalsprache noch nicht ganz aus der gewöhnlichen Sprache verschwunden; sie durchzieht die moderne Sprache und man könnte sie die Stimme hinter den Worten nennen. In seiner wissenschaftlichen Arbeit: „Sprachen innerhalb von Sprachen: Ein evolutionärer Ansatz“ hat der Linguist Ivan Fonagy sogar versucht, diese zu beschreiben. Fonagy hat einen statistischen Ansatz entwickelt, der eine Korrespondenz über einzelne Sprachen hinweg zwischen Lauten und Bedeutung demonstriert. So fand er beispielsweise, dass sowohl im Englischen, Französischen als auch Ungarischen Vorderzungenvokale bei Worten für Konzepte wie Licht, leicht, oberhalb, heiter und hübsch mehr vorherrschen als bei gegenteiligen Konzepten. Weiche Konsonanten finden wir vorwiegend in Wörtern wie Liebe, weich, mild, schön, während harte Konsonanten eher in Wörtern wie Hass, hart, stark, hässlich finden. Die individuelle Aussprache ist zwar davon unabhängig, aber in diesen statistischen Gemeinsamkeiten können wir eine Art der vorsprachlichen vokalen Kommunikation erahnen. Er katalogisiert auch eine Vielzahl von Verwendungen der artikulatorischen Organe beim Ausdruck verschiedener Emotionen gemeinsam über mehrere Sprachen hinweg: die Lippen sind vorgestülpt und abgerundet bei der Äußerung von Zuneigung; die Zunge ist zurückgezogen beim Ausdruck von Hass und Wut, was auch durch einen zusammengezogenen Rachen und reduzierte akustische Intensität verglichen zum expiratorischen Aufwand charakterisiert ist.22
Die semantischen Bedeutungen unserer Wörter verschleiern den Tonfall, der unseren tatsächlichen Zustand vermittelt, und wir haben gelernt, auf die Worte und nicht auf die Stimme zu hören. Aber ein Teil von uns, der tief verwurzelte, urtümliche und meistens unterbewusste Teil stellt sich immer noch auf die Stimme ein, die oft sehr viel ehrlicher vermittelt, als dies Worte können. Das einfachste Beispiel finden wir bei gefühlsmäßigen Ausrufen. Fonagy stellt fest: „Die von emotiven Phonemen erzielte Wirkung kann ihrer Fremdartigkeit zugeschrieben werden, da sie phonemische Regeln verletzen. Ich würde allerdings vermuten, ihre Wirkung sei in der Tatsache begründet, dass diese Lautgesten nicht entwertet sind, sie entgehen der generellen Regel der Beliebigkeit; deshalb können sie frei genossen werden. Darüber hinaus sind sie bedeutungsvoll, verbunden durch natürliche (mehr oder weniger enge) Verbindungen zu realen (nicht verbalen) physikalischen oder mentalen Phänomenen.23“ Wir täuschen uns selbst, wenn wir annehmen, dass die Hauptwirkung des Sprechens in den Worten liegt (im Gegensatz zur Stimme), so wie wir uns täuschen, wenn wir für unsere Entscheidungen logische Gründe anführen, welche in Wahrheit Rationalisierungen oder Rechtfertigungen sind. Diese Verbindung zwischen Logik und Sprache kommt in der griechischen Wurzel logos zum Ausdruck, was Logik, Gesetz und Sprache bedeutet, etwas, das von außen auferlegt wird, im Gegensatz zur Stimme, die aus dem Innern kommt und tatsächlich eine Form des Atems ist, d.h. des Geistes.
Wie Logik, Gesetz und Technologie ist die Kontrolle, die der Sprache innewohnt, eine Fassade. Sorgsam etikettieren und kategorisieren wir die ganze Welt und hoffen ihr dadurch, Ordnung aufzuzwingen, die Wildnis zu zähmen, jedoch täuschen wir uns selbst, wenn wir denken, dass die Wildnis unsere Grenzlinien mehr respektieren würde, als ein Eichhörnchen das „Eintritt verboten“-Schild. Bis heute teilt uns die Stimme mehr mit als die Sprache.
Diese Originalsprache war Gegenstand einer fehlgeleiteten Suche von Philosophen und Linguistiken aus dem Zeitalter der Vernunft, die sie lingua adamica nannten. Unfähig über Sprache als System von Symbolen hinaus zu sehen, suchten Leibniz und andere die Sprache wiederzuerfinden, die perfekt mit der Wirklichkeit übereinstimmt, in welcher Wahrheit sich durch Grammatik ergründen lässt. Ihr Programm scheiterte naturgemäß kläglich, weil sie nicht verstanden, dass die Originalsprache ein nicht-referenzielles und nicht ein perfekt referenzielles System war. Dennoch setzt sich Leibniz’ Programm fort in einer immer genaueren Etikettierung der Welt in Wissenschaftsjargon und Fachbegriffen. Es ist eine andere Version des Turms von Babel, ein menschengemachtes Gebäude, dass versucht, es mit der Unendlichkeit der Welt aufzunehmen.
Ivan Fonagy verdeutlicht die Projektion der Annahmen unserer Seinslehre auf die primitiven Sprachen mit der folgenden Beobachtung: „Die weitreichenden Parallelen in unabhängigen Sprachen beim Ausdruck von Emotionen auf allen Ebenen der Lauterzeugung zeigen ganz klar, dass die grundlegenden Tendenzen, die in gefühlsmäßigem vokalen Verhalten auftauchen, nicht sprachenspezifisch sind. Sie scheinen von paralinguistischen, semiotischen Systemen beherrscht zu werden.“ [Hervorhebung aus dem Original]
Fonagy akzeptiert die konventionelle dualistische Interpretation von Sprache mit der Annahme, dass diese Gemeinsamkeiten über Sprachen hinweg ein System von Zeichen umfasst, welches parallel zu den üblichen semantischen Zeichen der Einzelsprachen existiert. Aber möglicherweise handelt es sich bei dem, was Fonagy als „natürliche Sprachen“ bezeichnet, überhaupt nicht um semiotische Systeme. Er interpretiert beispielsweise die krampfartigen Zungenbewegungen der Wut und des Hasses als Teil eines anderen Zeichensystems, das gemeinsam mit der Semantik der Wörter, die dabei artikuliert werden, die Wut repräsentieren. Allerdings sind diese Ausdrücke in Wahrheit überhaupt keine „Repräsentationen“, sie repräsentieren nicht die Wut, sondern sie sind die Wut. Sie sind Teil des körperlichen Zustandes, der ebenfalls Hormonausschüttungen, Gefäßverengung, erhöhte Herz- und Atemfrequenz und so weiter einschließt. Anders als die aus Zeichen bestehenden Sprachen trennen uns diese Vokalisationen nicht von den ausgedrückten Emotionen. Oder wie Thoreau es formulierte: „Viele weinen besser als sie sprechen, und du kannst mehr Natur aus ihnen bekommen, indem du sie kneifst, anstatt sie anzureden.24“
John Zerzan schreibt: „Sobald ein Mensch sprach, war er oder sie abgetrennt. Dieser Bruch ist der Moment der Auflösung der ursprünglichen Einheit zwischen Mensch und Natur.“ Er legt einen katastrophalen Moment der Trennung nahe, einen groben Fehler, einen Fall. Doch wir haben immer schon vokalisiert, so wie die meisten Säugetiere, Vögel und selbst Reptilien und Insekten; und es wäre in der Tat arrogant anzunehmen, dass diese Tierlaute bar jeder Bedeutung wären. Es gibt Geschichten über indianische Fährtenleser, deren Fähigkeit zur Interpretation von Tierlauten ans Magische grenzen, und es gibt Legenden in einer jeden Kultur, die den Ahnen die Fähigkeit zuschreiben, mit Tieren sprechen zu können.
Mit zunehmender Trennung des menschlichen Bereichs von der Natur wurde das ursprüngliche Vokabular menschlicher Äußerungen unzureichend. Neue Objekte, neue Unterscheidungen und neue Prozesse entstanden, wie auch neu gegründete objektive Beziehungen zur Natur. Langsam und allmählich begleitete die Sprache das Sein in einen sich ausweitenden Dualismus: Selbst und Anderes, Mensch und Natur, Name und Ding.
Der Aufstieg der Menschheit ist ein Abstieg zu einer Sprache konventioneller Symbole, zu Repräsentationen von Wirklichkeit statt ihrer integralen vokalen Dimensionen. Diese allmähliche Entfernung, in welcher und durch welche Sprache eine vermittelnde Funktion annahm, ging Hand in Hand mit, trug bei zur und resultierte aus der generellen Trennung von Mensch und Natur. Es ist das unterschiedene und abgetrennte Selbst, welches danach strebt, den Dingen der Natur Namen zu geben oder welches überhaupt erst auf eine solche Idee kommen kann. Zu benennen heißt zu dominieren, zu kategorisieren, unterzuordnen und im wahrsten Sinne des Wortes zu objektivieren. Es ist nicht verwunderlich, dass Adam im Buch Genesis zuerst seine gottgegebene Herrschaft über die Tiere ausübt, indem er ihnen Namen gibt. Vor der Konzeption des Selbst, welches die Herrschaft ermöglichte, gab es keine Benennung – keine der ursprünglichen Vokalisationen waren Nomen.
Faszinierenderweise waren alte Sprachen viel weniger dominiert durch Nomen als moderne Sprachen: von der altertümlichen nomenlosen Originalsprache, so wird behauptet, hätte sich der Anteil der Verben in der Steinzeit auf die Hälfte aller Wörter verringert, um im modernen Englisch schließlich auf etwa zehn Prozent zu sinken25. Der Trend hält bis heute an mit der vermehrten Verwendung der passiven oder intransitiven Formen der Verben, die die Wirklichkeit objektivieren und abstrahieren, indem sie in letztlich sagen, A ist B. Die Sprache hat sich in Richtung eines unendlichen Regresses von Symbolen entwickelt, Wörter werden definiert durch wiederum andere Wörter. Interessanterweise fehlt anscheinend einigen Eingeborenensprachen ein Wort für „ist“, wie der Schamane Martin Prechtel für mindestens zwei indianische Sprachen behauptet26. Ich habe auch bemerkt, dass Taiwanesisch, ein altertümlicher fest in einer präindustriellen Gesellschaft verwurzelter chinesischer Dialekt, eine erstaunliche Vielfalt beschreibender Handlungswörter aufweist, die im modernen Mandarin oder Englisch nicht mehr existieren oder verschwunden sind. Im Englischen zeigt sich dieselbe Tendenz als eine allmähliche Ersetzung des einfachen Präsenz durch die Verlaufsform („I am walking“ statt „I walk“ [„ich bin gehend“ und „ich gehe“, Anm. d. Übers.]).
Einige moderne Denker haben versucht, diesen Trend umzukehren. Alfred Korzybski verwendet in seinem monumentalen Werk „Science and Sanity“ über tausend Seiten, uns für unseren unverantwortlichen Gebrauch des „ist“ im Sinne der Identität zu ermahnen, welcher Dinge auf andere Dinge reduziert und damit eine neue „nicht-Aristotelische“ Denkweise praktiziert. Ihm war offensichtlich unklar, dass zahlreiche Mystiker, wie etwa Lao Tse, ihn mit dieser Einsicht um tausende von Jahren zuvor gekommen sind. Nichtsdestoweniger war Korzybski seiner Zeit in den 1920ern weit voraus und half, eine Bewegung namens Neurolinguistische Programmierung ins Leben zu rufen, die versucht, geistige Gesundheit durch neue Sprachmuster herbeizuführen. In jüngerer Zeit hat der Physiker und Weise David Bohm eine neue Art der Sprache vorgeschlagen, die er Rheo-Modus nennt und die darauf abzielt, die schwindende Verbform zurückzugewinnen und dadurch ein Verständnis des Universums im Sinne eines Prozesses statt einer Sache zu pflegen. „Der Rheo-Modus“ ist das erste Kapitel seines Buches „Die implizite Ordnung. Grundlagen eines dynamischen Holismus“, in welchem Bohm seine Interpretation der Quantenphysik vorzustellen versucht. Man kann ihn so verstehen, dass er nahelegt, der Rheo-Modus sei die einzige Art zu sprechen, die vereinbar ist mit der wahren Natur physikalischer Realität, welche ein fundamental vereinigtes und verbundenes Ganzes ist. Nach Bohms Sichtweise ist die künstliche Unterteilung der Welt in Subjekt und Objekt im Grunde inkohärent. Ich bin kein getrenntes Ich, Ich bin das Universum, das „Charles-t“ (wer mag, kann hier seinen eigenen Namen einsetzen und den Klang genießen; Anm. d. Übers.).
Wir werden vielleicht nie erfahren, wann der Abstieg in eine referenzielle Sprache begann. Indem sie anatomische Hinweise heranziehen wie etwa das Zungenbein, die verlängerte Brustwirbelsäule und den vergrößerten Durchgang, um den Nervus hypoglossus zur Zunge aufzunehmen, datieren Paläontologen den Ursprung der Sprache mindestens in die Zeit der Neanderthaler, wenn nicht sogar bis in die Zeit des Homo erectus oder gar früher27. Dies steht im Widerspruch zu den Ansichten von Theoretikern wie Noam Chomsky, Stephen Pinker und Julian Jaynes, die den Zeitpunkt viel später in der Jungsteinzeit vor 30.000-50.000 Jahren ansiedeln. Ihre Sicht fußt auf der Verbindung von Sprache und kognitiver Entwicklung, die sich durch gleichzeitige Entwicklungen in der Technologie, der Kunst und so weiter ablesen lässt. Beide Lager sehen die Sprache allerdings als „symbolisch kodiertes Lexikon und Syntax28“ an; das heißt, ein referenzielles System.
In dieser Hinsicht können wir fragen, was gab es denn in Steinzeitgesellschaften zu bereden? Einige Wissenschaftler schlagen vor, dass Sprache notwendig war, um die über zweihundert verschiedenen Behauungstechniken für steinzeitliche Klingen weiterzugeben, obwohl solche Fertigkeiten besser durch Beobachtung und Nachahmung und nicht durch Beschreibung gelernt werden können. Andere wieder behaupten, dass die Jagd, die erst nach der Entwicklung von Waffen begann, Sprache erfordert, um die Bemühungen der Jäger zu koordinieren. Aber auch dort nützt die Stille dem menschlichen Jäger mehr als das Sprechen; und nebenbei scheinen Wölfe und andere Rudeljäger sehr gut ohne Sprache auszukommen. Aber wir wollen nicht in die Falle laufen, alles auf der Grundlage erklären zu wollen, wie etwas die Überlebenschancen erhöht. Mag es andere Gründe für die Sprache in der Zeit der Jäger und Sammler gegeben haben?
Könnte es sein, dass das Sprechen nicht aus reiner Notwendigkeit entstand? Eine wichtige und althergebrachte Funktion des Sprechens ist das Spiel, das Scherzen und das Geschichtenerzählen. Vielleicht waren dies die Ursprünge der Sprache. Vielleicht wuchs ihre Funktion als Instrument der Abtrennung allmählich im Gleichschritt mit anderen entfremdenden Entwicklungen in der Kultur und Technologie.
Bis in die jüngste Vergangenheit lebten Menschen in Familienhorden von gewöhnlich etwa zwanzig Mitgliedern, die lose mit einen Stamm von vielleicht ein paar Hundert verbunden waren. Offen zur Natur und zueinander kannten sie einander sehr viel intimer, als wir es uns heute vorstellen können. Das Sprechen war eigentlich überflüssig, so wie es oft zwischen Liebenden oder zwischen Mutter und Kind der Fall ist. Wenn wir jemanden dermaßen gut kennen, wissen wir ohne zu fragen, was sie denken und fühlen. Dies gilt umso mehr für die vorsprachlichen Zeiten, als unsere mitfühlenden Fähigkeiten noch nicht durch den vermittelnden Sprachapparat verstellt waren. Verbringe einmal einige Zeit in Stille allein mit einer Person oder einer kleinen Gruppe und beobachte, ob du dich mit ihnen nach nur ein paar Tagen oder gar Stunden intimer verbunden fühlst, als wenn du mit ihnen gesprochen hättest. Die Empathie und das intuitive Verstehen anderer, das sich in solchen Umständen entwickelt, ist erstaunlich29.
Wir können daher annehmen, dass Sprache nur dann notwendig wird, wenn andere Formen der Trennung beginnen, unsere intuitiven Anbindungen abzutöten und gleichzeitig eine komplexere Koordination menschlicher Aktivität zu erfordern. Speziell relevant ist die Arbeitsteilung, die ihren Anfang in der späten Steinzeit hatte; diese brachte „eine Standardisierung der Dinge und Ereignisse und die effektive Macht von Spezialisten über andere. ... Die Arbeitsteilung erfordert eine relative komplexe Kontrolle von handelnden Gruppen; in letzter Konsequenz muss die gesamte Gemeinschaft organisiert und geleitet werden30.“ Standardisierung der Dinge geht naturgemäß Hand in Hand mit ihrer Abstraktion und Benennung. Sie ist unzertrennlich verbunden mit dem abgetrennten menschlichen Bereich, der aus der Technologie im Allgemeinen erwuchs; sie entsteht aus dieser Trennung und verstärkt sie wiederum. Sprache kann nicht in Isolation betrachtet werden von all den anderen Elementen der Trennung, die ich in diesem Kapitel beschrieben habe, sondern nur als Teil eines enormen, umfassenden Musters.
Gesprochene Sprache war nur der Anfang dieser Aufteilung. Die Stimme lebt unweigerlich fort in gesprochenen Worten, allerdings umso verdeckter, je kontrollierter und verfeinerter die Sprache ist. Die Erfindung der Schrift war deshalb ein weiterer großer Schritt weg von der Originalsprache und hin zur vollständigen Ersetzung direkter Kommunikation durch willkürliche, abstrakte Symbole. Die Scheidung zwischen geschriebenen Worten und Objekten und Prozessen geschah allmählich, beginnend mit den ersten referenziellen Hieroglyphen bis zu den immer abstrakteren Formen und schließlich zum Alphabet, welchens überhaupt nicht mehr referenziell ist. Alphabete veränderten unsere Art des Denkens in subtiler aber weitreichender Weise. „Das Alphabet kodifiziert Natur als etwas Abstraktes, um es zu zerteilen und unpersönlich zu kontrollieren31.“ Anders als ein Piktogramm kann ein alphabetisches Wort durch Analyse erschlossen werden, indem man es in Teile zerlegt; Piktogramme beziehen ihre Bedeutung durch einen Bezug zur realen Welt. Alphabete ermutigen daher zu einer atomistischen Auffassung von Bedeutung und damit schließlich vom Universum.
In der Schrift ist die Stimme nicht mehr vorhanden und ersetzt durch die scheinbare Objektivität von Tinte und Papier, abgetrennt von einem fassbaren Sprecher. Geschriebene Wörter existieren als unabhängige Wesenheiten für sich selbst und sind nicht länger an einen bestimmten Hörer gerichtet. Geschriebene Wörter nähren die Illusion, sie hätten objektive, nicht vom Zustand des Sprechers oder Hörers abhängige Bedeutungen, sie sind Definitionen. Die scheinbare Objektivität geschriebener Wörter erklärt, warum Menschen dazu neigen, dem Geschriebenen mehr zu glauben als dem Gehörten. Das geschriebene Wort scheint mehr Autorität zu haben. Wörterbücher, ein vergleichsweise junges Phänomen – die ersten bedeutsamen westlichen Wörterbücher wurden im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert zusammengestellt32 – haben die Illusion, Wörter hätten feste, objektive Bedeutungen außerhalb der Interaktion zwischen Sprecher und Hörer, weiter verfestigt. Im gleichen Sinne konkretisieren Bücher im allgemeinen den Glauben, Wissen fände man außerhalb des Individuums. Analphabetische Gesellschaften wären sicherlich bemühter, es innerhalb zu suchen.
Der Druck und die elektronischen Medien führen die Scheidung zwischen Bedeutung und Sprecher noch zu einem weiteren Extrem, denn wo handgeschriebenen Wörtern die Stimme fehlt, haben sie immerhin eine Hand. Jede Handschrift ist einzigartig und sagt dem aufmerksamen Beobachter etwas über den emotionalen und spirituellen Zustand des Schreibers. Druckbuchstaben ersetzen diese Handschrift durch eine massenproduzierte Schrift und lassen wenig Raum, um die Originalsprache hereinzulassen. Und doch geschieht es oft, es ist nicht zu unterdrücken, dass hinter der reinen Bedeutung liegende Eigenheiten des Stils durchscheinen, auf denen wir einer unbewussten Weisheit folgend bestehen; im englischen nennt man es „des Schreibers Stimme“. Wir können deshalb die Standardisierung der Grammatik und des Sprachgebrauchs, den Abstieg in Jargon und formelhafte Verlautbarungen und die generelle Abstumpfung öffentlicher Rede, wie etwa Geschäftspost oder politische Pressemitteilungen, als die letzte Stufe der Abstreifung der Stimme von der Sprache betrachten. Das Ziel scheint zu sein, vorzugeben, Wörter hätten überhaupt keinen menschlichen Autoren mehr, als existierten sie als rein objektive Fakten. Tatsächlich wird der Gebrauch der ersten Person in wissenschaftlichen Schriften als schlechter Stil angesehen – eine Konvention, die der Autor der vorliegenden Arbeit lächerlich findet!
Wörter, die in einem System abstrakter Repräsentationen durch wieder andere Wörter definiert sind, setzen uns aus in einer künstlichen, menschengemachten, gezähmten und endlichen Welt und machen uns anfällig für die Illusion, dass wir die Wirklichkeit auf die gleiche Weise manipulieren und kontrollieren können, wie unsere symbolischen Repräsentationen von ihr. Aber weil die Landkarte notwendigerweise eine unvollständige und verzerrte Version des Kartografierten ist, erzeugen unsere auf dieser Karte basierenden Manipulationen unweigerlich eine Vielfalt unvorhergesehener Resultate: die unbeabsichtigten Konsequenzen der Technologie. Wenn wir Wörter als Realität verkennen oder selbst wenn wir annehmen, es existiere eine lineare, vollständige eins-zu-eins Beziehung zwischen Symbol und Realität, nehmen die Symbole einen verdinglichten, objektiven Status an, der sie mit einer unangebrachten Autorität auflädt (vor allem dann, wenn sie geschrieben stehen und damit von einem bestimmten Sprecher getrennt sind). Die zunehmende Verwendung von Passivkonstruktionen verstärkt diese Tendenz. Der Sprecher verschwindet; Prozesse werden Dinge, Werden wird Sein, unpersönliche Kräfte wirken auf träge Objekte. Die Parallele zur klassischen Physik sticht ins Auge. Die Auffassung, Wörter hätten objektive Bedeutungen, unabhängig von Sprecher und Zuhörer, Leser und Schreiber, ist vollkommen verträglich mit dem Universum Newtons und Descartes’ eines unabhängig existierenden „Objekts“, das eine Realität besitzt unabhängig vom Beobachter. John Zerzan formuliert es folgendermaßen: „Wie die Ideologie erzeugt die Sprache eine fälschliche Trennung und Objektivierung durch seine symbolische Kraft. Diese Verfälschung wird möglich, indem die Teilhabe des Subjekts in der physischen Welt verborgen und letztendlich verdorben wird33.“ Die Welt wird ein Objekt.
Der Trugschluss objektiver Bedeutung ist weithin anerkannt, von Lao Tse bis hin zu den postmodernen Dekonstruktivisten; Thoreau sagte: „Es braucht zwei, um die Wahrheit zu sprechen: einen, der redet und einen anderen, der hört34.“ Allerdings hat dieser Trugschluss erst in jüngster Zeit in das allgemeine Bewusstsein Eingang gefunden, und er hat damit zu einem allgemeinen Zusammenbruch linguistischer Bedeutungen geführt. Mehr und mehr bedeuten Wörter nichts mehr. In der Politik können Kandidaten immer häufiger durchkommen mit Worten, die rundheraus durch ihre Taten und Politik widerlegt werden, und niemand scheint sich darüber zu beschweren oder sich überhaupt darum zu kümmern. Es ist nicht die gewohnheitsmäßige Heuchelei politischer Figuren, die so ins Auge sticht, sondern vielmehr unser fast vollständiges Desinteresse darüber. Genauso sind wir fast vollständig immun gegenüber der Leere von Werbung, deren Worte dem Leser zunehmend überhaupt nichts mehr bedeuten. Glaubt eigentlich irgendwer wirklich, „General Electric bringt gute Dinge ins Leben“, oder dass die Neubausiedlung „Walnusskreuzung“, an der ich neulich vorbeikam, tatsächlich Walnussbäume oder irgendwelche Kreuzungen hat? Von Markennamen über PR-Slogans zu politischen Phrasen besteht die Sprache der Medien, die das moderne Leben überflutet, fast vollständig aus subtilen Lügen, Irreführungen und Manipulation. Kein Wunder, wir dürsten so sehr nach „Authenzität“.
Die Menschen überall sprechen von Sinnsuche und erkennen an, dass er nicht in Wörtern zu finden ist. Vielleicht liegt hierin der Grund für den verblüffenden Niedergang der amerikanischen Alphabetisierung in den letzten fünfzig Jahren. Was typischerweise als Versagen des Bildungssystems und ein Symptom sozialen Zusammenbruchs angesehen wird, könnte zumindestens teilweise eine Form der Rebellion sein. Die Frustration mit der Sprache könnte ebenso der Grund dafür sein, dass wir die oft geschmähten Redewendungen „irgendwie“ und „weißt du“ in der Jugendsprache immer häufiger hören. Eine etwas wohlwollendere Sicht wäre, dass wir durch den Gebrauch des „irgendwie“ die falsche Gleichsetzung, die im „A ist B“ mitschwingt, ablehnen. Was das „weißt du“ anbelangt, könnte es sich womöglich um den Versuch handeln, nach einer intuitiveren Art der Kommunikation zu streben. Selbst wenn der Hörer die Bedeutung der Worte nicht verstehen mag, wenn er oder sie der dahinter stehenden Stimme lauscht, so wird es wohl schon verstanden.
Ein weiteres Symptom des Zusammenbruchs semantischer Bedeutung ist der gewohnheitsmäßige Gebrauch von Wörtern, wie „supergeil“, „wahnsinn“ und „unglaublich“, um etwas zu beschreiben, dass eigentlich trivial, langweilig und gewöhnlich ist. Uns fehlen die Worte oder den Worten fehlt die Bedeutung, und das zwingt uns dazu, immer übertriebenere Redewendungen einzusetzen, um überhaupt kommunizieren zu können.
Wie all unsere anderen Technologien funktioniert die Sprache nicht mehr so gut. Sie konnte das Versprechen, das seinen Widerhall im Technologischen Programm der Naturkontrolle findet, ein völlig rationales, objektives, logisches System von Repräsentationen zu liefern, dessen konsequenter Gebrauch uns präzises Wissen über die Wirklichkeit bringt, nicht einlösen. Wie jede technologische Lösung immer irgendeine Variable versäumt, die dann unerwartete Resultate und neue Probleme erschafft, so ist auch jede Sprache, jedes System von Zeichen eine Verzerrung der Wirklichkeit, übersäht mit blinden Flecken, die unweigerlich zu Fehlern und Missverständnissen führen. Der Versuch, die Welt zu kontrollieren ist sinnlos. Zu lange schon haben wir versucht, die Konsequenzen verfehlter Kontrolle durch noch mehr Kontrolle, noch mehr technologische Lösungen zu beheben; in der Sprache äußert sich dies durch mehr Strenge, mehr Definitionen, mehr Namen, eine immer feinere Kategorisierung der Wirklichkeit. In unserer Epoche werden wir schließlich Zeugen des Kollaps des Technologischen Programms der Sprache.
Die wachsende Offensichtlichkeit der Korruption von Sprache ist ein Glück im Unglück, macht es doch die Authenzität non-verbaler Kommunikationsarten, die auf unmittelbarer Erfahrung statt auf Repräsentationen beruhen, umso klarer. Diese Kommunikationsarten erfordern im Gegensatz zur Distanzierung, die die Abstraktion, die Benennung und die Symbolisierung des Universums mit sich bringt, dass wir die Barrieren zwischen Selbst und Welt aufgeben. Wenn wir in die Augen des oder der Geliebten schauen, geschieht die authentischste Kommunikation, wenn beide Menschen ihre Masken und Vorspiegelungen fallen lassen, aufhören, sich irgendwelche Aussagen auszudenken und sich einfach einander zu öffnen. Wenn wir schließlich die enorme Anstrengung aufgeben, uns getrennt von anderen und der Welt zu halten, werden Wörter immer weniger notwendig werden.
Immer weniger notwendig, aber nicht nutzlos. Die Entwicklung der Sprache war kein Fehler, kein Urpatzer, sondern wie die Technologie eine allmähliche und unvermeidliche Evolution ausgehend von den tierischen Ursprüngen. Der Abstieg in die Repräsentation war vorherbestimmt. Wenn dem so ist, dann lasst uns doch betrachten, ob sie vielleicht eine Bestimmung außerhalb ihrer Funktion als Instrument der Trennung bergen könnte. Was wäre der Zweck der Sprache in einer geheilten Welt? Er wäre, was er immer war – das Geschichtenerzählen. Das ist beileibe keine triviale Funktion. Unsere gesamte Zivilisation ist auf einer Geschichte aufgebaut, einer Geschichte vom Selbst. Das abgetrennte Reich der Menschen ist in Wahrheit nicht abgetrennt – sieh dir doch an, wie es die Welt verändert hat! In der Zukunft werden wir die welterschaffende Kraft des Wortes bewusst handhaben, um eine neue Geschichte zu erzählen und damit eine bewusst kreative Phase menschlicher Entwicklung einläuten.
13 Margaret Mead, Mann und Weib. Das Verhältnis der Geschlechter in einer sich wandelnden Welt. Stuttgard: Diana Verlag, 1955.
14 Joseph Chilton Pearce. Biologie der Transzendenz, Arbor-Verlag, 2004. Pearce sieht die Hauptschuld für diesen Rückgang beim Fernsehen, einem weiteren sehr wahrscheinlichen Übeltäter.
15 Üblicherweise wird das Wort „wahr“ im Deutschen mit „ewig“ wiedergegeben. Allerdings hat das chinesische Wort „chang“ eine sehr vielschichtige Bedeutung mit Konnotationen der Permanenz, des langen Fortbestandes und damit von reellem oder wahrem.
16 Diese Laute werden in einigen der frühesten Werke zum Chi Gong erwähnt, bis hin zum „Spiel der fünf Tiere“ aus dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert. Sie werden auch heute noch praktiziert.
17 Brown, Joseph Epes, Teaching Spirits, Oxford University Press, 2001. S. 42.
18 ebd., S. 43-44.
19 ebd., S. 45.
20 Im Sanskrit bedeutet Prana sowohl Atem als auch Geist. Im Chinesischen bezieht sich Chi sowohl auf den Atem als auch auf die spirituelle Energie. Das gleiche Wort wird im Japanischen und Koreanischen verwendet. Mir wurde erzählt, eine solche Identität bestehe auch im alten Hebräisch und Arabisch. Selbst im Englischen bedeutet das Wort „respiration“ buchstäblich sich wiederbeseelen.
21 Johnston, Jack, Male Multiple Orgasm (audio CD), Jack Johnston Seminars, 1994
22 Fonagy, Ivan, Languages within Language: An Evolutive Approach. John Benjamins Pub., 1994. S. 18, 87-106
23 ebd., S. 5
24 Thoreau, Henry David, A Week on the Concord and Merrimack Rivers, 1849. S. 88
25 Diamond, A.S., The History and Origin of Language. New York, 1959.
26 Interview mit Derrick Jensen, Veröffentlicht in The Sun, April 2001. Nachgedruckt bei http://hiddenwine.com/indexSUN.html.
27 Oppenheimer, Stephen, Out of Eden, Constable and Robin, 2004. S. 30
28 ebd., S. 25
29 Unsere gegenwärtigen Selbste zurück in eine prälinguistische Situation zu projizieren wäre allerdings verfehlt: die Frustration und Unannehmlichkeit, die wir zwangsläufig erleben würden, kann als Produkt unserer verkümmerten direkten Wahrnehmungen angesehen werden. Verkümmert, aber immer noch vorhanden und folglich auch entwicklungsfähig.
30 Zerzan, S. 36
31 James Burke und Robert Ornstein, The Axemaker’s Gift, Jeremy P. Tarcher/Putnam, 1997. S. 68
32 Interessanterweise wurde das erste chinesische Wörterbuch im ersten nachchristlichen Jahrhundert zusammengestellt.
33 Zerzan, S. 32
34 Thoreau, S. 218.
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